Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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      - Ich kann jetzt nicht.

      - Reiß dich zusammen. Wir sind hier nicht allein.

      - Doch, ich bin allein, von allen verlassen. Vater hatte sich von mir abgewendet. Ich glaube, er war äußerst erregt, weil ich aus dem Konzept gekommen war. Und dann hat sich dies satanische Weib zu ihm gebeugt und ihm einen Kuss gegeben. So schamlos in aller Öffentlichkeit, als ob sie hier an seiner Seite bereits die Herrin sei. Das konnte ich nicht ertragen.

      - Aber diese Frau betrifft dich doch gar nicht. Sie hat dir nichts getan. Im Gegenteil, eines Tages wird sie dir vielleicht sogar helfen.

      Hinrich war über sein Versagen tief betroffen und auch erzürnt. Sein Zorn richtete sich jetzt auf seine Schwester, die er letztlich für sein Versagen verantwortlich machte. Deshalb reagierte er kalt und abweisend:

      - Das geht dich doch gar nichts an. Du lebst nicht hier. Du bist weit weg vom Schuss. Führst dein eigenes Leben, wie auf einer Insel der Glückseligen. Du wirst von Vater finanziell gestützt. Wir müssen hier allein mit der schwierigen Situation fertigwerden. Ich werde nur Hohn und Spott ernten.

      - Julia hatte sich wieder gefangen: Das wirst du nicht ändern können, wirst es ertragen müssen. Aber jetzt geht es um unseren Vater. Wir müssen uns um ihn kümmern. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Es kann nur ein kurzer Schwächeanfall, kann aber auch etwas Schlimmeres gewesen sein. Ich muss sofort zu ihm gehen und sehen, was zu tun ist.

      Die Gäste begannen den Raum zu verlassen. Auch Konselmann drängte hinaus, denn es war ihm peinlich, was er soeben erlebt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Mit wem hätte er sprechen sollen? Julia war mit etwas anderem beschäftigt. Hinrich tat ihm leid. Das wollte er ihm jetzt nicht sagen. Dazu wäre zu einem späteren Zeitpunkt noch genügend Zeit.

      Die Kerzen im Saal verlöschten allmählich. Der Ort wirkte kalt und abweisend, man mochte ihn fast feindlich nennen. Hier und da wurden behutsam ein paar Stühle zurechtgerückt. Die alte Ordnung wurde wiederhergestellt. Nun schien alles wie zuvor, und doch war es nicht so: Der Patriarch hatte das Haus verlassen. Nur die Räume waren noch dieselben. Die Beleuchtung des Podiums war ausgeschaltet worden. Dunkelheit begann sich auszubreiten.

      Kaum wagten sich die beiden Geschwister im Dämmerlicht des verlöschenden Tages anzublicken. Sie fürchteten den Vorwurf des Vaters, der bisher unausgesprochen war: Ihr habt mich blamiert. Auch du, meine Tochter, hast mich enttäuscht. Das hätte ich von dir nicht erwartet. Ich hatte so große Stücke auf dich gesetzt. Und nun dies! Ihr beide zerstört mein Lebenswerk, und das Werk meines Vaters! Schwer lastete die lähmende Stille auf ihnen. Kaum wagte einer zu atmen.

      - Hinrich war am Boden zerstört: Es tut mir leid, ich habe wieder alles vermasselt. Aber eigentlich bin nicht ich daran schuld. Du bist es, aber das verhängnisvolle Schicksal wird letztlich wieder ganz allein an mir hängen bleiben. Vater wird mir die ganze Schuld geben. Ich muss es ausbaden, und du ziehst dich in die Fremde zurück.

      - Julia entgegnete ziemlich schroff: Versuche nicht, mir die Schuld an deinem Versagen zu geben. Ich habe das Konzert nicht abgebrochen.

      - Ich war es. Es war mir nicht möglich, mich zu fangen. Vielleicht waren es auch die Pillen, die mir die Konzentration genommen haben. Wie dem auch sei: Du hast unsere Vereinbarung nicht eingehalten. Du hast mich aus dem Takt gebracht.

      - Schiebe mir nicht die Schuld zu. Sie liegt bei dir. Wenn du meinst, dass du der geeignete Nachfolger für unseren Vater bist, dann beweise es in schwierigen Situationen. Ich lasse mich nicht vor den morschen Karren spannen. Wenn ihr die Firma in den Dreck gefahren habt, dann zieht sie auch wieder heraus. Ich habe mein eigenes Leben und lasse mich nicht wie eine wohlfeile Ware verschachern.

      - Er fühlte sich vereinsamt, weil auch seine Schwester ihm Vorwürfe machte. Mit schwacher Stimme sagte er: Wir werden die Firma nicht retten, ich habe keine Hoffnung mehr. Jetzt ist alles aus. Und dabei wollte ich Vater eine Freude machen. Aber die Frau an seiner Seite ist stärker als ich. Sie trägt die Verantwortung. Sie bringt das Unglück ins Haus.

      - Sie erhob sich und sagte mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete: Di schiebst die Schuld wieder auf andere, das hast du auch früher immer getan. Jetzt müssen wir uns erst einmal um Vater kümmern. Ich werde zu ihm ins Krankenhaus fahren, und du kümmerst dich um unsere Gäste. Versuche zu retten, was noch zu retten ist. Du kannst sagen, dass dir das Essen nicht bekommen sei und dass dir schlecht wurde. Du fühltest dich nicht gut. Das werden sie akzeptieren. Vielleicht haben sie sogar Mitleid mit dir.

      - Ich werde mich um die Gäste kümmern. Aber ich traue mich nicht, mit ihnen zu sprechen. Sie werden mich fragen, was passiert sei, und ich kann ihnen darauf keine Antwort geben. Ich hasse die Lüge, aber die Wahrheit kann ich auch nicht sagen. Die würde niemand verstehen. Das Geständnis würde mich vollends an den Rand der Gesellschaft stellen.

      - Ich denke, du musst versuchen, über den Tod unserer Mutter hinwegzukommen. Vielleicht wäre sogar ein Gespräch mit Frau von Stephano hilfreich. Statt sie zu meiden, solltest du ihre Nähe suchen. Ich glaube sogar, sie ist die einzige, die dir in dieser Situation wirklich helfen könnte, aus deiner psychischen Krise herauszukommen. Sie kann und soll dir unsere Mutter nicht ersetzen, aber sie kann dir helfen, deine innere Stabilität und dein Selbstbewusstsein wiederzufinden.

      - Zweifelnd und zugleich auch voller Hoffnung blickte er sie an: Meinst du wirklich? Ich weiß nicht so recht, wie ich es anfangen soll. Sie wird nicht mit mir sprechen wollen, weil auch sie mich für einen Versager hält.

      - Sie ließ ihn stehen und wandte sich zum Gehen: Versuche es wenigstens. Sie wird dir nichts Böses tun. Schlimmstenfalls sagt sie nein, aber das glaube ich nicht. Ich vermute sogar, dass sie dich gern mag. Du hast eine ausgeprägt weibliche Seite, das zieht starke Frauen an. Sie brauchen den Gegensatz, suchen das, was sie nicht besitzen.

      In kleinen Gruppen verzogen sich die Gäste, tief enttäuscht von dem misslungenen Abend. Dafür waren sie nicht gekommen. Das Versagen von Hinrich war ihnen peinlich. Was wirklich geschehen war, das wussten sie nicht. Sie bedauerten ihn und versuchten ihn wieder aufzurichten. Jedenfalls zeigten sie sich verständnisvoll. Was sie wirklich dachten, sagten sie nicht. Nur eines war ihnen klar. Dies war nicht der künftige Firmenlenker. Er war ein Häufchen Unglück, der ihr Mitleid erregte. Niemand ahnte, welche Rolle Julia dabei gespielt hatte.

      - Paulsen kam mit eilenden Schritten auf Hinrich zu und schloss ihn in seine Arme: Junge, was ist passiert?, fragte er voller Mitleid. Ich verstehe das nicht. Bis zu der Stelle im langsamen Satz war alles in Ordnung. Du hast großartig gespielt, so wie ich dich kenne. Und dann der Abbruch aus heiterem Himmel. Das war vollkommen unnötig. Sicher, ihr wart etwas aus dem Takt gekommen, aber was macht das schon? Es hat wohl keiner außer mir gemerkt. Warum hast du nicht weitergespielt?

      - Ich kann es nicht erklären. Plötzlich war alles weg. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich musste an Mutter denken und da war alles aus. Wie weggeblasen.

      - Hinrich, du hast großes Talent, aber du brauchst mehr Konzerterfahrung. Du solltest an die Violinschule nach London gehen. Sie wurde von meinem Lehrer Yehudi Menuhin gegründet. Ihm lag die Förderung talentierter Künstler sehr am Herzen. Dort erhalten junge Musiker die Gelegenheit, sich in der Kunst des Vortragens zu üben und den Kontakt zum Publikum zu finden.

      - Hinrich war noch immer den Tränen nah: Jetzt muss ich erst einmal den Kontakt zu mir selbst finden, sagte er und konnte seinem Lehrer kaum ins Auge blicken.

      - Sein Lehrer wandte sich ab und klopfte ihm freundlich auf die Schulter: Kopf hoch! Du wirst das schon schaffen. Tauche erst einmal dein Gesicht in kaltes Wasser. So darf dich niemand sehen. Du siehst aus wie ein Jammerlappen.

      Damit entfernte er sich und verließ den Raum. Natürlich war auch er von seinem Schüler enttäuscht.

      Das Blaulicht vor der Tür war ausgeschaltet worden, und der Fahrer wartete auf das Zeichen zur Abfahrt. Nun warf das flackernde Licht keine irrlichternden Schatten mehr an die Decke. Mit den tanzenden Figuren schien auch die Hoffnung verschwunden. Das Licht und der Vater waren verschwunden. Würde er jemals wiederkehren? Was würde aus ihm und der Firma werden?

      Der