Nadja Dietrich

Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau


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Aspekte ihres damaligen Lebens deutlicher hervor. Dazu zählten gerade auch die dünnen Holzwände ihres einstigen Hauses, die Tatsache also, dass die Grenzen zwischen Innen und Außen fließender gewesen waren, als es in Deutschland der Fall war.

      In ihrer alten Heimtat waren Innen und Außen wie durch einen osmotischen Prozess miteinander verbunden gewesen. Das galt sowohl für das Verhältnis zur Natur als auch für das zwischen privatem und öffentlichem Bereich. Der eigene Wohnungsbereich war zwar auch dort ein Schutzraum gewesen, doch hatten die Türen im Sommer offen gestanden, und auch im Winter hatte man andere zwanglos besuchen können. Es gehörte zu den Dingen, an die sie sich am schwersten hatte gewöhnen können, dass die Deutschen auch ihr Privatleben wie die Abläufe in einem Betrieb bis ins kleinste Detail durchorganisierten und man für alles Termine machen musste. Nie würde sie das pikierte Gesicht ihrer damaligen Nachbarin vergessen, als sie, frisch aus Russland angekommen, einfach bei dieser geklingelt hatte, um sich vorzustellen.

      Natürlich hatte sie den Mangel, den sie im russischen Winter oft gelitten hatten, keineswegs vergessen. Eben weil sie seinerzeit auch mit alltäglichen Dingen hatten sparen müssen, hatten ihr die Kartoffeln aber nie mehr so gut geschmeckt wie damals, gegen Ende des Winters, wenn jede einzelne eine kleine Kostbarkeit dargestellt hatte. Und nie mehr hatte sie Feste so genossen wie die aus jener Zeit, als sich im beginnenden Frühling die Vorfreude auf die wärmer werdenden Tage mit der auf diesen einen Abend, diese eine Feier konzentrierten Ausgelassenheit verbunden hatte. Jeder hatte etwas dazu beigetragen – der eine einen selbst gefangenen Fisch, der andere das lange aufgesparte letzte Glas Kompott, und natürlich hatte nie ein Mangel an Samogon, dem selbst gebrannten Schnaps, geherrscht. An die Alkoholvergiftung, die ihr Bruder sich dabei einmal zugezogen hatte, wollte sie allerdings lieber nicht zurückdenken …

      "Aber Lidia Afanasjewna, Teuerste! Sie weinen ja! Habe ich Sie womöglich mit irgendetwas verletzt?"

      Lidia Afanasjewna war so in ihren Gedanken versunken, dass sie Aljoscha ganz vergessen hatte. Gerne ließ sie es sich gefallen, dass er ihr über die Wangen strich und ihre Tränen trocknete. "Ach, Aljoscha!" seufzte sie, während sie in seinen weichen Armen versank, die sie umfingen wie eine weite, sternenreiche Steppennacht. "Halt mich ganz fest!"

      Sie wusste wohl, dass manch einer ihre Gefühle für Aljoscha kitschig gefunden und ihr heimliches Getuschel mit ihm pubertär genannt hätte. Das aber war ihr ganz egal. Sie war überzeugt, dass hieraus nur die Missgunst derer sprach, die der Empfindung einer so vollendeten, Trost bringenden Harmonie, wie sie ihr aus der Verbundenheit mit Aljoscha zufloss, nicht fähig waren.

      II. Großväterliche Gerüche

      Lidia Afanasjewnas große Leidenschaft waren Science-Fiction-Geschichten. Vor allem die Vorstellung eines Sternentors, durch das man einfach in einen anderen Teil des Kosmos entschwinden könnte, hatte es ihr angetan. An grauen Tagen wie diesen waren derartige Phantasien für sie wie ein Kokon, in den sie sich vor den Zumutungen des wirklichen Lebens zurückziehen konnte.

      So verwandelten ihre Augen auch jetzt den dunklen Flur des Reichstagsgebäudes, den sie zu putzen hatte, in einen Fluchttunnel aus der Welt, in der sie gefangen war. Ihre Hände dirigierten nicht etwa eine Kehrmaschine, sondern einen Detektor zum Aufspüren des Raumschiffs, das hinter einer der links und rechts abgehenden Türen auf sie wartete.

      Lidia Afanasjewna war sich vollkommen bewusst, dass dies ein absurder Gedanke war. Aber als Science-Fiction-Fan war sie natürlich auch eine begeisterte Hobby-Astronomin. Und so wusste sie, dass das Universum von lauter Dingen durchdrungen war, die ebenso unsichtbar wie unverständlich waren: von dunkler Materie, schwarzen Löchern, Gravitationswellen und kleinsten Teilchen, die eben jetzt, in diesem Moment, durch sie hindurchglitten, ohne dass sie es bemerkte. Wie es schien, war das Universum in seinem Aufbau dem Menschen so fremd, dass es dem Verstand entglitt, sobald man versuchte, es mit dessen Kategorien zu fassen. War aber unter diesen Umständen das Absurde nicht die einzig adäquate Form, um sich seinem Wesen anzunähern?

      Eingesponnen in ihren Science-Fiction-Kokon, öffnete Lidia Afanasjewna geduldig eine Tür nach der anderen und vollführte dahinter ihr Putzritual. Sie wischte mit dem Staubtuch den nicht vorhandenen Staub von den Tischen, ging mit dem Staubsauger auf den schmutzabweisenden Teppichböden Gassi, angelte mit behandschuhten Fingern in den halb leeren Papierkörben. Nirgends waren außergewöhnliche oder gar außerirdische Phänomene zu verzeichnen. Aus allen Räumen schlug ihr derselbe sterile Geruch entgegen, dem sie mit ihren Putzmitteln eine dezente antiseptische Note hinzufügte. Auf den Schreibtischen bereiteten sich die Monitore auf das Blendwerk des Tages vor, während hinter den Fenstern die Stadt lustlos erwachte. Die Sitzecken in den größeren Räumen warteten mit etwas Krümelfutter für den Staubsauger auf, hier und da garniert mit expressiven Flecken, die von den Aufputschmitteln der Vorwoche kündeten. Noch ergiebiger waren in dieser Hinsicht die Sitzungsräume, in denen die Stühle einander andächtig gegenüberstanden und die Tischkreise darauf warteten, dass ihre zeremonielle Hülle mit Leben erfüllt würde.

      Es machte Lidia Afanasjewna allerdings gar nichts aus, dass sie vergeblich nach dem Außergewöhnlichen Ausschau hielt. Allein die Erwartung, dass es sich hinter der nächsten Tür ereignen könnte, half ihr schon durch den Morgen.

      Mit eben dieser Erwartung öffnete sie auch die Tür, hinter der ihr – gemessen an ihren Science-Fiction-Träumen – meist die größte Enttäuschung bereitet wurde: die Tür zu den Orten männlicher Entleerung. Vertraut mit den feinsten Geruchsnuancen auch dieser Welt, bemerkte Lidia Afanasjewna sogleich, dass an diesem Morgen etwas anders war als sonst. Umwehte sie hier für gewöhnlich eine Geruchswolke, die sie an den Schweinestall großmütterlicherseits erinnerte, so empfing sie dieses Mal eher eine leicht süßliche Duftnote, wie sie ihr von der Schnapsbrennerei großväterlicherseits her vertraut war.

      Aufmerksamer als sonst besprühte sie die Waschbecken im Eingangsbereich, die aber außer dem üblichen Glanzverlust durch den Seifenfilm und die abgeschrubbten Hautpartikel keine Besonderheiten aufwiesen. Als sie über die breite Spiegelwand wischte und in ihr Gesicht mit den unter einem Kopftuch zusammengebundenen Haaren blickte, in die geistesabwesenden Augen, die mitten durch sie hindurchzusehen schienen, redete sie sich sogar selbst ins Gewissen: "Du wirst noch in der Klapsmühle enden, wenn du so weitermachst! Eine Kloschüssel ist eine Kloschüssel, nichts weiter, sie deutet auf nichts hin als auf sich selbst."

      Tatsächlich war auch an der Reihe der Urinale, die sie als Nächstes abschritt, nichts Außergewöhnliches festzustellen. In manchen Sieben hatte sich ein Kaugummi verfangen, ein Abfluss war verstopft, in zwei Fällen war nicht abgespült worden, so dass sich der Urinstein nur durch eine Spezialbehandlung beseitigen ließ. Alles wie immer, keine besonderen Vorkommnisse. Und doch umwölkte sie – hier noch stärker als im Eingangsbereich – nach wie vor dieser eigenartige Geruch, der ihr fremd und vertraut zugleich vorkam.

      Erst als sie in den Gang zwischen den Toilettenkabinen einbog, deutete sich eine Lösung für das Geruchsrätsel an. Der Boden neben den Kloschüsseln war von getrockneten Urinspritzern bedeckt, unter den Klobrillen klebten Schamhaare, die teilweise von dunklen Flecken verfärbt waren. Manchen hatten sich mit diesen zu einer krustigen Melange verdichtet und behaupteten hartnäckig ihren Platz, als Lidia Afanasjewna sie zu entfernen versuchte. So weit war alles normal. Aus der hintersten Kabine jedoch ragte etwas heraus, das, wie Lidia Afanasjewna sogleich erkannte, dort nicht hingehörte. Bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass es sich dabei um zwei Schuhe handelte, aus denen jeweils eine graue Socke hervorsah.

      Da die Schuhe zur Seite geneigt waren und sich überdies vor der Kabine befanden, war nicht davon auszugehen, dass derjenige, dem die Schuhe gehörten, auf dem Klo saß. Eher sah es so aus, als würde er neben der Kloschüssel liegen. Vielleicht, dachte Lidia Afanasjewna, war hier jemandem schlecht geworden. Aber warum geschah dies ausgerechnet jetzt, zu dieser frühen Stunde, und dann noch an einem Montagmorgen – zu einem Zeitpunkt also, zu dem sie noch nie jemanden auf diesem Gang angetroffen hatte?

      Widerstrebend und doch neugierig trat Lidia Afanasjewna näher an die Kabine heran. Vorsichtig stieß sie die angelehnte Tür auf. Ihr Blick fiel auf eine Falten schlagende Anzughose, die am Bund von den leeren Ärmeln eines verrutschten Jacketts