Nadja Dietrich

Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau


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      Nadja Dietrich

      Der Tote im Reichstag

      und die verträumte Putzfrau

      LiteraturPlanet

      © Verlag LiteraturPlanet

      Erste Auflage 2017

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      Titellayout: Holger Schaum (KWZ Software & Service GmbH, Saarbrücken) unter Verwendung des Gemäldes Reichstag von Andreas Mattern

      INHALT

       I. Die Saat des Bösen 5

       II. Großväterliche Gerüche 17

       III. Dunkle Mächte 25

       IV. Unerwartete Begegnung 37

       V. Verschwimmende Grenzen 53

       VI. Die Stationskönigin 63

       VII. Das Geheimnis der Klobrille 73

       VIII. Freiheitsträume 87

       IX. Die Kettenobservation 101

       X. Frühstück im Kreml 115

       XI. Der Stimmenfänger 135

       XII. Fremde Universen 149

       XIII. Das Bestrafungsritual 157

       XIV. Der missgünstige Wesir 175

       XV. Mörderträume 193

      I. Die Saat des Bösen

      Man konnte durchaus nicht sagen, dass diese Woche gut begonnen hätte für Lidia Afanasjewna. Genau genommen hatte ihre Pechsträhne sogar schon am vergangenen Abend eingesetzt, als das Mantra der Verhöre in einem Late-Night-Krimi sie in den Schlaf gewiegt hatte. Prompt hatte der Böse ihre fehlende Wachsamkeit ausgenutzt, um sich aus seinem Fernsehkäfig zu befreien und in ihre gute Stube einzudringen. Nun stand er da und sann, seiner Natur gemäß, auf Böses.

      Er war genauso schwarz wie in der nächtlichen Gasse, wo die Guten ihn gestellt hatten. Nur die Augen leuchteten zombiehaft aus seinem finsteren Antlitz heraus. Lidia Afanasjewna wollte um Hilfe rufen und weglaufen, sich in Sicherheit bringen vor diesem Unhold, der schon durch seine bloße Anwesenheit die Umgebung verpestete. Aber der Schlaf hatte sie gefesselt und geknebelt, sie brachte keinen Ton heraus und war wie verwachsen mit ihrem Fernsehsessel.

      Heimtückisch sah der Böse sich um und suchte nach einem Objekt für seine finsteren Absichten. Endlich schien er etwas Passendes gefunden zu haben, um seine Mordlust zu befriedigen. "Na warte – dir drehe ich den Hals um", hörte Lidia Afanasjewna ihn zwischen den Zähen hindurch zischen. Ihr stockte der Atem, aber zu ihrer Erleichterung kam der Böse nicht auf sie zu, sondern ging in Richtung des kleinen Aquariums, das in einer Ecke des Raumes auf einer Kommode stand. Ehe Lidia Afanasjewna sich über das Aquarium wundern konnte – denn sie war sich sicher, nie eines besessen zu haben –, hatte der Böse den darin schwimmenden Fisch auch schon an der Gurgel gepackt und ihm ein Messer an die Kehle gehalten.

      Lidia Afanasjewna stutzte: Hatten Fische denn überhaupt eine Gurgel? Sie kam jedoch nicht dazu, diese Frage zu vertiefen, denn im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie selbst der Fisch war, den abzustechen der Böse im Begriff war. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle, der genug Schreckenspotenzial besaß, um nicht nur den Bösen in die Flucht zu schlagen, sondern auch sie selbst aus ihrem Sessel hochfahren zu lassen.

      Beim Aufwachen blickte Lidia Afanasjewna zunächst misstrauisch in die Ecke, in der eben noch das Aquarium gestanden hatte. Auch als sie sich endlich traute, sich von ihrem Sessel zu erheben, bewegte sie sich mit äußerster Vorsicht durch den Raum, als hätte der Böse sich nur im Nebenzimmer versteckt, um in einem geeigneten Moment wieder über sie herzufallen. Dabei signalisierte ihr doch schon allein das veränderte Fernseh-Mantra, das nun aus der Anpreisung von Einzelteilen eines unfassbar günstigen Kaffeeservices bestand, dass der Böse vertrieben worden war.

      Im Bad zeigte der Spiegel ihr ein teigiges Gesicht mit hervorquellenden Augen, über dem eine blonde Dauerwelle den Dreizack des Poseidon zu imitieren schien. "Du siehst ja aus wie ein Karpfen, der einen Hai verschluckt hat! Lass doch endlich mal deine Schilddrüse untersuchen!" Die Worte Igors – des Mannes, der einmal ihr Herzallerliebster gewesen war – schossen Lidia Afanasjewna durch den Kopf. Sie schüttete sich Wasser ins Gesicht, um das Feuer der Gedanken im Keim zu ersticken. Beim Dösen auf dem Fernsehsessel war ihr Kopf zur Seite hin abgeknickt, ein hartnäckiger Schmerz pochte in ihrem Nacken und sandte Stromschläge durch ihre Adern – sie hatte einfach keine Kraft, sich jetzt dem aufgewühlten Schlamm am Grund ihres Lebens zu widmen.

      Lidia Afanasjewna verordnete sich eine Schmerztablette und tastete sich dann durch den dunklen Flur zum Schlafzimmer vor – die Lampe war schon seit Wochen kaputt, sie war es längst leid, Igor immer wieder daran zu erinnern. Allerdings hätte das Gesäge, in dem er seinen allabendlichen Rausch ausklingen ließ, auch Taubstummen den Weg gewiesen.

      Sie wollte sich schon in die Kissen sinken lassen, da fiel ihr Blick auf den Funkwecker. "4.55 Uhr!" riefen die Leuchtziffern ihr zu. 4.55 Uhr? Lidia Afanasjewna hatte das Gefühl, belogen zu werden, ja, beraubt worden zu sein. Das also war es, was der Böse verbrochen hatte! Obwohl er sich höchstens fünf Minuten in ihrer Wohnung aufgehalten hatte, war nun auf einmal die ganze Nacht vorbei. Er hatte ihr also im wahrsten Sinne des Wortes "die Zeit gestohlen"!

      Aber alles Klagen half ja nichts. Das Einzige, was sie jetzt noch tun konnte, war, dem Wecker seinen Feldwebeltriumph zu nehmen und ihn an seinem durchdringenden Morgenappell zu hindern. Während Igor sich grunzend auf die andere Seite wälzte, begab Lidia Afanesjewna sich in die Küche. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, dann trottete sie ins Bad. Mechanisch griff sie nach ihren Schminkutensilien, um aus dem Gespenst, das sie war, einen halbwegs vorzeigbaren Menschen zu machen.

      Wieder in der Küche, schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein, die sie stehend in kleinen Schlucken trank. Geistesabwesend blickte sie aus dem Fenster. Zu der frühen Stunde gab es da draußen kaum etwas, an dem ihr Blick sich festhalten konnte. Die meisten Fenster des gegenüberliegenden Hochhauses waren noch verdunkelt, nur einige wenige starrten schon auf den freien Platz herab, der sich zwischen den beiden Häuserblöcken erstreckte. Keine Bewegung, kein Leben waren zu erkennen.

      Lidia Afanasjewna ließ ihren Blick ganz nach oben wandern, zum Dachgeschoss, das von ihrer Position im dritten Stock aus nur schemenhaft zu erkennen war. Dort oben, dachte sie, musste Aljoscha wohnen. Ja, sagte sie sich, das ist der einzige ihm angemessene Ort. Was er heute wohl tun würde? Aljoscha beschäftigte sich ja jeden Tag mit etwas anderem, so dass man nie sicher sein konnte, welche Seite seiner Person er einem zuwenden würde. Er war niemals der, als den man ihn zu kennen meinte, er war stets ein anderer. Aber heute – da war sich Lidia Afanasjewna ganz sicher –, heute würde er ein Künstler sein. Wer weiß, vielleicht war er sogar schon