Nadja Dietrich

Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau


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den Kopf. Also hatte sie mit ihren Vermutungen doch richtig gelegen …

      "Verdammt noch mal, Lidia, jetzt wach doch endlich auf!"

      Seltsam, dachte Lidia Afanasjewna: Woher die Außerirdischen wohl ihren Namen kannten? Und warum packten sie sie mit solcher Gewalt an den Schultern? Wahrscheinlich schüttelten sie gerade ihr Gehirn aus dem Schädel, um es genauer untersuchen zu können. Da sie dann das Gesehene nicht mehr würde deuten können, beschloss sie, die Augen ganz weit aufzureißen – immerhin würde sie so vor ihrem Tod noch einmal einen echten Außerirdischen zu Gesicht bekommen.

      Schemenhaft zeichnete sich im Gegenlicht eine Gestalt ab. Wie eine Weltraumreisende, die auf einem fremden Planeten gestrandet war, blickte Lidia Afanasjewna in das hagere Gesicht eines Mannes, dessen Haupt vom Heiligenkranz des Alters gekrönt war. Es war Igor. "Na endlich!" rief er aus. "Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf. Komm schnell – im Fernsehen berichten sie gerade über deinen Toten!"

      Lidia Afanasjewna sah ihn verständnislos an: "Meinen Toten?" Ihr Geist weilte noch immer in einer anderen Galaxie. Als sie begriff, wovon Igor redete, war dieser schon wieder verschwunden, als wäre er selbst nur ein Komet, der kurz die Umlaufbahn ihres Planeten gestreift hatte. Schlaftrunken folgte sie ihm ins Wohnzimmer.

      Bedauernde Worte dröhnten ihr aus dem Fernseher entgegen: "… leitet eine Polarströmung weiterhin kalte Luftmassen nach Deutschland. In den nächsten Tagen bleiben uns die frostigen Temperaturen daher erhalten …"

      "Jetzt hast du den Bericht verpasst!" nörgelte Igor. Er hatte sich mit zerschlissener Jogging-Hose und T-Shirt auf das Sofa gelümmelt, die Hausschlappen hingen lose an seinen bloßen Füßen. Lidia Afanasjewna seufzte. Wenn sie daran dachte, dass sie diesen nahen Verwandten des Affen einmal attraktiv gefunden und sogar zwei Kinder mit ihm gezeugt hatte …

      "Ich habe dir doch schon hundert Mal gesagt, dass die Sendezeiten heutzutage keinerlei Bedeutung mehr haben!" meckerte sie zurück. "Bestimmt ist der Bericht längst im Internet abrufbar – garniert mit allerlei Kommentaren und Zusatzinformationen."

      Igor brummte etwas Unverständliches und sah dann zu, wie seine Frau den Computer hochfuhr. Ein paar Clicks, und der Bericht ploppte auf dem Monitor auf. Mit der Eleganz einer Riesenechse wälzte sich Igor von seinem Lümmelplatz und bezog hinter seiner Frau Position.

      In getragenem Ton verkündete eines der üblichen Nachrichten-Models: "Der langjährige Bundestagsabgeordnete Richard Groß ist heute Morgen tot in seinem Berliner Büro aufgefunden worden. Laut Angaben der Pressestelle des Bundestags ist er an plötzlichem Herzversagen gestorben. Groß war in diversen Ausschüssen aktiv, zuletzt hat er den Verteidigungsausschuss geleitet. Darüber hinaus …"

      "Nun sag schon", bedrängte Igor sie. "Ist das der Mann, von dem du erzählt hast?"

      Lidia Afanasjewna starrte auf das Porträt des Toten, das während der Berichterstattung am oberen Bildrand eingeblendet wurde. "Ich denke schon …", murmelte sie.

      "Was soll das heißen: Du denkst schon?" ereiferte sich Igor. "Entweder er war es, oder er war es nicht – das ist doch ganz einfach!"

      Lidia Afanasjewna clickte den Bericht weg und rief einen Videoclip auf, in dem der Abgeordnete zu sehen war.

      "Und?" drängelte Igor weiter. "Bist du dir jetzt sicher?"

      "Ich weiß nicht …", zögerte Lidia Afanasjewna. "Der Tote hat irgendwie anders ausgesehen … Außerdem habe ich dir doch gesagt, dass ich ihn auf dem Klo gefunden habe – in seinem Büro war ich ja gar nicht!"

      Igor machte eine wegwerfende Handbewegung. "Wahrscheinlich hast du mal wieder geträumt. Warum sollte man die Leiche denn an einen anderen Ort bringen?"

      Lidia Afanasjewna drehte sich zu Igor um: "Möchtest du gerne tot auf dem Klo gefunden werden?"

      "Nein, aber …"

      "Na also!" schnitt sie ihm das Wort ab. "Denk doch einfach mal nach: Ein Mitglied des Hohen Hauses, das auf dem Scheißhaus verendet – das stärkt nicht gerade das Ansehen des Parlaments. Aber mich stört sowieso eher etwas anderes an dem Bericht …"

      "Nämlich?" hakte Igor nach, da seine Frau sich schon wieder schweigend durch die Kommentarleisten clickte.

      "Die Todesursache", entgegnete sie knapp, während sie einen Kommentar überflog, in dem es um die Belastungen ging, denen moderne Politiker ausgesetzt seien.

      "Wieso?" hielt Igor dagegen. "Herzversagen ist doch eine ganz normale Todesursache."

      "Eben!" bekräftigte Lidia Afanasjewna. "So etwas könntest du letztlich auf jeden Totenschein schreiben. Wenn du mit deiner Raucherlunge einen Berg hochrennst, kriegst du auch einen Herzkasper. Die eigentliche Ursache für deinen Tod ist dann aber das ewige Gequalme und Herumlungern auf dem Sofa."

      "Was hast das denn jetzt damit zu tun?" beschwerte sich Igor. Aber da seine Frau ihn ignorierte und sich in die Berichte im Netz vertiefte, beschloss er, sich erst einmal auf dem Balkon mit einer Zigarette zu beruhigen.

      Es klingelte an der Tür. Da Igor natürlich nicht daran dachte, seine Zigarettenmeditation zu unterbrechen – vielleicht hatte er das Klingeln ja auch gar nicht gehört –, musste Lidia Afanasjewna selbst zur Tür gehen. Und das, obwohl sie noch im Morgenmantel war!

      Vor der Tür stand Lutz, der mal wieder rein zufällig zur Mittagszeit bei ihnen vorbeigekommen war. "Sdrastzvuj, milaja maja", begrüßte er sie in seinem sächsischen Russisch. Lachend setzte er hinzu: "Ich wollte nur mal kurz was für die deutsch-sowjetische Freundschaft tun."

      Lidia Afanasjewna seufzte innerlich. Sie wusste genau, was "deutsch-sowjetische Freundschaft" für Lutz bedeutete: Einforderung russischer Gastfreundschaft. Und wenn Lutz um die Mittagszeit vorbeikam, war klar, dass er, der alternde Junggeselle, mal wieder "wie bei Muttern" speisen, sprich: bekocht werden wollte. Aber da Lutz ein alter Freund der Familie war, ließ Lidia Afanasjewna sich nichts anmerken. Wenigstens störte er sich nicht an ihrem Morgenmantel – wahrscheinlich bestärkte dieser ihn sogar noch in seiner Vorstellung russischer Gastlichkeit.

      "Lutz – das ist aber eine Überraschung!" rief sie aus. "Komm doch rein – ich wollte gerade das Mittagessen aufsetzen."

      "Mach dir meinetwegen mal keine Umstände", wehrte Lutz höflich ab, während er eintrat. "Guck dir mal meinen Kamelhöcker da vorne an" – er zeigte auf seinen in der Tat recht stattlichen Bauchansatz. "Davon kann ich problemlos noch ein Weilchen zehren."

      Er lachte sein meckerndes Lachen, hängte seine wattierte Jacke an die Garderobe und zog seine Mütze aus, unter der ein akkurater, grau schimmernder Bürstenhaarschnitt zum Vorschein kam. "Na, dann mal rein in die gute Stube, was?" sagte er voller Vorfreude auf den angekündigten Mittagstisch.

      "Guck mal, wer da ist, Igor!" rief Lidia Afanasjewna ihrem Gatten zu, der gerade seine Zigarette ausdrückte, als sie mit Lutz ins Wohnzimmer trat.

      "Sieh mal an – der Herr Offizier!" begrüßte Igor den Gast, in Anspielung auf dessen frühere Tätigkeit beim Ministerium für Staatssicherheit. Im Unterschied zu Lidia Afanasjewna war seine Freude über den Besuch nicht geheuchelt. Denn er wusste, dass seine Frau nun ein anständiges Mittagessen zubereiten würde, während er sich sonst wohl die Reste vom Vortag hätte aufwärmen müssen.

      "Ich überlass euch dann mal euren Männergesprächen", scherzte Lidia Afanasjewna, bevor sie sich in ihre Rolle als Küchenmamsell fügte. Sie war noch nicht einmal böse deswegen. Im Gegenteil, sie war sogar froh über die Möglichkeit, sich zurückziehen zu können. Lutz hatte eine recht laute Stimme, von der sie schon häufiger Kopfschmerzen bekommen hatte – und nach der halb durchwachten Nacht und dem morgendlichen Schock tat ihr ohnehin der Kopf weh.

      Glücklicherweise fand sie in der Tiefkühlung noch Seelachsfilets und eine Packung Rosenkohl. Dazu würde sie ein wenig Kartoffelbrei anrühren, und fertig war das Mittagessen.

      Das Kochen verlief dann allerdings doch nicht so ungestört, wie sie gehofft hatte. Sie hätte es sich ja denken können! Natürlich ließ Igor es sich nicht nehmen, vor Lutz mit dem Hauch der Geschichte zu prahlen, der ihn