Juergen Oberbaeumer

FUKUSHIMA - IM SCHATTEN


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      Wieder eine Suende gegen den heiligen Geist also, eine von denen die nicht verziehen werden koennen: ich war zu dumm das Grossartige an Markus und May zu wuerdigen – sich so ein dickes Buch gegenseitig vorzulesen. Nur weil mich der etwas sehr amerikanische Schluss der Geschichte ermuedet hatte! Nein, mehr als das: weil ich ueberheblich war und bin. Darum. So verdammt ueberheblich. Zum Steine erweichend bloed dazu – meine eigene Tochter und ihren Freund so lauwarm abzufertigen, das ist typisch fuer mich, immer noch, immer noch. Ich denke dann, dass ich ehrlich bin: wer sagte noch, dass der Deutsche grob ist, wenn er glaubt ehrlich zu sein?

      So ist es jedenfalls bei mir. Auch nach all den Jahren in kultivierter Umgebung! Ist ja auch nicht einfach. „Du musst Dein Leben aendern!“ – Aber wie? Die Japaner sind wirklich klueger mit ihrer Hoeflichkeit. Bedeutend klueger! Sind menschlicher, das heist auch, behutsam. Und gar nicht so doof wie die deutschen Medien sie immer darstellen, wirklich nicht. Schaefchen sind sie zwar oft, in der Masse einer Stadtgesellschaft geht es auf die Dauer gar nicht anders, wie die Woelfe von der Wall Street vielleicht auch bald feststellen werden, aber bloed sind sie trotzdem nicht. Naiv aus Ueberzeugung zu sein? Fuenfundachtzig Prozent der Zeit ist es eine bessere Strategie mit den Schafen zu bloeken als einsam in die Nacht zu heulen! Leider nicht immer; besonders eben nicht wenn Woelfe mitbloeken. Schreibe jetzt also auch als Bussuebung, bekenne hier oeffentlich meine Mittelmaessigkeit: sollte dies je an die Oeffentlichkeit gelangen!

      May hatte ja das Thema „Buch“ eigentlich als Erste angerissen, mit Markus zusammen erfand sie Titel um Titel fuer eine therapeutische Uebung die sie mir empfahl. „Du musst vielleicht dein ganzes Leben mal aufschreiben um klarer zu sehen“ riet sie und stellte das unter Ueberschriften wie „Der alte Mann und das Mehr“ – aber das ist eigentlich eine zu traurige Geschichte. Lassen wir das.

      May: danke auch fuer das Buechlein „Wo die Liebe ist da ist auch Gott“ von Leo Tolstoi. Angefangen mit „Huetet das Feuer“ war jede einzelne Erzaehlung eine Mahnung und ein Wegweiser. Was ich hier jetzt versuche aufzuschreiben ist also nichts vom Kaliber eines „Buchs“ und hat auch keine tragenden Weisheiten fuerchte ich: es ist einfach ein Bericht ueber Tage und Stunden, „norari kudari“ wie meine ungeduldige Frau so eine Redeweise immer schilt: um acht Ecken rum. „Komm auf den Punkt!“ nennt Leon sie, aber es braucht Zeit auf den Punkt zu kommen. Habe Geduld mit mir, mein Sohn…Ich habe kein Feuerwerk abzubrennen wie Harry Mulisch und bin auch keine klare Flamme wie Tolstoi der weiss wieviel Erde der Mensch braucht; was ich aufzuschreiben habe ist eher wie das unsichere Feuerchen ein paar zusammengeknuffter Seiten alter Zeitung, wie es Marikos Mutter und alle alten Muetterchen Japans zum Totenfest „Obon“ und den Equinoxen auf dem Friedhof entfachen um daran muehevoll eine Hand voll Raeucherstaebchen in Glut zu setzen. Gelingt es zuletzt werden die Staebchen aus der Huelle genommen die sie in der Mitte haelt wie eine Banderole und auf die Grabsteine des Familiengrabs verteilt. Die Grabsteine wurden bereits gewaschen, Blumen sind schon aufgestellt. Man legt die Haende zusammen und gedenkt der Toten: an die zwanzigtausend sind es diesmal; und wieviel kommen noch? Man geht dann nach diesen kleinen Diensten der Dankbarkeit und des Gedenkens fuer gewoenlich erleichtert und in guter Laune von dannen, Tee und etwas Suesses sind schon vorbereitet: das Leben ist nicht so leicht totzukriegen.Mehr als alles andere ist dies eine Meditation, ist es der Versuch selbst wieder die Fuesse auf die Erde zu kriegen.

      Gestern frueh im Bett, nach einem der schweren, nichtsnutzigen Traeume die ich letztens habe, machte das Wort „Closure“ sich so breit in meinem Kopf dass ich anfing nachzudenken und mir DA ploetzlich klarmachte wie sehr ich in der Luft haenge. Dass Mariko es ueberhaupt mit mir aushaelt! (gut, das wundert mich schon ueber zwanzig Jahre… aber jetzt nochmal anders…) Merkt sie nicht wie realitaetsfern ich geworden bin? Unfaehig meine grosse Entscheidung zu treffen – unfaehig wirklich in den Spiegel zu sehen? Ist sie vielleicht selber so, sind wir alle hier in der Nachbarschaft der still und leise vor sich hin brennenden Reaktoren so? Schlafwandler, Traumtaenzer, lebende Leichname? Oder nicht? Das ist die Frage aller Fragen – und sie ist nicht zu beantworten.

      „Denial“ ist doch die erste der Phasen durch die man nach einem Schock geht, ob es eine Krebsdiagnose ist oder der Verlust eines geliebten Menschen: ES ist doch eigentlich gar nicht wahr! Es ist doch ganz anders – sagt man sich, unter Umstaenden schliesslich erfolgreich. Schafft sich selbst damit eine neue, eine andere Realitaet – wie gut wenn es gelingt! Es gelingt aber nur, wenn man an sich selber glaubt, an seinen guten Stern, an seinen Weg.

      Schliesslich sind wir doch geuebt im „Verleugnen“, oder „Abwehren“; wer denkt denn schon staendig daran, dass er mitten im Leben…? Die allerwenigsten! Ich bin einer davon; jeden Tag denke ich an ihn, den guten zeitlos alten Freund der kleinen Momo, und meine hier nicht Beppo Strassenkehrer, auch nicht Nicola den Maurer, und erst recht nicht den Geschichtenerzaehler Girolamo. „Bist Du…?“ fragte sie ihn, und er laechelte: antwortete aber nicht gradlinig, der Meister der Stunden und Minuten.

      „Closure“ – wie dies Wort so vor mir stand fuehlte ich ploetzlich, dass dies Schreiben fuer mich etwas zum Abschluss bringen wird. Kann. Muss. Sollte. Will?

      Es ist ja alles in einem selbst, das Gift so wie die Medizin. Wer hat mich denn schliesslich vor so vielen Jahren hier hin geschubst, wenn nicht ich selber? Ueber eine Entfernung von ziemlich genau 10.000 Kilometer punktgenau nach Iwaki – eine saubere Leistung, Respekt. Andererseits waere es auch allzu schwach nach so einem langen Anlauf JETZT nicht den grossen Sprung zu schaffen, den Sprung heraus aus der Traegheit. Den Sprung zurueck: in die Wirklichkeit! Wirken moechte ich so gern nach 27 Jahren Einsamkeit. Wenn ich Menschen erreichen koennte mit diesem Bericht! Mut machen koennte. Zeigen koennte was wirklich wichtig ist; nicht, dass ich mich fuer besonders befaehigt hielte – aber im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen meiner Sprache habe ich Erfahrungen machen muessen, die es vielleicht wert sind geteilt zu werden. Ich moechte mir durch das Schreiben auch selbst darueber klar werden was wichtig ist, „learning by doing“ oder auch „learnig by wooing“: ich werbe um Aufmerksamkeit. Auch meine eigene! Wie kann man anders etwas ueber sich erfahren als im Spiegel des Gegenueber, auch wenn der Gegenueber die Tasten des Keyboards sind auf denen meine Finger ein skurilles Muster weben. Der Schirm auf dem ich Worte stehen sehe: „An Audience of One“. Egal. Ich will’s versuchen! Meine Familie wird’s verstehen.

      Und ich mich selbst ein bisschen besser kennenlernen. Meine Familie; besonders meine Frau – eine Figur-Grund-Gestalt! Je mehr ich von „mir“ schreibe desto klarer umrissen wird unausgesprochen auch Mariko erscheinen; sie, die mich und die Kinder traegt, treu wie die gute Erde selber, ein kleines Stueckchen davon, ein Gaertchen eben wie wir es hinterm Haus haben und nun nicht mehr bebauen koennen. Kleine Leute sind wir, unauffaellig und um unsere Existenz kaempfend wie alle unsere Nachbarn hier in diesem kleinen Fischeroertchen Yotsukura, Ortsteil der Stadt Iwaki.

      So bescheiden wir sind: das Tableau auf dem sich dieser Bericht entfaltet ist gewaltig.

      4 Taira Plus

      Elfter Maerz 2011, Uhrzeit 14:46, ich komme nicht mehr drumherum. „Heisei 23“ in japanischer Rechnung, 23 Jahre seit Antritt des gegenwaertigen Kaisers Akihito! Ein sonniger Tag, fruehlingshaft: wobei ich mich jetzt nicht mehr absolut konkret an den Vormittag erinnere. Es ist mir aber als sei er so wie der Schwanentag zwei Tage vorher gewesen, es ist mir als stehe ich noch in der langsam steigenden Sonne draussen vor der Kuechentuer, Mariko in der Naehe mit Pflanzen im Garten beschaftigt, wie jeden Morgen. Wir leben ja eine regelrechte Idylle: bewohnen ein fast hundert Jahre altes Haus! Das damals fuer den Vizechef des grossen Zementwerks hier gebaut wurde, komplett mit Dienstmaedchenzimmer, zur Zeit „Corporate Headquarters“ fuer unsere winzige Firma „Kleines Deutschland GmbH“, Spielwarenimport. Wunderbare Artikel fuehren wir: die Figuren der Margarete Ostheimer in japanischer Vertretung. Hauptsaechlich die Figuren. Von Fuchs, Igel und Hase ueber Schneewittchen mit den sieben Zwergen bis zu Maria und Josef mit dem Heiland: diese zum Glueck noch in der originalen, genialen Form – und Farbgebung der Gruenderin Margarete selbst! Genie kann keiner verbessern.

      Bewohnen also dies Haus mit seinen 75 Tueren und fuenf Fenstern, die kleinen Klofenster nicht eingerechnet schon eine halbe Ewigkeit und zwei Kinder-Leben lang, obwohl unsere Tochter May ihre ersten