Irene Schlör

Geboren in der Ukraine


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ab.

      Volodja hingegen war sehr begabt, alles flog ihm zu, aber er hasste die Schule und die damit verbundene Arbeit. Er bekam seinerseits zum Abitur „nur“ die Silbermedaille.

      Nach Volodjas Tod war Serjoscha also das einzige Kind meiner Großeltern. Und ich war ihr einziges Enkelkind. Meine Großmutter überschüttete mich mit ihrer Liebe, die für zehn Enkelkinder gereicht hätte. Diese überschwängliche Liebe war für mich jedoch eine Last. Ich hatte manchmal das Gefühl zu ersticken.

      Meine Großeltern mütterlicherseits lebten bis zu ihrem Tode in Jusowka. Mein Großvater Iwan Iwanowitsch Borsenko war vor der Revolution Gutsverwalter und wohnte mit seiner zahlreichen Familie in einem großzügigen Anwesen mit Zier- und Gemüsegarten. Großvater hat oft Bücher gelesen. Er hatte ein umfangreiches Bücherregal, das immer voller wurde und fast überquoll. Später sollte ich bei meinen Besuchen dort zu meinem unsagbaren Vergnügen reichlich Zugang dazu bekommen.

      Großvater war ein leidenschaftlicher Jäger und ging fast an jedem Sonntag mit seinen Freunden auf die Jagd. Als meine Mutter klein war, hatte ihr Vater stets den einen oder andern Jagdhund, der ihm auf Kommando gehorchte, jedoch für die Anweisungen meiner Oma oder der Bediensteten kein Ohr hatte.

      Meine Oma Sabina Karlowna (Sabine Blondine Dorothee Lange) war zweimal verheiratet. Ihr erster Mann, der Vater meiner Tante Maria, starb sehr früh an Typhus. Aus der Heirat mit meinem Großvater gingen neun Kinder hervor, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichten: Konstantin, Jelena, Viktor und Sofia. Marusja übrigens wurde von Großvater genauso geliebt wie seine eigenen Kinder.

      Obwohl er selbst nicht lange zur Schule gegangen war, tat mein Großvater alles, um seinen Kindern eine umfassende Bildung zu ermöglichen. Seine Töchter studierten erfolgreich, aber die Söhne waren faul. Er zog deshalb seine Töchter den Söhnen vor, während seine Frau „ihre“ Söhne vor den Attacken des Vaters in Schutz nahm.

       Wer ist wer?

      Tatjana Sergejewna Witkowskaja S. Erzählerin

      Jelena Iwanowna Borsenko Witkowskaja Mutter der E.

      Sergej Nikolajewitsch Witkowsky Vater der E.

      Nikolaj Nikolajewitsch Witkowsky Großvater ♂ der E.

      Warwara Vladimirowna W. Großmutter ♂ d. E.

      Iwan Iwanowitsch Borsenko Großvater ♀ d. E.

      Sabina Karlowna Lange Borsenko Großmutter ♀ d. E.

      Wolodja Nikolajewitsch Witkowsky Onkel ♂ d. E.

      Familie Anajew Freunde der Familie

      Olga Petrowna Anajew Tochter der Anajews

      Familie Bosse Freunde d. Familie

      Olga und Georg (Jura) Bosse Jugendfreunde d. E.

      Walja Protassowa Schulfreundin d. E.

      Familie Safronow Freunde d. Familie

      Familie Dimitrijew Freunde d. Safronow

      Fam. Alexandrow Verwandte d. E.

      Fam. Iwanitzky Freunde v. S.W.

      Olga Iwanowna Reisebekanntschaft

      Peter Petrowitsch Lehrer in Sibirien

      Alik Glikin Mitschüler in S.

      Tatjana Melanina Lehrerin in S.

      Michail Benjaminowitsch Bogolepow Lehrer in S.

      Nata Mikhelman Schulfreundin

      Wolodja Radziwanowitsch Schwarm d. E.

      Geronimus (Nachname) Studienkollege d. E.

      Kolupajew (Nachname) Studienkollege d. E.

      Adolf Wagner Lebensretter d. Fam.

      Familie Schakow Mitreisende nach H.

      Familie Scharemko Mitreisende nach H.

      Lora und Vica Mitreisende n. Halle

      Ilse und Gisela Freundinnen in H.

      Dr. Leo Herwegen Chef in Halle

      Rachter (Nachname) Nazi in der Firma

      Nikolai Didenko Freund in N.-gartach

       Wappen der Familie Witkowsky

      Zlotogolenczyk, 14. Dezember 2017 (Quelle : Wikipedia)

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      Kapitel 2 Vorschulzeit (1922 – 1928)

      Als ich ein Jahr alt war, wurde mein Vater in die Tschulkowa-Zeche sechs Kilometer entfernt von Jusowka versetzt und dort lebten wir bis zum Sommer 1925. Dann zogen wir nach Charkow, woran ich noch lebhafte Erinnerungen habe. Von Tschulkowa weiß ich nicht mehr viel, doch an den Garten erinnere ich mich noch, Meine Mutter liebte Blumen und pflanzte und hegte sie, wo auch immer wir überall zuhause waren. In Tschulkowa machte sie um einen Baum herum kleines Blumenbeet extra für mich. Ich hatte eine kleine Gießkanne und goß meine Blumen selbst. Wir hatten auch eine Kuh, Olka, die von unserem Dienstmädchen Fekluscha gemolken wurde. Olka hatte ein richtig schwarzes Fell, deshalb wunderte mich jedesmal auf Neue, dass sie so weiße Milch gab.

      Zu jener Zeit entwickelte sich die Freundschaft unserer Familie mit den Ananjews. Peter Martinowitsch Ananjew war Bergbauingenieur und seine Frau Anna Andrejewna war ausgebildete Ärztin, die aber nach ihrer Heirat nicht berufstätig war, sondern nur noch für ihre Familie da. Ihre Tochter Oletschka, ein Jahr älter als ich, wurde eine meiner besten Freundinnen. Die Ananjews zogen nämlich ebenfalls nach Charkow, wo auch meine Großeltern väterlicherseits zuhause waren. Da wir eine Wohnung nicht weit von meinen Großeltern bezogen, sah ich sie fast jeden Tag.

      Natürlich war ich auch bei meiner Mutter. Sie liebte mich auf ihre Weise und bemühte sich, mich gemäß den Idealvorstellungen ihrer Zeit aufzuziehen: ein Mädchen hatte fleißig, brav und unerfahren zu sein. Sie versuchte alles von mir fernzuhalten, was nicht „anständig“ war.

      Später im Leben hat mir meine Unaufgeklärtheit sehr geschadet. Ich war meiner Mutter böse wegen dieser Erziehung, aber ich bin mir jetzt sicher, dass sie nur mein Bestes wollte. Sie konnte unmöglich voraussehen, wie sich mein Leben dramatisch verändern würde und wie sich überhaupt die ganze Welt mit ihren Wertvorstellungen radikal ändern würde.

       Als wir nach Charkow zogen, war ich erst dreieinhalb Jahre alt. Wir wohnten in einer kleinen Wohnsiedlung von fünf Häusern, die um einen Innenhof herum standen. Die Eltern meines Vaters wohnten in einem der anderen Häuser, so dass mich meine Großmutter jederzeit abholen und mich auch beim Spielen im Hof beaufsichtigen konnte. Im Hof spielten viele Kinder miteinander und meine Erinnerung konzentriert sich darauf, dass die älteren von „letztem Jahr“ und auch von „vorletztem Jahr“ sprachen, was ich noch nicht einordnen konnte. Nur „letztes Jahr“ war mir klar verständlich und ich ärgerte mich über meine anscheinend fehlende Orientierung.

      Doch ich sprach zu niemandem davon, denn ich bemerkte sehr bald, dass alles, was ich hauptsächlich meiner Großmutter erzählte, von ihr weitergetratscht wurde und stets mit allgemeinem Gelächter endete. Das verletzte mich.

      Die Großmutter sprach auch nicht immer die Wahrheit, während meine Eltern einander und auch mich nie anlogen. Damals beschloss ich, falls ich je eine Mutter sein würde, meine Kinder nie zu täuschen.

      Doch zurück zu meiner Vorschulzeit. Es war die Zeit des sogenannten „New Deal“, also ein neuer Anfang in der Handelswelt mit großzügigen Zugeständnissen, wie sie seit der Revolution nicht mehr dagewesen waren. Privater Handel sorgte schnell für einen besseren Lebensstandard und ein leichteres Auskommen.