Winfried Paarmann

Nur ein Wunder ist genug


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Ich lade dich ein.“

      „Im Adlon?“ Das Nobelhotel. Das klang nach einer glatten gut gelaufenen Karriere.

      Lukas sah ihn vor sich: schon als Schuljunge etwas übergewichtig, ein leicht schwammiges Gesicht, das er wie mit einer Gute-Laune-Aufschrift herumtrug, heitere Laune als Dauereinrichtung.

      „Exzellenter Zimmerservice…“ Er schnalzte „und bezaubernd weiblich...“ Er lachte wieder, in dieser etwas übertriebenen rundbäuchigen Art, wie Lukas ihn kannte. „Also, wir sehn uns?“

      Schweigen.

      Gerd nahm es als Zusage. „Irgendwann nach acht. Habe eben noch ein Geschäftsessen.

      Dann aber ist Zeit - für alte Paukergeschichten...“ Wieder lachte er. „Lukas! altes Haus!

      Was eigentlich hast du selbst so gemacht in den letzten fünfzehn Jahren?“

      Wieder kam keine Antwort.

      „Also – das packen wir später aus.

      Adlon. Nach acht.“

      Gerd sah die Abmachung als geregelt.

      „Muss jetzt ins Taxi.

      Also: War toll, dich wieder mal so zu sprechen, alter Junge. Bis bald!“

      Das Gespräch war beendet.

      Lukas starrte auf den Hörer.

      Er kroch zum zersplitterten Glas und fuhr mit den Fingern durch die Scherben.

      Unglaublich. Dieses so kostbare Nass.

      Es hatte Wochen gebraucht, bis er ein solches Getränk herzustellen konnte.

      Es würde wieder Wochen kosten, noch einmal genau diese Art wirksamer Tabletten aufzutreiben.

      In ihm kämpften maßlose Wut und Ratlosigkeit.

      Sollte er das verbliebene Nass vom Boden auflecken? Oder absammeln mit einem Schwamm? Nur ein dummer Gedanke. Der größere Teil war versickert im Teppich.

      Es gab andere Arten der Selbsttötung: sich vom Balkon stürzen; mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler rasen; sich die Pulsadern aufschneiden – längst dem Adernverlauf und dabei in der Wanne sitzen und langsam verbluten.

      Er hatte sie alle durchgespielt.

      Alle hatten sie das Risiko, nicht zum Erfolg zu führen. Und außerdem zu einer lebenslangen Verkrüppelung oder Querschnittslähmung. In allen gab es einen Akt der Gewalt.

      Er hatte für sich die Art des friedlichen Einschlafens gewählt. Eine Art der Selbsttötung, die viele als zu leicht und feige betrachteten.

      Er trat wieder auf den Balkon.

      Die Sonne glitzerte auf den Autodächern wie zuvor. Sie glitzerte auf Häuserdächern und Fensterscheiben. Durch die Luft schwirrten Vogelstimmen. Aus einer offenen Kneipentür schwappte jetzt auch eine Welle heißer rhythmischer Klänge und dazu ein heftiges Lachen.

      Die Welt, so schien es, vibrierte in Freude.

      Wusste er selbst noch, was Freude war?

      x x x x

      Zur gleichen Zeit saß in einer kleineren Kirche eine Cellospielerin auf der Empore neben der Orgel und begleitete das Largo aus „Xerxes“ von Händel. Eine Trauung fand statt.

      Die dunkelhaarige attraktive Frau musizierte auf ihrem Cello mit sattem Klang. Ein hinreißender Vortrag, eine Vollblutmusikerin.

      Die Feier in der Kirche war beendet.

      Die junge Cellospielerin trat aus dem Kirchenportal, dort empfing sie ein junger Mann. Beide tauschten einen flüchtigen Kuss.

      Der junge Mann hatte einen missmutigen Ausdruck auf dem Gesicht. Er blickte auf die Uhr. „Gleich halb drei.“ Der Vorwurf in seiner Stimme war unüberhörbar.

      Die junge Frau zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Du hättest hereinkommen können.“

      Der junge Mann warf einen abfälligen Blick in Richtung der Kirche. „In diesen Laden -?

      Dem Herrn Pfarrer die Hand schütteln...

      Ich könnte all diese Kirchen in die Luft sprengen.“ Seine Stimme sparte nicht mit Verächtlichkeit.

      „War ein sehr freundlicher älterer Herr,“ sagte sie

      „Sind sie alle. Wölfe im Schafspelz,“ sagte der junge Mann

      Egal!“ Mit einem Blick auf ihr Cello fügte er an: „Solange sie zahlen.“

      Beide liefen zum geparkten Auto. Die junge Frau verstaute ihr Cello auf dem Rücksitz. Plötzlich fand sie etwas auf dem Boden zwischen den Sitzen. Sie hob es auf. Eine angerauchte Zigarette, schmal, selbstgedreht. Sie wusste, womit sie es da zu tun hatte: ein Haschischzigarette.

      Nun war sie es, die sichtbar verstimmt reagierte.

      Der junge Mann lachte lässig und winkte ab. „Mach kein Drama draus.“

      „Hast mir gesagt, das wäre kein Thema mehr.“

      „Ein kleiner Joint - dein guter Freund.

      Ist doch nur Hasch!“

      Sie hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen.

      Der junge Mann fuhr los.

      Sie kurbelte das Fenster herunter. Die Haschischzigarette flog in hohem Bogen auf die Straße.

       Der gebändigte Puma

      Lukas ging an den großen Flurschrank. Er holte einen Anzug heraus. Denn noch einen zweiten. Verglich sie. Wählte.

      Wenig später stand er im gut sitzenden Anzug vor dem Spiegel.

      Er blickte auf die Uhr: Es war sechs.

      Er begann seine Haare zu kämmen.

      Er rasierte sich.

      Wieder trat er vor den Spiegel. Der verwahrloste Typ der letzten Wochen war eine elegante Erscheinung geworden. Er sah sich an. Seine Blicke sagten ihm, dass er sich selbst gefiel.

      Er wechselte nochmals die Anzugjacke.

      Auch mit diesem Outfit machte er gute Figur.

      Lukas drehte sich, besah sich von rechts, von links: Doch – er gefiel sich.

      Lukas hatte das Adlon erreicht.

      Am Eingang musste er telefonisch bestätigen lassen, dass er eine Einladung hatte, bei einem Gast des Hauses. Gerd wartete bereits seit zehn Minuten.

      Als Lukas die Bar betrat, schallten ihm Tangoklänge entgegen.

      Am anderen Ende des Raums saßen zwei Musiker: eine junge Frau, die auf einem Cello spielte; ein jüngerer Mann, der ein Keyboard bediente.

      Vor allem die dunkelhaarige attraktive Cellospielerin musizierte virtuos, mit hinreißendem Elan – feurige Tangorhythmen.

      Lukas weckte ein Ruf von einem der Seitentische. „Lukas!“

      Gerd. Fast noch immer das bekannte fröhlich grinsende Jungengesicht mit Igelfrisur. Er erhob sich, in hoch elegantem offenbar maßgeschneidertem dunklem Anzug, dem noch etwas dicker gewordenen Bauch angepasst.

      Er drückte Lukas die Hand, schüttelte sie mit demonstrativer Herzlichkeit.

      „Wie ist das Verhältnis von roten und weißen Blutkörperchen im Arteriensystem und wie in den Venen?“

      Lukas begriff nicht.

      „Unser Fragezettel beim Abi, Bio!“

      Er lachte.

      Beide nahmen Platz.

      Gerd machte eine kreisende Fingerbewegung um sein Gesicht.