Eva Link-Nagel

Auf der Suche nach dem Ich


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die Langzeiterinnerung ist im kortikalen Bereich gelagert. Der Hypocampus kann durch die vom Trauma ausgelösten Stresshormone so geschädigt werden, dass Erinnerungslücken verursacht werden.

      Neuere Untersuchungen von Christine Heim an der Charité beweisen strukturelle Veränderungen in der Hirnstruktur bei in der Kindheit und Jugend missbrauchten Frauen. In einigen Hirnregionen ist die Hirnrinde um ein Drittel bis ein Viertel dünner als bei den gesunden Vergleichspersonen. Diese Veränderung ist im somatosensorischen Bereich der Hirnrinde zu finden, wo die Wahrnehmung von Körperempfindungen reguliert wird.

      Gewalt führt zur Persönlichkeitsverletzung, zur Veränderung des Selbstwertgefühles und kann zur wesentlichen Schädigung der Persönlichkeit führen, mit schweren Beziehungsproblemen mit Partnern und im sexuellen Bereich.

      Ein Angriff auf den Körper eines Individuums im Intimbereich ist ein Angriff nicht nur auf seine materielle Substanz, es ist ein Angriff auf die Persönlichkeit, die man durch diesen Akt in Besitz nimmt, entmachtet und zerstört. Dieser Akt zerstört auch Hirnsubstanz materiell und zerstört das Immaterielle, das Ich-Gefühl, die Identität.

      Susanne Link hatte für den Titel ihrer Gedichte „Auf der Suche“ gewählt. Eines ihrer Gedichte hat den Titel „Auf der Suche nach dem verlorenen Ich“. Im Tagebuch von 1999 schreibt sie darüber, wie das verlorene Ich zu Negativismus, zum Hang für Irreales führt – weil man die Realität nicht ertragen kann. Es ist nicht nur die Angst des Mandelkerns, die ihr Schaffens- und Lebensgefühl überschattet, es ist auch die Identitätssuche, die Trauer nach der verlorenen Identität. In diesem Buch sind Auszüge von fast unübersichtlichen Material, die dazu dienen, ihre Krankheit, ihren Charakter, ihre Reaktion auf die Erkrankung besser zu verstehen, und ihre Gedichte, die sicherlich in der deutschen Literatur Platz haben werden. Sie zeigen die Entwicklung auf vom zerstörten, traumatisierten, pubertären Mädchen zur kranken kritischen Erwachsenen, die ihre Identität sucht.

      Wegen der Komplexität des Materials, um Übersicht zu gewinnen, muss ich die Geschehnisse und Materialbereiche in Kapitel aufteilen, wo ich parallel mit ihren Gedichten und Aufzeichnungen, die faktischen Ereignisse beschreibe.

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      Der Geburtsort des Mädchens war Bratislava (Preßburg) in der Slowakei, in einer jüdischen Ärztefamilie, Überlebende des Holocaust.

      Sie war ein braves Kind, oft meinte ich, sie sei zu brav. Schon als Baby wollte sie alles allein machen, ohne Hilfe. Sie war das zweite Kind, der Bruder fünf Jahre älter. Weil Hausmädchen und meine Schwiegermutter nur ungarisch sprachen, holten wir Tante Rosenzweig. Die Tante war klein wie ein Kind und zerbrechlich und hatte eine große Tasche voll mit winzigen Puppen. Sie sollte Laci, Susannes Bruder, Deutsch beibringen. Das Mädchen, fast noch im Babyalter, wollte mitspielen und sie wurde nicht weggejagt. Am Hof lernte sie von den anderen Kindern slowakisch, so hatte sie auch später mit Sprachen und dem Lernen keine Schwierigkeiten. Ihr Streben war perfekt zu sein und durch Leistung Lob und zusätzliche Liebe zu erhalten. Motivation gab auch der Wettbewerb mit dem Bruder.

      In der Kindheit hatte sie zwei angsterregende Erlebnisse: Ein Fremder wollte sie vom Spielplatz weglocken und in einen Keller zerren. Sie schrie so laut, dass er sie los lies und sie konnte fliehen. Jahre später, als wir in der Schweiz wohnten, erwachten wir von einem furchterregenden Angstschrei. Mein Mann stand auf, eilte ins Kinderzimmer und stieß von dort eine wankende Gestalt durch die Wohnungstür, die nie abgeschlossen war, ins Treppenhaus. Ein schwedischer Student, der die Gelegenheit nutzte, sich in der Schweiz volllaufen zu lassen, verwechselte die Wohnungstür und landete im Kinderzimmer.

      Diese zwei beängstigenden Ereignisse hatten keine negative Wirkung auf ihr Verhalten. Susanne hatte ein ruhiges ausgeglichenes Wesen, diszipliniert, ohne Hektik. Mit vierzehn Jahren fuhr sie allein nach Israel, und als sie die auf sie wartenden Verwandten verpasste, konnte sie die Situation lösen. Sie schien damals keine Angst zu haben, oder konnte die Angst verarbeiten und beherrschen. Ihre Motivation war, einerseits den älteren Bruder, der auch Vorbild war, zu überholen, ein gewisser Kampf um Anerkennung spielte mit. Sie lernte mit einer Leichtigkeit und Präzision, mit Sprachen hatte sie nie Probleme. Wohin uns unser Lebensweg führte, nach Israel, in die Schweiz oder Deutschland, mit wechselnden Sprachen und Lernstoff wurde sie spielend fertig.

      Sie war überall beliebt, besonders bei Kindern, immer ausgeglichen und lieb. Mit zwölf Jahren beherrschte sie sechs Sprachen. Deutschland war das vierte Land nach der Slowakei, Israel und der Schweiz, wo sie in die Schule ging. Deutschland kurz nach achtundsechzig bot eine andere Qualität als die mehr konservativen anderen Länder. Sie war mit fünfzehn Jahren die jüngste in ihrer Klasse. Sie hatte in fast jedem Land, so auch in Deutschland, eine Klasse übersprungen. Sie wollte Mitglied bei den Falken sein, aber nach kurzer Zeit hörte sie dort auf. Im Sommer nach dem Abitur wurden ihre Zähne mit Spange reguliert, und der Zahnarzt hatte mit einer neuen Mischung von Amalgam die Löcher saniert. Es waren ungefähr vierzehn bis sechszehn Zähne, die so behandelt wurden. Als sie mit sechzehn Jahren etwas zu spät die Periode bekam, hörte sie auf zu wachsen, bei einer Größe von 172 Zentimetern. Emotionell blieb sie aber noch lange in der Pubertät.

      Nach dem Abitur war sie mit siebzehn Jahren in die Studienstiftung aufgenommen worden. In dieser Zeit begann sie zu schreiben. Die Kinder und der Vater waren durch ihren Sinn für Humor verbunden: Die Kuckucksuhr, die ja dreidimensional ist, symbolisiert die gelangweilte, resignierte Susanne, die von anderen Dimensionen träumt. In dieser Zeit fängt sie an ein Tagebuch zu führen, die Eintragungen sind etwas kindisch.

      Sie kam als 18-jährige in den Universitätsbetrieb in Ulm und damit traten die ersten Auseinandersetzungen auf. Sie wollte in eine Wohngemeinschaft, aber die ganze Familie war dagegen. Die Frage damals war, entweder Wohngemeinschaft oder Familie. Am Ende stand ein Kompromiss: Während des Tages war sie in der Wohngemeinschaft, aber sie schlief zu Hause. Aus dieser Zeit sind die folgenden Gedichte.

       Eindimensional

      Ein Strich

      Durchzieht sein holzfreies Papier

      Von links unten nach rechts oben.

      Die elektrisch betriebene Kuckucksuhr

      Überwindet schweigend

      Die Steigung gleich tangens alfa

      Und verharrt in der rechten oberen Ecke.

      Es ist so still, als müsste etwas kommen.

      Die Kuckucksuhr wartet,

      Resigniert - gelangweilt,

      Immer noch,

      Obwohl sie die Hoffnung

      Auf eine zweite Dimension

      In diesem Gedicht

      Bereits aufgegeben hatte.

      Willenlos stereotyp ihre Pflicht erfüllend

      Vergisst sie alsbald das Ganze:

      „Kuckuck – Kuckuck“

      Du hörst aber es ist halb-

      Und fragst dich:

      Wozu eigentlich über diesen Strich brüten?

      Jetzt aber endgültig Schluss damit.

       Trotz

      Da, wo ich

      Hergestellt wurde,

      Hat man mich

      Mit einem Stempel versehen,

      Auf dem war zu lesen:

      „Bei Nichtgefallen zurück“

      Darum braucht man mir nur

      Das rosa Schleifchen abzustreifen,

      Mich nur auspacken,

      Ausprobieren,

      Auszuspucken,