Eva Link-Nagel

Auf der Suche nach dem Ich


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Dadurch, dass der Schuljahresbeginn in der Schweiz im Frühjahr stattfindet, gewann ich ein halbes Jahr, und dank des Nachhilfeunterrichts in Mathematik konnte ich schnell Anschluss finden und die deutsche Sprache bereitete mir keine großen Schwierigkeiten.

      Ich erlebte die Schweiz so, wie Max Frisch sie in seinem Buch „Wilhelm Tell für die Schule“ beschrieben hatte: als verschneit und demokratisch. Überall begegnete ich der Schweizer Fahne als dem Symbol des Nationalstolzes. Die Schweizer erlebte ich schon sehr als selbstbewusstes Völkchen. Als Ausländerin, als Fremde, bekam ich das sehr oft zu spüren, und ich war dafür auch sensibilisiert, denn schon an unserem ersten Tage in der Schweiz bezeichnete mein Vater die Schweizer als xenophob, ein Fremdwort, dass ich wohlweislich für mich behielt. Aber allenthalben war die Rede von Überfremdung, von der Schwarzenbach-Initiative, einem Versuch, per Plebiszit die Zahl der „Fremdarbeiter“ (nur in Deutschland sagt man „Gastarbeiter“ dazu) einzuschränken. Diese Initiative ist gescheitert, und als nächsten Fortschritt führte die Schweiz das Frauenwahlrecht ein. Von der heutigen Perspektive aus unglaublich, dass die Schweiz vor 30 Jahren noch so rückständig war.

      Wenn ich die Schweiz heute betrachte, ich wohne jetzt in Frankreich nahe der Schweizer Grenze bei Genf, so habe ich ein viel moderneres Bild. In der Schweiz meiner Kindheit war ein gewisser Liberalismus auf Seiten der jungen 68iger zu sehen, aber ich war zu wohlerzogen und auch zu jung, um mich ihnen anzuschließen. Ich erinnere mich nur an Schlagworte wie „Manipulation“ und „Establishment“, die ich nicht verstand oder zumindest nicht nachvollziehen konnte. Später, als wir dann nach Deutschland kamen, las ich das Buch über Summerhill, sozusagen das Standardwerk über die antiautoritäre Erziehung. Dieses Buch hatte ich bei meinem Großvater gefunden. Inzwischen war nämlich er mit meiner Großmutter mütterlicherseits und dessen Schwester dank des „Prager Frühlings“ nach Deutschland gekommen.

      Mein Großvater interessierte sich für alles: Bei ihm fand sich das „Schwarzbuch Franz-Josef Strauss“ genauso wie ein Buch mit dem Titel „Wer ist Jude?“. Ihn interessierte also die Meinungsbildung. Während ich in meiner Schweizer Zeit fleißig die öffentliche Bibliothek besuchte, um Kinderbücher zu lesen, samstags in die jüdische Jugendgruppe ging und Mitglied im Wasserspringer Club war, ging ich in Deutschland in die öffentliche Bibliothek nur um der Sachbücher Willen, mit dem Wasserspringen war nichts mehr und eine jüdische Jugendgruppe gab es da, wo wir wohnten, nicht.

      Die Sachbücher las ich nicht so sehr, weil sie mich interessierten, sondern, um mich damit interessant zu machen. Symptomatisch dafür war, dass um mein Bett herum immer fünf bis sechs offene Bücher herumlagen, die ich in der Regel nicht zu Ende las, weil ich befürchtete, von ihnen enttäuscht zu werden. Ich hatte mir Vorurteile gebildet darüber, was ich lesen wollte, und wenn das Gelesene meinen Vorurteilen nicht entsprach, ließ ich es fallen. Auch wohnten wir in Deutschland zum ersten Mal seit fünf Jahren nicht mehr möbliert. Und ich hatte den Ehrgeiz, meine Bücherregale mit eigenen Büchern anzufüllen. So trat ich dem “Deutschen Bücherbund” bei, der mich verpflichtete, alle drei Monate mindestens ein Buch zu kaufen oder vielleicht sogar mehrere.

      Seit wir in Deutschland wohnten, war mein Bruder nicht mehr in der Familie. Er ging auf Wunsch meiner Eltern zum Militärdienst nach Israel. Mir ging dadurch eine Kontrollinstanz verloren, denn mein Bruder war ein großer Kritiker meines Tuns und Lassens gewesen.

      So ging ich denn ins 20 Kilometer entfernte Gymnasium, machte die Hausaufgaben noch vor der Heimfahrt während der Wartezeit auf den Bus und verbrachte die Nachmittage allein zuhause mit Illustrierten und sonstiger oberflächlicher Lektüre. Abends saß ich dann vor dem Fernseher. Ich nahm auch Privatunterricht in Englisch, bei einer Engländerin. Einmal hatte mir ihr Mann, der Bridge-Partner meines Vaters, seine Gitarre geliehen, nachdem er mir einige elementare Griffe beigebracht hatte. Die Gitarre war ein exzellenter Freizeitfüller. Ich war Autodidakt. So begann meine Karriere als Komponistin und Gedichte-Schreiberin, aber dazu später mehr.

      Während meiner Zeit auf dem Gymnasium ereilte meinen Bruder, der in Israel im Militärdienst war, der Jom-Kippur-Krieg. Er war im Sanitätsdienst und am ersten Abend des Krieges meinten meine Eltern, ihn in den Nachrichten gesehen zu haben, wie er einen Verletzten versorgte. Am darauffolgenden Tag brach ich mitten im Unterricht in Tränen aus und erklärte vor der ganzen Klasse, dass ich Angst um meinen Bruder hatte. Der Lehrer zeigte Verständnis für mich. Das hat mich zwar getröstet, aber Gewissheit darüber, dass mein Bruder wohlbehalten zurückkehren würde, konnte mir der Lehrer nicht geben. Mag es ihm zur Ehre gereichen, dass er mich nicht in einer falschen Sicherheit wiegen wollte. So blieb nur das Beten.

      Glücklicherweise ist meinem Bruder während des Krieges nichts passiert. Als er zurückkam, machte er auf mich den Eindruck eines Erwachsenen. Er riet mir dringend davon ab, in den Militärdienst gehen zu wollen, das sei nichts für mich. Er wirkte auch auf unsere Eltern ein, dass sie mich davon abhielten. Es gehörte zwar zu meiner Lebensplanung, nach dem Abitur nach Israel zu gehen, aber das war wohl mein Schicksal, seit wir nach Deutschland gekommen waren, einer größeren Freiheit ausgesetzt zu sein als je zuvor.

      Schon mein Erster Schultag in Deutschland war von diesem Geist gezeichnet gewesen: Als der Klassenlehrer und ich das Schulzimmer betraten, lagen die Schüler auf den Tischen herum und machten nicht die geringsten Anstalten, sich beim Eintreten des Lehrers zu erheben oder zumindest die Plätze einzunehmen. An sich war ich immer ein braves Kind gewesen, aber vom Geist der Freiheit (oder war es nur Disziplinlosigkeit?) wurde ich auch erfasst. Als dann nach beendigtem Militärdienst mein Bruder zu uns kam (ich war zu der Zeit schon im ersten Semester), kam ich eines Abends zu spät nach Hause. Mein Bruder erwartete mich schon auf der Straße vor dem Haus, und als er mich erblickte, fragte er mich, ob ich mir denn nicht vorstellen könnte, dass meine Eltern sich um mich Sorgen machten und ob ich nicht zumindest hätte anrufen können. Der Aspekt, dass meine Eltern sich sorgten, hat mich überrascht. Dass ich meinerseits Verantwortung trug für die, die für mich Verantwortung trugen, ging mir offenbar nicht ein.

      Noch bevor ich Studentin wurde, habe ich meine Praktikantenzeit begonnen und musste als erstes lernen, wie wichtig das akkurate Einsortieren der Bettwäsche in die dafür vorgesehenen Schränke sei. In den Krankenhausalltag wurde ich von einer drakonischen Oberschwester eingeführt, welche sich in ihrem Temperament unangenehm von den eher fröhlichen und immer zu Späßen aufgelegten Ärzten abhob. Diese saßen etwas, was man nicht an allen Krankenhäusern sieht, mit den Schwestern zusammen zu den Mahlzeiten in der Küche. Ansonsten hatte ich mit den Ärzten nicht allzu viel Kontakt. Ich erlernte das Katheterisieren der weiblichen Blase, das Bettenmachen, das Bettenwaschen und alle Verrichtungen, die der Tagesablauf vorschrieb.

      Das Ganze betrachtete ich eher als sportliche Herausforderung, wie ich auch das Studium als Herausforderung und Aussicht auf jede Menge Spaß betrachtete. Mir war es noch nicht darum zu tun, in verantwortlicher Weise Menschenleben verlängern zu wollen oder Krankheiten zu heilen; die medizinische Kunst war für mich vielmehr ein Geschicklichkeitsspiel, bei dem ich dabei sein wollte und außerdem hatte ich eine beachtliche Portion Neugier, den menschlichen Körper betreffend und seine Dysfunktionen.

      Kompetent sein zu wollen war noch nicht so sehr mein Anliegen, vielmehr genoss ich es, überall Zaungast sein zu dürfen und wollte erst mal alles sehen, was es zu sehen gab. Die Krankenhaus-Atmosphäre mit ihrer Geschäftigkeit und auch Fremdartigkeit war für mich eine große neue Welt, die ich erst einmal kennen lernen wollte, ohne Berührungsängste. Als Papas Liebling hatte ich auch keine Scheu, mit wichtigen Persönlichkeiten zu reden, vor allem, weil ich mir erlauben konnte, selber Fragen zu stellen oder einfach dumm zu sein.

      Ich war nicht nur ehrgeizige Studentin gewesen - allerdings ohne den Ehrgeiz auf den Lernstoff auszudehnen - ich meine, der Status des Student seins war für mich voller Klischees von Aktivismus, Engagement und Progressivität, denen ich gerecht werden wollte. Ich schlief wenig, nicht zuletzt deswegen, weil ich Nachtwachen im Krankenhaus übernahm; dafür erhielt man hundert Mark. Morgens kam ich dann völlig erschöpft nach Hause. Ich wohnte noch bei meinen Eltern, schlief dann bis zwei Uhr nachmittags. In meinem Zimmer herrschte ständig Unordnung Ich weiß gar nicht, wie damals der Kontakt zu meinen Eltern war. Ich erinnere mich nur, dass es auch zu meinem Ehrgeiz gehörte, von zu Hause ausziehen zu wollen.

      Ich hatte so viele verschiedene Menschen kennengelernt,