Nadja Dietrich

Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau


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Afanasjewna schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie sah Aljoscha vor seiner Staffelei stehen, den Pinsel in der Hand, mit kühnem Strich fuhr er über die Leinwand und verwandelte malend das Haus, in dem Lidia Afanasjewna wohnte. Die Fenster wirkten wie Bullaugen in seinem Bild, das Haus glitt wie ein Unterseeboot durch die Nacht, und wenn man die Bullaugen lange genug ansah, weiteten sie sich zu Sternentoren, durch die man in eine andere Welt entschweben konnte.

      Lidia Afanasjewna riss die Augen auf: Schon 5.25 Uhr! Sie musste sich beeilen, wenn sie die S-Bahn noch erreichen wollte. Also im Laufschritt: Mantel übergeworfen, in die Stiefel geschlüpft, Schal umgebunden, den Hausflur mit dem hallenden Klick-Klack ihrer Absätze erfüllt.

      Unwillkürlich wich sie zurück, als sie die Haustür öffnete. Ein eisiger Januarwind biss ihr in die Haut, Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen als dünne Rinnsale über ihre Wangen. Da hätte sie sich die Schminkmaskierung ja auch sparen können! Wahrscheinlich hätte sie als das Gespenst, das sie davor gewesen war, noch weniger erschreckend gewirkt als der Zombie, den die zerlaufende Wimperntusche nun aus ihr machte.

      Eine Anzeigentafel, an der sie auf dem Weg zur S-Bahn-Station vorbeikam, zeigte minus 10 Grad an – eine Temperatur, bei der auch Weichen gerne einmal einfroren. Da würde doch nicht etwa …? – Doch, genau so war es: Die ganze Hetze war umsonst gewesen. "Bitte beachten Sie", knarzte es aus dem Lautsprecher am Bahnsteig, "dass es wegen einer Störung im Betriebsablauf zu Verspätungen kommt. Wir bitten um Ihr Verständnis."

      Lidia Afanasjewna vergrub die Hände tief in ihren Manteltaschen, zog den Schal noch enger um ihren Kopf und stapfte fröstelnd auf und ab. Wie auf einer Bob-Bahn jagte der Wind durch die Bahnhofsschneise, wie eine Gruppe Halbstarker trieb er seinen Schabernack mit den Wartenden, die sich nirgends vor ihm in Sicherheit bringen konnten. Der einzige Ort, der ein wenig Schutz geboten hätte – eine hinten und an den Seiten von Stellwänden umgebene Bank – war fest in Raucherhand. Vor die Wahl zwischen Erfrierungs- und Erstickungstod gestellt, erschien Lidia Afanasjewna das Erfrieren als die angenehmere, irgendwie natürlichere Variante. Das änderte sich allerdings, je länger die Warteminuten sich hinzogen.

      Gerade als sie sich die Frage vorlegte, ob der Erstickungstod nicht doch angenehmer – weil schneller und, vor allem: wärmer – wäre, war aus der Ferne das erlösende Rattern des herannahenden Zuges zu hören. Glücklicherweise war es noch so früh, dass er trotz der Verspätung nicht hoffnungslos überfüllt war. Lidia Afanasjewna fand sogar noch einen Sitzplatz am Fenster, was den Vorteil bot, dass sie ihren Kopf, der ihr auf einmal viel zu schwer vorkam, von zwei Seiten abstützen konnte.

      Im Vergleich zu dem zugigen Bahnsteig wirkte die Luft im Innern des Zuges ausgesprochen stickig. Die Fenster waren beschlagen, Lidia Afanasjewna fand sich in einer Glasglocke wieder, in der nichts zu sehen war außer den müden Spiegelbildern der anderen Fahrgäste, deren Köpfe willenlos im Takt der S-Bahn hin- und herschaukelten – wenn ihre Gesichter nicht gerade von Smartphones hypnotisiert wurden oder hinter Zeitungswänden verschwanden.

      Die Augen zu schließen und in den Augen von Aljoscha zu versinken, war eins für Lidia Afanasjewna. Dunkel und geheimnisvoll leuchteten seine Pupillen ihr entgegen, mit dieser leichten Melancholie, wie sie bei einfühlsamen Männern häufiger vorkam. Darüber verlor sich die Stirn im Gestrüpp seiner Locken, in deren weiche Pracht Lidia Afanasjewnas Finger schon so oft knisternd eingetaucht waren. Mitfühlend ruhte sein Blick auf ihr. "Aber Lidia Afanasjewna, meine Liebe, Teure – was haben Sie denn? Sie sind ja ganz blass!"

      "Ach, Aljoscha", seufzte sie, "ich bin es einfach leid …"

      "Aber was denn, Lidia Afanasjewna", hakte Aljoscha vorsichtig nach. "Was sind Sie leid?"

      "Nun, dieses ganze Leben", erklärte Lidia Afanasjewna. "Ich ertrage es einfach nicht mehr. Wenn dieser Zug mein Leben wäre, würde ich einfach an der nächsten Station aussteigen und den Zug in die entgegengesetzte Richtung nehmen."

      "So schlecht ist Ihr Leben doch gar nicht", wandte Aljoscha ein. Seine sanft dahinplätschernde Stimme war Balsam für ihre Seele, auch wenn ihr nicht gefiel, was er sagte. "Sie sind nicht allein, Ihre beiden Töchter haben, wie man so sagt, 'eine gute Partie' gemacht, Sie haben eine gemütliche, nach Belieben beheizbare Wohnung, dazu eine feste Stelle – also führen Sie doch eigentlich das, was man als 'geregeltes Leben' bezeichnen würde."

      "Aber genau das ist ja das Problem!" maulte Lidia Afanasjewna. Sie war ein wenig enttäuscht, dass Aljoscha nicht verstand, was sie meinte. Oder war es nur Höflichkeit, was ihn ihr Leben gegen sie selbst in Schutz nehmen ließ? "Gerade weil mein Leben so geregelt ist, kommt es mir vor wie eine ausgelutschte Zitrone. Ein Tag ist wie der andere, nie passiert etwas Neues, Überraschendes … Ob ich heute oder in 20 Jahren auf den Friedhof übersiedle, ist doch im Grunde einerlei."

      "Es gibt aber einige Menschen, die dankbar wären, wenn sie so leben könnten wie Sie", beharrte Aljoscha, seine christliche Seite hervorkehrend – die einzige Facette seiner Person, die Lidia Afanasjewna nicht sonderlich schätzte.

      "Nun gut", gestand sie ihm zu, "es mag ja sein, dass dieses Leben von außen betrachtet recht komfortabel erscheint. Davon werde ich aber auch nicht glücklicher! Nicht allein zu sein, ist doch kein Wert an sich – wenn ich an meinen Igor denke, scheint mir eher das Gegenteil der Fall zu sein. Und eine feste Stelle zu haben, mag einem ja Sicherheit geben. Wenn es sich dabei aber um eine Putzstelle handelt, ist die feste Stelle eben auch eine feste Kette an den Füßen, ein Stacheldraht, der einen von seinen Träumen trennt. – Putzfrau!" Lidia Afanasjewna verzog verächtlich das Gesicht. "Wozu habe ich mich da denn durch das Übersetzerstudium gequält? Soll ich mich etwa als Simultandolmetscherin für Staubmilben betätigen?"

      "Immerhin haben Sie die Ehre, Ihrer Arbeit im deutschen Bundestag nachgehen zu dürfen", gab Aljoscha mit einem feinen, mehrdeutigen Lächeln zu bedenken.

      Lidia Afanesjewna winkte ab. "Besser bezahlt ist die Arbeit deshalb auch nicht!"

      "Aber doch wohl etwas angenehmer, als wenn Sie Ihren Dienst in, sagen wir, einem Fußballstadion versehen müssten", hakte Aljoscha nach.

      Nun war es an Lidia Afanasjewna, vieldeutig zu lächeln. 'Wenn du wüsstest …', dachte sie. Aber sie schwieg lieber, um Aljoscha seinen Kinderglauben an den untadeligen Lebenswandel der Volksvertreter nicht zu nehmen.

      Als könnte er ihre Gedanken lesen, setzte Aljoscha hinzu: "Gut, die Arbeit als Putzfrau hat natürlich immer etwas damit zu tun, den Dreck anderer Leute wegmachen zu müssen. Aber vergleichen Sie das doch einmal mit Ihrem früheren Leben in Ihrem russischen Heimatdorf, mit all dem Staub im Sommer, dem Morast, in den er sich im Frühjahr und im Herbst verwandelt hat, mit der Kälte, die im Winter durch die Ritzen Ihres Holzhauses gekrochen ist – erscheint es Ihnen da nicht doch als Privileg, jetzt in einem vollklimatisierten Gebäude mit modernsten Maschinen und den effektivsten Reinigungsmitteln den kaum vorhandenen Dreck des Vortags beseitigen zu müssen?"

      Lidia Afanasjewna spürte, wie sich unter ihren geschlossenen Augenlidern Tränen ansammelten. Wie erstaunlich unsensibel es doch von Aljoscha war, sie auf ihre alte Heimat anzusprechen. Natürlich hatte er nicht Unrecht mit dem, was er sagte. Es war ihnen damals wirklich sehr unbehaglich zumute gewesen in dem kleinen Holzhaus, das sich den Jahreszeiten stets angepasst hatte, anstatt einen Ausgleich zu ihnen zu bieten. Eben deshalb hatten sie ja plötzlich alle das Deutsche in sich entdeckt, um sich als echte Deutsche fühlen und so guten Gewissens in das Land der Vorfahren ihres Mannes übersiedeln zu können.

      Igor, der damals noch nicht einmal das Wort 'Deutsch' hätte buchstabieren können, hatte sich auf einmal auf seinen deutschstämmigen Vater besonnen, obwohl der die Mutter seines Sohnes – hierin nicht gerade ein Musterbeispiel deutscher Tugend und Zuverlässigkeit – noch vor der Geburt hatte sitzen lassen. Und sie selbst war Woche für Woche mit dem Bus in die Stadt gefahren, um ihr kümmerliches Schul-Deutsch auf ein einigermaßen alltagstaugliches Niveau zu bringen. Dabei hatte sie sich stets auch um besondere Pünktlichkeit bemüht. Ja, tatsächlich hatte sie damals, bevor sie die deutschen Züge näher kennengelernt hatte, hierin eine typisch deutsche Tugend gesehen.

      Natürlich war ihr klar, dass der Blick zurück heute manches verklärte, was damals gerade ihre Ausreise