Eva Link-Nagel

Auf der Suche nach dem Ich


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ich bin dir böse, - du mir auch, wie du sagtest.)

      An einem Frühlingsabend im Jahre 1975, Susanne war im zweiten Semester, kam sie von einem Ausflug mit leichtem Temperaturanstieg, erschöpft und depressiv nach Hause und weinte. Mein Mann und ich machten uns Sorgen, weil das ungewöhnlich war und meinten, ein Wechsel der Umgebung wäre das Richtige und beschlossen mit ihr an die Riviera, wo meine Tante eine Wohnung besaß, zu fahren. Wir riefen die Tante an und vereinbarten, dass sie aus Köln zu uns kommt und am Wochenende wollten wir gemeinsam starten.

      Susannes Garderobe bestand im Geist der Zeit nur aus abgetragenen Jeans, es war nötig, ihr “anständige” Kleider zu kaufen. Am nächsten Morgen, es war ein Freitag fuhren wir zusammen in die Klinik, in der Hoffnung, dass einer meiner Kollegen mich für die Zeit der Einkäufe, vertreten wird. Wir wollten schon am Nachmittag starten, aber es kam so, dass keiner der Kollegen sich freimachen konnte.

      Ich hatte eine Mitarbeiterin, Frau N. Sie war geschieden, hattet einen zweijähriges Kind. Sie sprach über ihre konservative Mutter mit unverständlichem Hass. Sie war nicht sehr vertrauenswürdig. Sie bat mich einmal, ihr Weckamine zu verschreiben, was ich ablehnte. Sie war mit einem unheimlichen Typ befreundet, einem Hilfsarbeiter des Krankenhauses.

      An dem besagten Morgen erzählte sie, dass ihr geschiedener Mann sie an diesem Tag besuchen würde. Als sie von unserem Problem hörte, bot sie sich an, mit Susanne die Einkäufe zu erledigen und ich hatte leider keine Einwände. Kurze Zeit danach kam ich von der Dialyse in das Laboratorium. Die Laborantinnen saßen wie üblich beim Kaffee, auch Susanne trank mit ihnen. Ungewöhnlich war aber, dass der Freund von Frau N. am Kaffeetisch neben Susanne saß.

      Als ich nach der Arbeit nach Hause fuhr, in der Hoffnung, meine Tochter zu Hause zu treffen, war sie nicht da. Das Telefon läutete, es war ein kurzer Anruf von ihr. Sie sagte, sie käme nie wieder nach Hause und legte auf.

      Es folgten schreckliche zwei Tage. Wir standen unzählige Male vor der Wohnung von Frau N. und niemand öffnete und niemand konnte uns über sie Auskunft geben. Die Polizei verweigerte die Hilfe, sie sagten, meine Tochter sei volljährig. So verging mit verzweifelter Suche die Nacht vom Freitag, danach der Samstag.

      Am Sonntagnachmittag tauchte meine Tochter auf, sie war schwer psychotisch. Sie sprach ununterbrochen und schnell, verworren und unverständlich. Zu der Tante sagte sie, sie sei eine Ente, aber ich hörte aus dem Wortsalat auch Wörter, wie ´schwarzes Loch´ oder ´da war nur Schweiß´.

      Wir fuhren in die Schweiz, wo unser Jugendfreund Ivan Major, mit dem wir gleichzeitig nach Israel geflüchtet waren, jetzt Oberarzt an der Psychiatrie bei Professor Pöldinger in Wiel war. Er hat Susanne mit Psychopharmaka beruhigt. Ivan gehörte praktisch zur Familie, in Israel wohnten wir nebenan. Seine zwei Töchter waren Susannes beste Freundinnen. Sie war dort praktisch den ganzen Tag über bei ihnen und deshalb gab man ihr den Spitznamen Shoshanna Link-Major. Ivan versuchte herauszufinden, wo sie gewesen und was geschehen war. Sie gestand, dass sie die ganze Zeit bei der Frau N. gewesen war. Aber da geschah nichts, sie erinnerte sich nur, dass sie Alkohol bekommen hatte. Dass was sie erzählt hat, glaubte man ihr, ich aber hatte mächtige Zweifel. Ivan verschrieb ihr Neuroleptika, durch diese Therapie normalisierte sich die Situation.

      Wir wollten sie nach Deutschland zurückbringen und im Krankenhaus untersuchen lassen. Meine Freundin Judith Major meinte: “Jede Mutter, die ein psychisch krankes Kind hat, hofft, dass die Krankheit eine organische Ursache hat.“

      Im Krankenhaus fand man außer hoher Eosinophilenzahl, was auf Stress und allergisches Geschehen deutete, keinen anderen Befund. Der Chefarzt Professor Thure von Uexkuel, ein berühmter Psychosomatiker, äußerte Verdacht auf Rauschgift. Sie berichtete ihm über plastische optische Erlebnisse und psychischen Zuständen, die in der Straßenbahn auf der Fahrt zum Einkauf aufgetreten waren. Das wies auf damals modische Halluzinogene hin. Da sie psychisch auffällig war, überwies sie der Neurologe des Krankenhauses an die Psychiatrie nach Weissenau in Baden-Württemberg.

      Bevor wir nach Weissenau fuhren wollte ich die nagelneuen Jeans, die sie gekauft hatten, waschen und Susi zeigte mir eine Telefonnummer, die mit Tintenschreiber am unteren Rand des Hosenbeines geschrieben stand. Sie erzählte, bevor Frau N. sie nach Hause gehen ließ, befahl sie ihr: “Du erzählst nicht, wo Du warst und wenn was los ist, rufst du diese Nummer an.” Die Vorwahl war von Senden bei Ulm und es war nicht schwer zu identifizieren, es war die Telefonnummer des Freundes.

      Im Unispital vermutete die Gerüchteküche offensichtlich etliches, denn eines Tages tauchte der unheimliche Freund der Frau N.in der Dialyse auf und bedrohte mich vor Patienten und Personal wegen angeblichen Beschuldigungen, die ich verbreite. Ich musste mich wehren und fragte ihn, wie seine Telefonnummer in die Jeans von Susanne gelangt ist, wo mit Tinte „für den Notfall“ aufgeschrieben war. Er verschwand wie ein geschlagener Hund.

      In Weissenau besuchte ich sie täglich nach der Arbeit. Es war nötig, dass sie erneut Boden fassen konnte. Später sagte der behandelnde Assistenzarzt: „Wer solche Eltern hat, kann nicht ins Bodenlose sinken“. Vor der Entlassung aus Weissenau teilte mir der Chefarzt dagegen mit, dass Susanne an juvenile Schizophrenie leide, die in 75% der Fälle nicht heilbar ist. Er schrieb mir die Rolle einer schizophrenogener Mutter in der Entwicklung der Krankheit zu.

      Nach dieser Besprechung war ich entschlossen, meine Tochter unter keinen Umständen in einer Psychiatrie stationär behandeln zu lassen. Mein Verdacht einer möglichen Vergewaltigung wurde mit der Behauptung, es seien die sexuellen Vorstellungen der Mutter, abgetan. Damals war die Symptomatik von hunderter vergewaltigter Kinder noch nicht bekannt. Man hätte nur Susannes Zettel, die sie mit grüner Tinte geschrieben hatte, lesen sollen. Ich fand diese leider zu spät, da war sie schon tot. Auf den folgenden Seiten können Sie Susannes Erinnerungen an diese Zeit lesen.

      Trauma 1975 (Erster Teil der Lebensgeschichte 1998 von Susanne geschrieben)

      Ich vermisse jene ruhige Gelassenheit, mit der ich Rechenschaft ablegen könnte über meine Jugend. Wohl weiß ich, dass eine Zukunft ohne eine Vergangenheit nicht existiert, aber in meinem Leben waren so viele Einschnitte und auch Neuanfänge, war so ein Mangel an Kontinuität von Kindheit an, dass das eine wirklich schwierige Aufgabe ist.

      Bis ich neun Jahre alt war, lebten wir in der Tschechoslowakei, eine vierköpfige Familie jüdischen Glaubens. Wir litten ziemlich unter dem Antisemitismus um uns herum. Auf der sozialen Ansehensskala waren wir ziemlich weit unten. Vor allem war das für mich und für meinen Bruder der Fall. Ich hatte kaum Freundinnen. In der Schule war ich zwar recht erfolgreich, aber dennoch stufte ich mein Leben dort als trostlos ein. Ich glaube, es war für mich das höchste der Gefühle, gelobt zu werden. Damit aber ging eher eine passive Haltung einher. Ich selber war eher unbeweglich, wusste nicht, dass ich mich wehren kann und eine häufige Angstvorstellung war, hilflos einer Übermacht ausgeliefert zu sein. Ich fühlte mich auf einer Ebene anders, was von meinen Mitmenschen nicht wahrgenommen wurde, es war eine Ebene aus Angst.

      Als wir 1966 illegal nach Israel ausgewandert waren, weinte ich der Tschechoslowakei keine Träne nach. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich akzeptiert, so, wie ich war, und das war ein äußerst wohltuendes Erlebnis. In Israel hatte ich auch eine „beste Freundin“ und ich wäre gern bis an mein Lebensende dortgeblieben. Aber berufliche Gründe zwangen meinen Vater, Israel zu verlassen. Wir sind in die Schweiz ausgewandert.

      An einem trüben Novembertag trafen wir in Bern ein. Unser Vater erwartete uns mit Pommes-Chips und Hähnchen und ich war angenehm überrascht, wie gut sich mein Vater als Hausmann machte. Er hatte eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Essecke gemietet und konnte sich auch ein Auto leisten, einen VW Käfer. Das eine große Zimmer war das Schlafzimmer meiner Eltern, in dem anderen schlief ich und meine Großmutter väterlicherseits, die ebenfalls mit uns nach Israel ausgewandert war. Auch in Israel hatte ich ein Zimmer mit ihr geteilt.

      Da meine beiden Eltern berufstätig waren, übernahm sie den Haushalt. Sie war energisch und sparsam und sehr stolz auf ihre ungarische Küche. Kontaktfreudig wie sie war, hatte sie es immer leicht, Freundinnen zu finden, auch aufgrund ihrer Hobbies: Tennis und Töpfern, eigentlich Keramik, denn am liebsten modellierte sie kleine Statuen und Vasen.

      Unser