Jasmin Schneider

Sag mal, Lara


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Sie nickte Lara kurz zu, bevor sie schweigend die Treppen hinunter rannte.

      In den Türrahmen gepresst blieb Lara zurück. Sie betrachtete die großen Palmen, die sie erst letztes Jahr im Treppenhaus hatte aufstellen lassen. An Italien sollten sie sie erinnern, an die Sommer ihrer Kindheit bei ihren Großeltern, als das Leben schön, ihre Mutter ein Mensch und ihr Vater noch am Leben war. Doch stattdessen kamen die Pflanzen ihr jetzt künstlich vor. Sie standen dort gegenüber der Eingangstür, fast spöttisch, eben bloß ein Ersatz für das wahre Leben. Gleich morgen würde sie die Palmen dem Frauenhaus spenden oder sonst einer bedürftigen Organisation, die für Schönes kein Geld übrig hatte.

      Dann schloss sie die Tür. In der Wohnung wurde es ganz langsam stiller, je länger Jonas nicht darin war. Zuerst dünstete jede Ecke sein Lachen aus, der Schall traf sich in der Mitte. Dort stellte sich Lara auf, um so lange wie möglich davon zu zehren. Erst wenn auch der letzte Ton verklungen war, rannte sie zum Sofa hinüber. Wenn sie sich anstrengte, roch Lara Jonas’ Kinderduft noch bis zu einer halben Stunde danach.

      Derselbe Kinderduft löste in Jackie schlimme Vorwürfe aus. Sie wurde nämlich das Gefühl nicht los, dass er stärker war, wenn sie Jonas bei Lara abholte. Schon auf der Treppe war ihr der Geruch aufgefallen und das, obwohl der Allergologe ihr schon wieder nicht das gute Spray gegen ihre scheiß Allergie verschrieben hatte.

      »Bei ihrer Vorgeschichte, Frau Baehr, da kann ich ihnen nicht guten Gewissens noch Kortison aufschreiben«, hatte er gesagt. So ein Penner! Und das nur, weil irgend so ein Depp Kortison mit Speed gemischt hatte und dabei drauf gegangen war.

      Die Luft unten im Hof schlug ihr entgegen wie eine Wand. Jackie musste stehen bleiben und tief atmen. Die halb aufgerauchte Zigarette warf sie weg. Zu spät. Sie hustete und fand, sie klänge dabei wie ein alter Mann, der sein Leben lang starke Zigaretten ohne Filter geraucht hatte.

      Jonas war stehen geblieben. Er schaute sich um. Als er Jackie husten sah, kam er zurück. Geschickt nahm er ihr die Tasche von der Schulter, stellte sie sich vor die Füße und begann darin zu kramen. Nach kurzer Zeit fischte er ein Fläschchen Asthmaspray heraus.

      Jackie riss es ihm aus der Hand wie eine Schiffbrüchige, fiel auf die Knie und atmete das Spray hastig ein. Ganz langsam ebbte der Anfall ab.

      »Meine Lehrerin hat das auch!«, sagte Jonas als es ihr wieder besser ging.

      »Wirklich?«, Jackies Stimme klang noch dünner als sonst.

      »Ja, die Frau Kuhn, meine Klassenlehrerin.« Er streckte ihr eine Hand hin, um ihr auf zu helfen. Das war zwar nicht sonderlich hilfreich, aber Jackie musste trotzdem lächeln. »Die Frau Kuhn«, begann er dann wieder, »die sagt, das liegt alles nur an so einer Pflanze, die sie aus Amerika eingeschleppt haben.«

      »So? Wer denn?«, Sie hatte sich aufgerichtet und warf sich die Tasche wieder auf den Rücken. Dann reichte sie ihm die Hand, eine seltene Geste.

      »Na, so Leute… weiß nicht wer«, er zuckte die Achseln. »Und jetzt reißen andere Leute die Pflanzen wieder aus.«

      »Wirklich?«

      »Ja, mit Masken, damit sie nicht sterben.«

      Sie lachte und öffnete das Tor zum nächsten Hof. »Aha.« Dann schüttelte sie seine Hand ab. »Wer Erster an der vorderen Tür ist!«. Sie rannte los.

      Jonas folgte ihr johlend. »Wenn ich mal groß bin, dann hol ich dich ein«, keuchte er auf der Straße.

      Jackie hustete unter Lachen. Sie sah kleine schwarze Punkte, blieb stehen und stützte sich an der Hauswand ab. Jonas tätschelte ihren rechten Arm. Da roch sie ihn wieder, den Kinderduft. Sie presste sich ein rasches Lächeln ab. Was gab die Dicke ihm nur immer, dass er so stank?

      Laras Schlafzimmer lag im hintersten Teil der riesigen Loft. Dort, wo der Raum an das daneben liegende Lager des Ateliers angrenzte, war ein begehbarer Kleiderschrank eingebaut. Er war vom Rest des Zimmers durch eine Schiebetür abgetrennt. Wenn man sie betätigte, wurde es drinnen taghell. Auf diese Weise fiel nicht auf, dass es auf dieser Seite keine Fenster gab. Die lagen durch schwere Vorhänge abgedunkelt gegenüber. Unter ihnen stand ein breites Bett. Und in dem Bett lag Lara.

      Sie war gerade dabei, die Schwelle von Traum und Wirklichkeit zu überwinden. Der Gedanke, die ganze Nacht nur vom eigenen Atem begleitet worden zu sein, gab ihr ein verlorenes Gefühl. Ein Schauer lief über Arme und Rücken. Sie erinnerte sich wieder nicht daran, was sie geträumt hatte. Das verstärkte die Sterilität ihrer Einsamkeit. Ihr gesamtes Leben war so keimfrei, dass nichts darin wuchs.

      Lara zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie lag auf dem Bauch, konnte nichts sehen, weil ihr Kopf ins Kissen gepresst war. Es roch frisch gewaschen. Wenn sie so noch eine Zeit lang lag, würde sicher bald der Wecker klingeln. Schließlich schaute sie auf. Es war erst zehn vor fünf, noch früher als gestern. »Du solltest länger fernsehen«, murmelte sie und rappelte sich hoch. Wenn sie nur lange genug die Schiebetür gegenüber ihres Bettes anstarrte, würde die Zeit vielleicht schneller vergehen.

      Aber Lara war nicht der Typ, der den Kopf hängen ließ, also streckte sie sich ausgiebig, atmete ein paar Mal tief und setzte das Lächeln auf. Das Lächeln half meistens. Sie lächelte es den ganzen Weg am Bad vorbei ins Arbeitszimmer, wo sie ihren Laptop öffnete und einschaltete. Sie lächelte es auf dem Weg in die Küche und drückte den Knopf des Kaffeeautomaten. Und es noch immer lächelnd verschwand sie im Bad, wo sie länger als nötig verweilte und ihren strengen Dutt gleich zweimal band.

      Erst nach dem Ankleiden entließ sie das Lächeln. Weil es nicht zu dem neuen grau-braunen Zweiteiler aus schlichtem Rock und Blazer über cremefarbener Bluse und den flachen Schuhe passte. Die schmale Schnittlinie des Outfits, die auch beim Rest ihrer Garderobe überwog, betonte vor allem ihre Größe und weniger ihre Form. Wie zuvor schon ihre Großmutter vertraute Lara Morgenstern dabei ganz auf Wissen und Können der Schneiderin, bei der sie ihre Kleider gewöhnlich anfertigen ließ. Auch die ererbte Perlenkette legte sie an. Sie gehörte zur Ausstattung wie Finger an die Hand. Außerdem machte sie sich gut auf Laras von Natur aus leicht gebräunter Haut, ein Plus, das sie wie das dichte, dunkelbraune Haar, ihrer sizilianischen Mutter verdankte.

      Später saß Lara mit Kaffee und einem trockenen Keks am Rechner und bearbeitete Emails. Eine kam von ihrer besten Freundin Renate mit wie gewöhnlich esoterischem Inhalt. Die meisten anderen waren Stipendiatsbewerbungen junger Künstler und Architekten. Neben einem stabilen Vermögen, hatte Lara die Stiftung der Morgensterns geerbt. Ihre Großmutter hatte ihr beigebracht, das Geld auszugeben und dennoch zu behalten.

      Zu ihren Hinterlassenschaften gehörte außerdem ein Stadthaus in München. Es war die Aufgabe der Hausverwaltung Umminger sich darum zu kümmern. Karl Umminger, ein älterer, überkorrekter Herr mit stark bayerischem Akzent, hatte seit gestern drei mal geschrieben. Seine Notizen enthielten nicht mehr als die Bitte, ihn so schnell wie möglich zurückzurufen. Lara seufzte. Ihre Arbeitszeiten hatten sich durch den Schuljahreswechsel von Mittwoch auf Montag verschoben. Aber das akzeptierte er offensichtlich ebenso wenig, wie ihre Entscheidung, den Dachstuhl des Münchener Hauses zu einem Penthouse umzubauen. Wieso war sie eigentlich trotz ihrer beträchtlichen Leibesfülle für die meisten Menschen unsichtbar?

      »Braune Scheiße!«. Martin Born, unter den zwölf Leistungskursteilnehmern der älteste und einzig wirklich talentierte, schaute nicht von seinem schwarzen Skizzenbuch auf, als sich Lara schockiert zu ihm umdrehte. Wie üblich zeichnete und wischte er, ohne dabei auf die Verfärbung seiner Hände zu achten, die seit Beginn der Doppelstunde im Einsatz, bereits die Farbe des Nagellacks annahmen, der von seinen Nägeln pellte. Martin sonderte sich zu sehr von den anderen ab, als dass er wirklich Freunde unter ihnen gehabt hätte. Trotzdem folgte seiner Bemerkung ein erleichtertes Raunen.

      Lara wusste nicht, wie sie reagieren sollte, nahm Luft, setzte zu sprechen an. Es machte nicht den geringsten Sinn, Rembrandts Werke zu verteidigen, wenn es eigentlich darum ging, den Unterrichtsfluss zu stören. Sie atmete wieder aus, ließ sich auf einen Stuhl in der Nähe nieder. »Theorie mag für Sie alle öde sein, aber diese Informationen sind notwendig für das Gelingen Ihres Abiturs«, begann sie, nur um wieder abzubrechen. Sie war