Irene Schlör

Geboren in der Ukraine


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eben durch das Lesen der Abenteuer „Grischkas“.

      Denn dieses Mal sprach ich auch das „r“ perfekt aus.

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      ОКТОЛОВ БОЛбШУЮ ЛбДИНУ

      ГРИЩКА ПО МОРЮ ПЛЫЕТ

      ОбТОНЯЯ ПАРОХОД

      Es heißt allgemein, wer in Sprachen und Literatur begabt ist, ist auch musikalisch. Das trifft auf jeden Fall für mich nicht zu. Mein Vater sang sehr schön und spielte gut Klavier. Das hat mich nie begeistern können und ich lernte trotz vielen Übens nie gut Klavierspielen.

      Bevor ich in die Schule kam, hatte ich auch Privatunterricht in Deutsch. Der Lehrer kam zweimal die Woche zu uns und spielte mit mir „Schwarzer Peter“. Meine Deutschkenntnisse kamen mir später im Leben sehr gelegen.

      Meine Großeltern beaufsichtigten mich öfter und mein Großvater brachte mir, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, manchmal einen Bonbon oder einen Keks mit. Dabei sagte er jedes Mal: „Ich habe heute Hoka getroffen und sie hat mir das für dich gegeben“. Natürlich hatte er Hoka erfunden, aber als kleines Mädchen wusste ich das nicht und traute mich auch nie zu fragen, wer das denn sei. Ich traf sie auch nie auf der Straße und stellte sie mir schließlich wie einen riesigen Osterhasen vor.

      Von zwei anderen bleibenden Erinnerungen aus meiner frühen Kindheit muss ich unbedingt auch noch erzählen. Als ich vier war, gingen meine Eltern einmal abends aus und ließen mich mit dem Dienstmädchen alleine zurück. Ich hatte einen schlechten Traum, wachte auf und rief nach meiner Mutter. Das Mädchen beruhigte mich, indem sie mir erklärte, Mama und Papa seien bei den Großeltern und kämen bald wieder. Als ich dann, da ich genau wusste, dass die Großeltern ganz in der Nähe wohnten, bat, auch dorthin gehen zu dürfen, meinte sie:

      „Tanja, es ist jetzt dunkel draußen. Und im Dunkeln sind die Wölfe. Wenn du jetzt rausgehst, fressen dich die Wölfe.“

      Ich fürchtete mich entsetzlich und hörte auf mit der Bitte zu meiner Mutter gehen zu dürfen. Ich dachte nicht daran, dass die Wölfe auch meine Mutter fressen könnten, aber ich habe mich danach eine lange Zeit vor der Dunkelheit gefürchtet. Selbst als Erwachsene, wenn ich in ein dunkles Zimmer gehen sollte, von dem ich genau wusste, dass dort kein Wolf lauern konnte, stellte ich mir einen geöffneten Wolfsrachen mit seinen spitzen Zähnen vor.

      Die andere unvergessene Erinnerung ist meine Enttäuschung darüber, dass ich mit fünf Jahren noch nicht erwachsen war. Auf Russisch heißt es nämlich „vier Jahre alt“ jedoch „fünf Sommer alt“. An meinem fünften Geburtstag lag morgens ein Buch auf meinem Bett. Es hieß „Mischa im Blaubeerwald“. Ohne ihm die geringste Beachtung zu schenken, rannte ich zum Kleiderschrank mit dem Spiegel in der Tür und war erschüttert, dass ich immer noch das gleiche kleine Mädchen war wie am Abend zuvor.

      Kapitel 4 Schulzeit (1930 -1940)

      Zu jener Zeit kamen Kinder in der Sowjetunion erst mit acht Jahren in die Schule. Stichtag war der 1. September, wo auch alle Schulen im Land nach dem Sommerferien wieder begannen. Da ich im November geboren bin, war ich bei meiner Einschulung fast neun Jahre alt. Meine Eltern hatten nicht darauf geachtet, dass ich noch dazu für mein Alter recht groß war und fast alle Neunjährigen überragte. Ich wurde in meiner Klasse fürchterlich ausgelacht, doch ließ ich mir, glaube ich, nicht anmerken, wie sehr mich das verletzte.

      Als ich 1930 in die Schule kam, war das die Zeit, als Ukrainisch an Bedeutung gewann. Auf allen Amtsstuben musste man plötzlich Ukrainisch sprechen und alle Erwachsenen, die diese Sprache nicht genügend beherrschten, mussten sie in Abendklassen schleunigst nachlernen. Meine Eltern schickten mich in eine ukrainische Schule, damit ich die Sprache von Anfang an richtig beherrschte. Später im Leben wurde mir bewusst, was für eine ausgezeichnete Grundschullehrerin ich damals hatte. Es war eine Polin, sie hieß Franziska Bronislawna.

      Anfangs sprach sie Russisch, so wie wir alle untereinander und die meisten zuhause auch Russisch sprachen. Allmählich wechselte sie dann sachte immer mehr zum Ukrainischen über und Russisch wurde ein Fach für sich. Niemand in meiner Klasse fand es schwer, Ukrainisch zu lernen. Da es damals Pflicht war, seinen Kindern Lesen und Schreiben beizubringen, bevor sie eingeschult wurden, fiel es uns auch leicht, die paar unterschiedlichen ukrainischen Schriftzeichen dazuzulernen. Wir alle machten im ukrainischen Diktat weniger Fehler als im Russischen, denn im Ukrainischen wird alles so geschrieben, wie es ausgesprochen wird. Außerdem war uns diese Sprache nicht ganz fremd, denn wir hatten sie seit unserer frühen Kindheit im Ohr, da wir sie in Dörfern und auf Märkten gehört hatten.

      Am ersten Schultag fragte die Klassenlehrerin, wer denn schon ein Gedicht aufsagen könne. Ich meldete mich und begann „Das Luftschiff“ von Lermontow zu rezitieren. Die Lehrerin schnitt mir jedoch das Wort ab und meinte: „Dieses Gedicht ist unpassend.“ Dann nahm sie eine andere Schülerin dran, die ihr Wohlwollen mit „Der Soldat der Roten Armee auf seinem Wachtposten“ errang.

Grafik 6

       Abbildung Tatjana Sergejewna Witkowskaya 1932

      Vor meiner Schulzeit war ich fast nie krank gewesen. Zweimal jedoch erwischte es mich, ich hatte Masern und Lungenentzündung. Da es noch keine Antibiotika gab, verliefen diese Krankheiten sehr intensiv. Bei meiner Masernerkrankung hatte ich entzündete Augen und musste tagelang in einem abgedunkelten Raum verweilen. Mein hohes Fieber bereitete mir Albträume, ich sah die rotglühenden Kohlen eines Ofens, die immer näher kamen und denen ich scheinbar nicht ausweichen konnte.

      In der Schule wurden wir jedes Jahr gegen Diphterie und Pocken geimpft, nicht jedoch gegen Mumps, Scharlach und Röteln. Diese Krankheiten bekamen wir dann auch prompt. Im zweiten Schuljahr, als ich zehn war, bekam ich Scharlach und wurde im Krankenhaus wochenlang interniert. Meine Eltern hatten keinen guten Draht zu den Behörden, also durften sie mich nicht privat zu Hause pflegen, wie ich es von einigen meiner Klassenkameraden gehört hatte. Alle Scharlach-Kinder lagen in einem großen Zimmer, diejenigen unter zwei hatten auch ihre Mütter bei sich. Bei allen wurden die Haare so kurz wie möglich direkt am Kopf abgeknipst, um die Verbreitung von Läusen zu verhindern. Ein junges Mädchen mit wundervollem langem kastanienbraunem Haar weinte bei dieser Prozedur bitterlich.

      Besucher durften das Zimmer nicht betreten, auch Eltern nicht. Sie konnten uns durch ein Fenster sehen und Päckchen für uns abgeben. Ich bekam so viele Süßigkeiten, dass ich den anderen Kindern reichlich davon abgeben konnte. Bücher und Spielzeug durfte man auch bekommen, diese mussten allerdings dann für immer im Krankenhaus zurückbleiben.

      Eines Morgens wachte ich auf und sah eine Ratte auf meinem Kopfkissen sitzen. Sie kratzte sich gerade mit ihrer Pfote die Nase. Entsetzt schrie ich auf und wurde prompt geschimpft, weil ich ein Aufhebens gemacht und die anderen geweckt hätte. Die Ratte war längst davongehuscht.

      Meine erste Begegnung mit dem Tod hatte ich auch in diesem Krankenzimmer. Die Mutter des toten kleinen Kindes weinte und schrie abwechselnd. Ein anderes Schreckerlebnis dort war ein Feuer, bei dem wir evakuiert werden sollten und die Feuerwehr das in letzter Minute durch Löschen des Brandes verhindert hatte.

      Meine erste Schulfreundin hieß Walja Protassowa. Ihr Vater war Briefträger und ihre Mutter drehte für eine Zigarettenfabrik in Heimarbeit Zigarren. Neidische Nachbarn zeigten sie schließlich an. Auch noch eine unverheiratete Tante lebte mit der Familie in dem einen Zimmer mit Küche, das sie bewohnten. Walja erzählte mir, dass ihre Eltern eigentlich ihre Großeltern seien. Sie wuchs bei ihnen auf, weil ihre Mutter starb, als sie erst vier Jahre alt war. Später erfuhr ich unter der Hand, dass Walja ein uneheliches Kind sei. Mir war es vorher schon so vorgekommen, als litte Walja insgeheim unter einer verborgenen Last. Sie war launisch und führte gern das große Wort. Zuerst gehorchte ich ihr, dann stritten wir uns manchmal. Nach jedem