Irgendwann wird die volle Wahrheit ans Tageslicht kommen. Wir werden ihnen helfen, Gerechtigkeit zu erlangen, so hoffe ich wenigstens.
- Sei vorsichtig. Es ist nicht günstig, die mächtigen Konzerne zum Feind zu haben. Sie stecken alle mit der Drogenmaffia unter einer Decke. Man hört hier so einiges. Sie schrecken vor nichts zurück. Es soll wiederholt zu Morden gekommen sein, wenn ihnen jemand in die Quere kommt.
- Wir passen sehr gut auf und fahren nie allein übers Land. Wir haben viele Freunde in der Bevölkerung. Einige betrachten uns fast als ihre vom Himmel gesandten Retter. Sie warnen uns, wenn uns Gefahr droht.
- Du hast mir ein Bild von einem jungen Mann geschickt, sagte Ingrid. Er sieht wirklich gut aus. Offenbar unternehmt ihr viel gemeinsam und macht Ausflüge an die Pazifikküste.
- Ja, das ist Michel. Wir arbeiten sehr gut zusammen. Er ist ein verlässlicher Mann. Er ist für die Organisation, Durchführung und Überwachung der klinischen Tests zuständig. Er macht die statistischen Auswertungen.
-Verfasst er die Testberichte?
- Ja, das ist seine Aufgabe. Natürlich hat er Hilfskräfte zu seiner Verfügung.
- Kontrollierst du seine Berichte?
- Meistens. Nicht immer habe ich die Zeit. Michel macht das weitgehend allein.
- Ingrid zögerte einen Augenblick, als sei sie sich nicht sicher, ob sie das Thema weiter besprechen sollte: Ein Mitarbeiter sagte mir neulich, dass eure Berichte nicht immer vollständig seien. Es fehle die zeitnahe Dokumentation der an die Probanden verabreichten Substanzen und der medizinischen Befunde.
- Ich kann mich nicht um alles kümmern. Aber ich werde mir die Berichte künftig genauer ansehen.
- Das solltest du unbedingt tun, denn bei meinem letzten Besuch erhielt ich eine Mitteilung, dass es besonders während der letzten Tests zu mehreren Todesfällen gekommen sein soll.
- Ja, das stimmt, wir hatten in der Tat einige Todesfälle zu beklagen, aber Geburt und Sterben ist dort allgegenwärtig. Es regt sich niemand darüber auf.
In diesem Augenblick kam der Patriarch herein, der offenbar die letzten Sätze gehört hatte, und setzte sich in seinen gewohnten Sessel mit der hohen Rückenlehne.
- Ich vernehme, ihr seid mitten an einem kritischen Punkt angelangt. Offenbar geht es um die außergewöhnlich hohe Sterberate bei euren klinischen Test. Ingrid hat mir das neulich angedeutet. Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es kann hier zu einer offiziellen Untersuchung kommen, und dann hängen auch wir mitten drin, denn die Medikamente stammen ausschließlich von uns, soweit ich weiß.
- Das ist so. Wir beziehen die Substanzen nur aus unserem Münchner Werk.
- Hinrich wird dir gesagt haben, dass wir seit ein paar Wochen Probleme in der Abfüllstation haben. Einige Automaten sind durch einen Brand in der Lager- und Versandhalle ausgefallen.
- Er hat mir davon nur kurz berichtet, dass es zu Schwierigkeiten in der Produktion gekommen sei. Die Belieferung der Kunden sei aber nicht ernsthaft gestört. Mehr weiß ich nicht.
- So einfach ist es nicht, sagte Wolfgang sichtlich irritiert. Im Gegenteil: Wir haben erhebliche Lieferprobleme. Wir warten noch auf die neuen Automaten. Die haben lange Lieferzeiten. Hinrich lässt das alles viel zu lange schleifen. Er setzt sich nicht energisch genug für die Firma ein. Er beschäftigt sich viel zu sehr mit anderen Dingen.
- Julia fühlte sich verunsichert. Hoffentlich ist es nicht zu Fehlchargen gekommen. Wir vertrauen auf die einwandfreie Qualität der gelieferten Substanzen. Wir haben keine Möglichkeiten, alle Lieferungen lückenlos zu untersuchen.
- Ich wünschte, dass du hier bei uns bliebest, sagte Wolfgang. Hier warten große Aufgaben auf dich. Wir brauchen dich hier dringend. Die Probleme wachsen mir über den Kopf. Ich bin zu alt für die Leitung der Firmengruppe und brauche dringend einen Nachfolger. So ein Mann ist schwer zu finden. Es muss eine erfahrene und vertrauenswürdige Person sein, die mit der Branche vertraut ist. Du kennst dich aus, und ich habe Vertrauen zu dir.
- Du hast Hinrich hier zu deiner Verfügung. In Nicaragua ist keiner, der mich ersetzen kann. Die Menschen vertrauen mir. Sie brauchen mich.
- Auch hier wirst du gebraucht.
- Ihr werdet schon den richtigen Nachfolger finden, sagte sie, als sie sich erhob: Ich will mich noch etwas zurechtmachen.
Sie verabschiedete sich und zog sich in ihr Zimmer im oberen Stockwerk zurück. Irgendwo hörte sie Hinrich Klavier spielen. Die Töne schienen aus seinem Zimmer zu kommen. Offenbar probte er den langsamen Satz aus dem Doppelkonzert von Brahms.
Sie war beunruhigt über die Tatsache, dass ihr Vater über die unerklärlichen Todesfälle bei den Tests Bescheid wusste. Wie war die Information dorthin gelangt? Offenbar hatte Ingrid geredet. Julia hatte versucht, die Information in den eigenen Reihen zu halten, aber jetzt war es heraus: Ihr Vater wusste Bescheid, das war ihr nicht recht. Sie hätte Ingrid dazu befragen können. Sie brauchte Klarheit, was gespielt wurde. Sie hätte sie zur Rede stellen müssen, aber nicht jetzt. Jetzt wollte sie keinen Konflikt mit ihrer Tante und vor allem nicht mit ihrem Vater kurz vor seinem Geburtstag. Im Augenblick hatten sie Wichtigeres zu tun.
- Störe ich dich beim Üben?, fragte sie als sie Hinrichs Zimmer betrat.
- Nein, komm nur herein. Es ist mir sehr recht, dass du kommst. Wir müssen uns noch abstimmen. Setze dich etwas zu mir.
Julia hatte ihr Cello aus dem Kasten genommen und stimmte ihr Instrument mit Hilfe einiger Akkorde, die Hinrich auf dem Klavier anschlug. Enttäuscht stellte sie fest, dass ihr Instrument total verstimmt war.
- Es ist jedes Mal so, wenn du von einer Reise zurückkehrst. Das kennst du doch und du wirst dein Instrument schon wieder richtig stimmen.
Julia strich noch ein paar Saiten und lehnte ihr Instrument lustlos an den Flügel: Hinrich, bevor wir anfangen, möchte ich noch etwas geklärt wissen, das mich belastet.
- Was ist es? Er ahnte, dass etwas Wichtiges kommen würde.
- Es geht um die Häufung der Todesfälle bei unserer letzten Testserie. Wir hatten bereits über die möglichen Ursachen gesprochen. Was mich wundert ist, dass unser Vater darüber informiert war. Offenbar hat ihm seine Schwester davon berichtet. Ich weiß nicht, von wem sie die Nachricht hat. Vielleicht hat jemand bei ihrem Besuch in meinem Institut davon berichtet. Wusstest du auch davon?
- Nein, ich habe nur etwas davon läuten gehört. Ich wollte mich da nicht reinhängen. Das betrifft mich nur am Rande.
- Vielleicht nicht, jedenfalls nicht bis wir die wahre Ursache kennen. Hast du Nachforschungen angestellt, ob die Beschriftung, die Verpackung und der Versand der Medikamente ordnungsgemäß erfolgt sind?
- Ja, habe ich, antwortete Hinrich, aber seine Stimme verriet Unsicherheit. Sie hatte eine schwärende Wunde berührt. Es saß ein eiternder Stachel tief in seinem Fleisch.
- Und zu welchen Ergebnissen hat das geführt? Sie wollte die ganze Wahrheit wissen.
- Ich bin die Versandlisten durchgegangen, es scheint alles in Ordnung zu sein. Die Placebos waren mit der korrekten Nummer auf der Verpackung gekennzeichnet. Hier bei uns gibt es keine Unregelmäßigkeiten. Wir haben die alten Sortier- und Verpackungsmaschinen aus der Werkstatt hervorgeholt. Sie sind neu justiert und geprüft worden. Das Problem muss bei euch liegen.
- Hast du wirklich alles sorgfältig geprüft?, erkundigte sie sich nachdrücklich. Ihre Stimme verriet, dass sie genervt war. Irgendeiner sagte nicht die volle Wahrheit.
- Ja. Ich werde zur Klärung nicht mehr viel beitragen können. Du musst die Ursache bei euch suchen oder bei Ingrid. Vielleicht ist es nur eine zufällige Koinzidenz von verschiedenen Faktoren, die nichts mit den Tests zu tun haben.
- Sie war über den Vorwurf ihres Bruders verärgert und antwortete nicht.
Mürrisch holte sie ihr Instrument, strich ein paar Saiten und korrigierte den Ton. Sie versuchte sich wieder auf das Spiel zu