Arnulf Meyer-Piening

Das Doppelkonzert


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und im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte gewesen sei. Sicher eine gewagte Behauptung, aber sie tat, was von ihr verlangt wurde. Sollte sie sich gegen ihre Chefin zur Wehr setzen? Wozu? Was ging es sie an.

      Der Patient wurde mit seinem Bett erst in den Fahrstuhl, dann in ein separates Zimmer im Kellergeschoß geschoben. Er ließ die Untersuchung widerstandslos über sich ergehen, denn er hatte nur ein Ziel: Er wollte so schnell wie möglich wieder gesund werden und nach Hause und an seinen Arbeitsplatz in der Firma zurückkehren. Er hasste es, von anderen Menschen abhängig zu sein. Sein ganzes Leben war er derjenige gewesen, der bestimmte, was zu geschehen hatte, nun aber befand er sich hilflos in den Händen anderer. Das konnte er in seinem ausgeprägten Autonomie-Bestreben nur schwer ertragen. Wenn sie auch freundlich zu ihm waren, so wehrte sich alles in ihm gegen die Bevormundung.

      Als er aus der Narkose erwachte, war eine Ärztin bei ihm. Sie fragte ihn, wie es ihm ginge. Er befand sich allein in einem etwas abgedunkelten Raum. Kurz darauf kam Ingrid herein: Ich habe eben die Ergebnisse der Untersuchung bekommen: Du hast einen Thrombus im linken Herzmuskel. Eine Blutbahn ist weitgehend verstopft. Der Herzmuskel ist nur unzureichend mit Blut versorgt. Wir müssen schnellstens einen Stent implantieren, damit das Blut wieder ungehindert durch die Adern fließen kann.

      Er erkundigte sich ängstlich:

      - Was ist ein Stent? Wie wird das gemacht? Ist es gefährlich? Muss ich am Herzen operiert werden?

      Sie hielt ihm eine Broschüre vor die Augen:

      - Sieh mal dies Bild: Bei einem Stent handelt sich um eine Art zusammengeschobenen länglichen Drahtkäfig, der durch die rechte Leiste eingeführt wird. Er wird durch die Vene bis ins Herz geschoben und an der durch Ablagerungen verengten Stelle durch einen Ballon aufgeblasen, der anschließend wieder entfernt wird. Dieser Drahtkäfig verbleibt im Herzen und sorgt dafür, dass das Blut wieder frei fließen kann. Jedenfalls ist keine Operation am offenen Herzen notwendig. Es wird kein Gewebe zerstört, und es tut nicht weh. Du merkst nichts und brauchst keine Angst zu haben: In ein paar Tagen hast du alles überstanden.

      - Er ergab sich in das Unvermeidliche: Der Drahtkäfig bleibt dort für immer in meinem Herzen? Ist der Eingriff gefährlich?

      - Mach dir keine Sorgen. Der Eingriff ist inzwischen reine Routine. Wir machen das fast hundert Mal in jedem Jahr. Der Stent bleibt im Körper und hält die Blutbahn frei. Er stört dich nicht. Du wirst ihn nicht bemerken.

      Er stimmte dem Eingriff zu und unterschrieb die geforderte Erklärung, die das Krankenhaus vor jeglicher Art von Schadensersatzansprüchen schützte, wenn bei der Operation irgendetwas schief gegangen sein sollte. Es gab – wie bei allen Eingriffen – allerlei Risiken: Entzündungen, Blutungen, Allergien, Herzversagen und vieles mehr. Aber was nützte es? Wenn er nicht unterschrieb, dann würden sie den Eingriff nicht machen. Das war ihm klar.

      Er wurde in den Operationssaal geschoben und auf ein anderes Bett gelegt. Viele Apparaturen um ihn her, eine große Leuchte über ihm, in einem Nebenraum eine Anzahl von Bildschirmen hinter einer Glaswand. Er versuchte zu verstehen, was um ihn herum vorging. Es war nicht möglich. Selbst in wachem Zustand hätte er keine Chance gehabt. Er ergab sich seinem Schicksal. Was hätte er auch sonst tun können? Hilflos, wie er war.

      Der Arzt trat zu ihm und lächelte ihm beruhigend zu. Ein paar Hilfskräfte im Hintergrund beschäftigten sich mit irgendetwas. Sie kümmerten sich nicht um ihn. Belanglose Gespräche. Hatten die Schwestern eine Ahnung, welche Sorgen er sich machte, welche Ängste er ausstand? Eine Schwester rasierte ihm die Haare an der Leiste, was ihm sehr peinlich und unangenehm war. Aber er ließ es über sich ergehen und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie das routinemäßig wohl mehrfach am Tage machte. Ob sie wohl verheiratet war oder einen Freund hatte? Eigentlich nicht wichtig. Kurz darauf schlief er ein.

      Der Eingriff war offenbar gut verlaufen. Jedenfalls sah es zunächst so aus. Aber er wachte aus der Narkose nicht richtig auf. Da er sehr unruhig war, wurde er an Händen und Füßen ans Bett gefesselt, aber er spürte es kaum, denn er schlief schnell wieder ein. Man hatte ihn in ein künstliches Koma versetzt.

      Als er nach drei Tagen erwachte, war Ingrid bei ihm. Auch Julia war anwesend. Nur schemenhaft konnte er die beiden ihm so nahestehenden Personen erkennen. Sie versuchten mit ihm zu sprechen, aber es gelang ihm nur mühsam, ihre einfachen Fragen zu verstehen und zu beantworten. Er schien halbseitig gelähmt zu sein und konnte sich nur schwer verständlich machen. Sein rechter Mundwinkel hing herab. Die Gesichtsmuskeln gehorchten seinem Willen nicht. Sie fragten ihn, ob er wisse, welcher Tag heute sei, aber er wusste es nicht. Er hatte jede Erinnerung verloren.

      - Die Oberärztin der Neurologie wurde gerufen. Sie grüßte die Damen beim Betreten des Zimmers: Guten Tag Frau Sämann. Und an Julia gewandt: Sie sind sicher seine Tochter?

      - Ja. Ich bin Julia Sämann.

      - Die Neurologin zeigte sich freundlich und interessiert: Wie geht es unserem Patienten?

      - Ingrid antwortete: Er ist noch nicht bei vollem Bewusstsein.

      - Das ist nicht verwunderlich. Er hatte während des Eingriffs einen Ischämischen Schlaganfall bekommen. Wir wissen noch nicht, was genau passiert ist. Vielleicht hatte er eine Hirnhautentzündung oder es könnte sich auch ein Blutgerinnsel während des Eingriffs irgendwo gelöst haben und sich im Gehirn festgesetzt haben. Ein Teil des Gehirns arbeitet nicht richtig. Es ist nicht richtig durchblutet. Jedenfalls braucht er noch viel Ruhe. Wir werden ihm eine Beruhigungsspritze geben.

      Der Patient versank sofort in einen tiefen Schlaf. Die beiden Frauen verließen das Krankenzimmer. Hier konnten sie nichts mehr tun und setzten ihr Gespräch vor der Tür fort.

      - Julia war sehr beunruhigt: Glaubst du, dass Vater wieder ganz gesund wird? Ich meine, dass er sich in einem erbärmlichen Zustand befindet.

      - Es besteht eine sehr gute Chance, dass sich die halbseitigen Lähmungserscheinungen zurückbilden. Der Krankheitsverlauf ist schwer vorherzusagen. Wir müssen die nächsten Tage abwarten. Er ist kräftig und hat gute Chancen, ohne weitere Behinderungen durchzukommen.

      - Julia bewegte vor allem eine Frage: Wird er wieder seine Geschäfte aufnehmen können? Habt ihr mal über seine Nachfolge gesprochen? Was soll aus der Firma werden?

      - Ingrid hob die Schultern. Ich habe keine Ahnung. Wenn doch wenigstens Hinrich als Nachfolger zur Verfügung stünde, aber der ist dazu nicht geeignet. Zudem ist er nicht stressstabil. In kritischen Situationen versagen seine Nerven. Dann ist er unberechenbar und gefährdet unter Umständen sogar andere Menschen. Wenn er allein auf der Bühne gewesen wäre, dann wäre es noch gegangen, aber er hat dich im Stich gelassen. Das ist unverzeihlich. Er kann seinen Vater nicht ersetzen. Er wird niemals sein Format haben. Und gerade jetzt brauchen wir einen starken Führer.

      - Hat er sich eigentlich einmal hier blicken lassen oder hat er wenigstens angerufen?, wollte Julia wissen.

      - Ja, er hat versucht mit seinen Vater zu sprechen. Ich habe ihn aber abgewiesen, weil das Gespräch Wolfgang zu sehr aufregen könnte.

      - Das ist schade. Die beiden müssten sich dringend einmal gründlich aussprechen.

      - Später, aber nicht jetzt, sagte Ingrid mit Bestimmtheit. Er ist noch zu schwach.

      - Ist vielleicht auch besser für beide. Jedenfalls hat Hinrich jetzt noch nicht das Format für die Nachfolge, meinte Julia.

      - Sie wollte Zeit gewinnen und den Dingen in Ihrer Entwicklung nicht vorgreifen: Vielleicht eines Tages. Man wird sehen. Ein Nachfolger oder Interimsmanager, wie auch immer, steht – soweit ich weiß – nicht zur Verfügung. Ich jedenfalls kenne niemanden.

      - Auch Ingrid wusste keinen Rat, jedenfalls hielt sie sich bedeckt: Man müsste einen externen Profi suchen, der an anderer Stelle gezeigt hat, dass er ähnlich schwierige Firmensituationen meistern kann.

      - Julia blickte aus dem Fenster. Vielleicht kennt Frau von Stephano jemanden. Die kennt doch tausend Leute in gehobenen Führungspositionen. Man müsste sie bei passender Gelegenheit fragen.

      - Ich traue ihr nicht so richtig. Sie ist herrschsüchtig und spielt sich schon jetzt