Anita Jurow-Janßen

Toxicus


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denn, wo das Labor ist?“

      „Wer?“

      „Na deine Mutter?“

      „Nein, sie war noch nie hier. Sie denkt, ich habe einen Raum in der Uni dafür bekommen.“

      „Und sonst, weiß es sonst jemand?“

      „Nein, du bist der einzige. Und ich möchte auch, dass es so bleibt. So habe ich jedenfalls meine Ruhe hier.“

      „Sie weiß auch nichts von den Schlangen?“

      „Um Gottes Willen, das würde sie zu Tode ängstigen.“

      „Was machst du denn überhaupt in dem Labor?“

      Ronny war nicht entgangen, dass Lukas tatsächlich ein Labor eingerichtet hatte. Es befand sich in dem Raum neben den Terrarien. Dort standen etliche Gefäße herum, woraus man schließen konnte, dass Versuche damit gemacht worden waren. Außerdem hatte er eine große Truhe entdeckt, in der das Schlangenfutter eingefroren war. Massenweise Ratten, Mäuse und Vögel. Auch zerkleinertes Geflügel konnte er erkennen. Ronny kam aus dem Staunen nicht heraus. Wie konnte Lukas sich das alles leisten? Auf einem Bord, auf dessen Rand ein Schild mit dem Hinweis „toxicus“ geklebt war, standen etliche Gläser, in denen sich getrocknetes Schlangengift befand, wie Lukas ihm jetzt erklärte. Ronny konnte sich noch schwach erinnern, dass das Wort „giftig“ bedeutete. Darunter, auf einem weiteren Bord, standen Nahrungsergänzungsmittel. Ronny nahm eine Packung in die Hand. „Bioserin“, las er. Das kostet doch alles ein Vermögen, dachte er.

      Als Lukas ihm jetzt erklärte, dass er die Schlangen molk, um das Schlangengift zu untersuchen, starrte er ihn mit offenem Mund an.

      „Ich will darüber meine Doktorarbeit schreiben“, erklärte Lukas, und seine Augen leuchteten dabei wie blaue Sterne.

      „Wie kann man das Gift denn melken?“, fragte Ronny voller Ehrfurcht.

      Lukas holte ein Glas aus einem Schrank, über das ein besonderes Papier gespannt war. Es sah aus wie Pergament.

      „Siehst du? Hier müssen die Schlangen hineinbeißen. Dann fließt das Gift ins Glas und ich kann es untersuchen.“

      „Ist das ein spezielles Papier?“

      „Ja, aber es geht auch mit Pergament.“

      „Wird das Gift nicht schlecht?“

      „Doch, nach einer Weile schon. Aber ich friere einen Teil ein und einen Teil trockne ich.“

      „Wahnsinn! Sag mal, woher hast du denn so viel Kohle?“

      „Na ja, mein alter Herr hat mir ein bisschen hinterlassen.“

      Ronny wollte gerade sagen: Hast du ein Glück. Aber das wäre wohl nicht so passend gewesen.

      4. Kapitel

      Sechs Jahre waren vergangen, nachdem Birgit spurlos verschwunden war. Sanne hatte nicht aufgegeben, nach ihr zu suchen. Das hatte so an ihren Nerven gezerrt, dass sie etliche Kilo abgenommen hatte. Nachdem der tiefe Schmerz etwas abgeklungen war, und sie sich wieder mehr auf sich selbst besonnen hatte, entschloss sie sich zu einer Operation, bei der ihr das so ungeliebte Fett abgesaugt wurde. Seit Birgits Verschwinden waren Ben und sie sich immer näher gekommen. Es hatte mehrere operative Eingriffe erfordert, bis sie mit ihrer Figur zufrieden war. Jedes Mal stand Ben ihr tapfer zur Seite und seit Kurzem waren sie ein Paar. Wenn sie sich jetzt im Spiegel betrachtete, war sie sehr stolz auf ihre Leistung. Da sie wegen Ben keinen Studienplatz an einem anderen Ort haben wollte, wohnte sie noch bei ihren Eltern. Eine Ausbildung bei einem Steuerberater hatte sie abgebrochen, weil sie schnell erkannt hatte, dass das nicht ihre Welt war. Seit gut einem Jahr studierte sie jetzt an der Uni und wollte Lehrerin werden.

       ***

      Ben, mittlerweile ein smarter aber durchsetzungsfähiger junger Mann, sein dunkelblondes glattes Haar immer gebändigt, mit wachen grünbraunen Augen, stand wie so oft vor dem Gemälde seiner Großmutter Birgit, die seiner Schwester so ähnlich war und von der sie den Namen erhalten hatte. Seine Großmutter war bei der Geburt seines Vaters gestorben, und die große Trauer darüber hatte bis zum Zeitpunkt von Birgits Verschwinden das Leben der Familie beeinträchtigt. Jetzt hatte der Verlust seiner Schwester diesen Schmerz abgelöst und in einen noch viel unerträglicheren verwandelt. Niemand wusste, was mit Birgit geschehen war, und gerade diese Ungewissheit brachte alle Familienmitglieder, und auch ihre Freundin Sanne, schier zum Verzweifeln.

      Ben war mittlerweile in die Firma seines Vaters eingestiegen. Sein Opa hatte die Firma aufgebaut. Sie vertrieben seit über Hundert Jahren Tierfuttermittel. Bens Vater, der nach dem Tod seiner Mutter in einem Internat gelandet war und dort unendlich unter der Trennung von seinem Zuhause gelitten hatte, wollte die Familie zusammenhalten und hatte die Firma übernommen. Er hatte aus dem veralteten Betrieb ein innovatives Unternehmen geschaffen, das sich auch international einen Namen gemacht hatte und das Ben eines Tages übernehmen sollte.

      Ben sah sich im Haus um. Die alten, samtenen Vorhänge waren ihm schon lange ein Dorn im Auge. Im Gegensatz zum Geschäft hatte der Vater die Villa nicht verändern wollen. Ben dachte an Sanne. Er freute sich, dass sie in seiner Nähe wohnen geblieben war. So konnte er den Schmerz über den Verlust seiner Schwester mit ihr teilen. Nie hätte er gedacht, dass er Birgit so sehr vermissen würde. Dieses Biest, wie er sie immer genannt hatte. Eines Tages würde Sanne hier einziehen, und spätestens dann würde er mit ihrer Hilfe die Villa modernisieren.

      Sanne und er hatten sofort an den Spanner Ronny gedacht, als das mit Birgit geschehen war. Aber der war spurlos verschwunden, und es dauerte eine ganze Weile, bis die Polizei ihn ausfindig gemacht hatte. Er war mit seinen Eltern nach Hameln verzogen. Etliche Verhöre und Untersuchungen folgten. Man konnte ihm nichts nachweisen. Sein Elternhaus war sauber. Nachdem man sogar den Garten um das Haus herum aufgewühlt hatte, war von Birgit immer noch nichts zu finden gewesen. So waren die Jahre vergangen.

      5. Kapitel

      „Giftmord in Oldenburg“ stand in großen Lettern auf der Titelseite der Bildzeitung. Sanne kam von der Uni und weil das Wetter mal wieder schauderhaft war, wollte sie sich noch schnell eine Zeitschrift am Kiosk kaufen, um es sich in ihrem Zimmer damit gemütlich zu machen. Für heute hatte sie genug vom Lernen. Die letzten Tage hatte sie gebüffelt wie ein Tier, um sich auf die heutige Arbeit vorzubereiten. Jetzt hatte sie sich eine Pause verdient.

      Als sie auf den Kiosk zulief, sah ihr schon von Weitem das Gesicht eines Mädchens entgegen, auf das sie wie gebannt starrte. Die Titelüberschrift war unübersehbar. Auf dem Foto lebte das Mädchen offensichtlich noch. Als sie näher an den Kiosk herankam, konnte sie auch die Zeile unter dem Aufmacher lesen. In kleineren Buchstaben stand dort fett gedruckt: „War es das Gift einer Schlange? Die Polizei hält sich bedeckt“.

      Sannes Herz fing an zu rasen. Es war zwar nicht Birgit, die sie da von der Titelseite ansah, aber die vielen unbeantworteten Fragen der letzten Jahre standen unmittelbar wieder vor ihr. Sie vergaß die Zeitschrift, die sie eigentlich kaufen wollte und kaufte stattdessen eine Bild. Sie blieb an der Seite des Kioskes stehen und verschlang den Artikel sofort. Es regnete und sie hatte keinen Schirm dabei. Das Dach des Kioskes stand ein bisschen über, sodass sie sich ein wenig vor Wind und Regen schützen konnte. „Nein“, sagte sie zweimal laut, weil sie nicht fassen konnte, was sie las. Der Kunde, der nach ihr an den Kiosk gekommen war, sah sie erstaunt an. Sie bemerkte es und schaute zu ihm auf: „Ist einfach unglaublich, was hier passiert ist!“ Der Mann griff sich ebenfalls eine Bild und stellte sich neben sie, um zu lesen. Nachdem sie den Artikel beendet hatte, steckte sie die Zeitung in ihre Umhängetasche, sagte: „Tschüs, schönen Tag noch!“ und machte sich auf den Weg zu Ben. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass er noch Mittagspause hatte. Er müsste noch zu Hause sein. Es gab keinerlei Hinweise auf Zusammenhänge zum Verschwinden von Birgit, aber sie hatte so ein kribbelndes Gefühl, als ob sich eine neue Tür öffnen würde. Hastig lief sie durch die Straßen zur Villa. Bens Auto stand vor dem Haus. Er öffnete selbst und sah sie überrascht an.

      „Hey Sanne, du hier? Du siehst ja aus wie ein begossener