Else Ury

Nesthäkchen und ihre Enkel


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verstehen? Es hatte so verständnislose Augen gemacht. Ein Kind der Tropen war es sicher nicht. Aber in welcher Sprache versuchte sie es?

      »Warum weinen du, Kind?« Die deutschen Laute, auf welche Marietta die Liebe für ihre Mutter übertrug, kamen ihr ganz von selbst auf die Lippen. Im Gegensatz zu Anita, die stets dagegen Front machte. Das Kind hob jäh den Kopf. Aus den verweinten Blauaugen kam ein Lächeln. »Ich habe Hunger, und Mutter ist krank«, sagte es in deutscher Sprache.

      »Armes Kind!« Zum erstenmal begegnete dem reichen, im Luxus aufgewachsenen Mädchen jemand, der Hunger litt. Hatte sie denn gar nichts, denselben zu stillen? Entsetzlich mußte es sein, hungern zu müssen.

      Das junge Mädchen griff in die Tasche des Reitkleides. Da – das Stück Schokolade, das sie stets beim Ausreiten bei sich trug, würde den Hunger stillen.

      Das Kind verschlang die Süßigkeit gierig.

      »Nun du nicht hast Hunger mehr?« erkundigte sich Marietta freundlich.

      »Mächtigen Hunger«, dabei blieb das Kind. »Ich habe heute nur zwei Bananen gegessen.«

      »Kochen ihr keine schwarzen Bohnen?« Das war das Nationalessen, das auch auf dem ärmsten Tische nicht fehlte.

      »Mutter ist krank, Mutter kann nicht kochen.«

      »Aber dein Vater oder die Großmutter, sorgen sie nicht für dich?«

      »Vater ist tot, und Großmutter ist weit weg. Über dem großen Wasser in Deutschland. Da ist's schön, sagt Mutter. Da hat sie in einem richtigen Haus gewohnt und ein Bett gehabt wie die reichen Leute.«

      »Und hier ihr haben kein Bett?« fragte Marietta leise. Das Elend war dem verwöhnten Mädchen noch nie so kraß entgegengetreten. Es griff ihr ans Herz.

      »Bloß ein Lager auf der Erde aus Gras und Blättern. Mutter sagt, wenn Vater noch lebte, würde sie gern alles ertragen. Aber Vater ist ja nun tot. Und Mutter wird auch bald sterben.« Das Kind sprach dieses Furchtbare mit einer gleichgültigen Selbstverständlichkeit aus.

      »Oh, nicht sagen so Trauriges!« Entsetzt blickte Marietta auf das kleine Mädchen. »Deine Mutter wird werden gesund. Haben ihr einen Arzt?«

      »Wir haben kein Geld.« Die Kinderaugen sahen sorgenvoll drein.

      Marietta überlegte nicht länger. »Ich werde gehen zu deine Mutter.« Vergessen war Anita und der Wettritt. Vergessen, daß sie niemals allein ohne einen Diener gehen durfte. Auch daß der Vater es nicht besonders gern sah, wenn seine Damen die Siedlungshäuser besuchten. Anita pflegte sich stets davon zu drücken. Aber Marietta hatte die Mutter schon öfters auf ihren Wegen der Menschenpflicht begleitet.

      Das Pferd wurde an den Gummibaum gebunden. Dann folgte Marietta der Kleinen in die Kaffeeplantagen hinein. Kreuz, quer, wie in einem Irrgarten zogen sich die Wege durch die Anpflanzungen. Immer neue grüne Mauern türmten sich vor den beiden auf. Die Sonne brannte heiß. Marietta war nicht gewöhnt, zu Fuß zu gehen. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Die Unebenheiten der schlechten Wege verursachten ihren zarten Füßen durch das feine Schuhwerk Schmerzen.

      War es nicht voreilig gewesen, sich so weit zu entfernen? Würde Anita sie nicht suchen? Sollte sie umkehren?

      Nein – nein! Sie ging ja einen Samariterweg. Hatten die Ärmsten, denen sie Hilfe bringen wollte, nicht ständig mit solchen Strapazen und Qualen zu kämpfen? Mußten sie nicht noch obendrein schwere Arbeit leisten? Sangen dort nicht irgendwo sogar Leute bei der Arbeit? Mit aller Willenskraft zwang Marietta die ungewohnten Strapazen.

      Nach einer halben Stunde – eine Ewigkeit dünkte sie dem erschöpften Mädchen – öffnete sich der endlos scheinende grüne Buschwald der Kaffeeplantagen. Ein freier Platz wurde sichtbar mit gelbgrauen Lehmhütten. Das war das Dorf, die Ansiedlung der zu den benachbarten Plantagen gehörenden Arbeiter.

      Niemals war Marietta bis hierher gekommen. Für die Ausfahrten und Spazierritte pflegte man landschaftlich malerische Punkte zu wählen. O Gott, sah das hier öde und verlassen aus. War es denkbar, daß in diesen fensterlosen, elenden Lehmhütten Menschen hausten?

      »Zu welche Fazenda ihr gehören?« erkundigte sie sich. Das Kind nannte einen Namen. Er war angesehen in Sao Paulo, der Name Orlando. Die Familie lebte dort in Reichtum und Luxus. Zum erstenmal taten sich hier dem jungen Mädchen die krassen sozialen Gegensätze auf.

      Vor einer der Hütten sielten sich nackte braune Mulattenkinder im Staub. Irgendwo blaffte ein Hund. Sonst alles wie ausgestorben. Das ganze Dorf war auf den Plantagen bei der Arbeit.

      Mariettas kleine Führerin steuerte auf eine der Hütten zu. Der türenlose Eingang zu derselben war so niedrig, daß selbst das Kind beim Betreten der Hütte den Kopf neigen mußte. Palmenblätter bildeten das Dach. Statt einer Tür hing das Moskitonetz zum Schutz gegen die lästige Insektenplage vor der Öffnung.

      Unwillkürlich hemmte Marietta den Schritt. Nein, nein, sie konnte nicht diesen verwahrlost ausschauenden Raum betreten! Ihr ästhetisches Empfinden, ihr Kulturgefühl bäumte sich dagegen auf.

      »Schläfst du, Mutter?« hörte sie da das Kind drin sagen. »Wach auf, Mutter. Da ist ein feines Mädel, das redet wie wir. Sie hat gesagt, sie will dir helfen.«

      Darauf ein Stöhnen, dann eine matte Frauenstimme: »Uns kann keiner mehr helfen, Lottchen. Uns hat selbst der liebe Gott verlassen.«

      Der verzweifelte Ton dieser Worte ließ Marietta alles andere vergessen. Sie sah nicht mehr die elende Hütte, vor der sie noch soeben zurückgeschaudert. Hier war ein Mensch in Not. Hier mußte geholfen werden. Schon bückte sie sich, um in die Hütte zu gelangen.

      Der kleine Erdraum erhielt Luft und Licht nur durch die Türöffnung. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Holztruhe. In der Ecke, aus ein paar Steinen errichtet, eine primitive Kochgelegenheit. Alles dies unterschied Marietta in dem dämmerigen Halbdunkel nach dem blendenden Sonnenlicht draußen erst nach und nach. Vorläufig hatte sie nur Augen für das kranke Weib, das da auf einem mit ein paar Lumpen bedeckten Blätterlager hingestreckt lag. Große, fiebrig glänzende Augen schauten erstaunt fragend auf die junge Besucherin.

      »Guten Tag, liebe Frau, Sie sein krank?« begann Marietta teilnehmend. Das Elend, das ihr hier unverhüllt entgegengrinste, legte sich ihr beklemmend auf die Brust. Sie vermochte kaum zu sprechen.

      Bei den deutschen Lauten, obgleich sie fremdländisch anklangen, war es wie ein Lächeln über das abgezehrte Gesicht der Kranken gezogen.

      »Sehr krank. Es geht zu Ende – ich fühl's. O Gott, der Durst, der entsetzliche Durst!« Ein Ächzen folgte.

      »Wo es geben Wasser hier?« wandte sich Marietta, ihre Erschütterung niederzwingend, an das Kind. Sie griff nach einem braunen Krug.

      »Dort – die Nachbarin hat uns heute morgen, ehe sie zur Arbeit ging, einen Eimer Wasser geholt. Aber das Wasser ist schlecht, man darf es nicht trinken. Es muß gekocht werden. Sonst wird man krank und muß sterben wie Vater«, setzte das Kind altklug hinzu.

      Schlechtes Wasser, das Seuchen erzeugte. Marietta hatte in Sao Paulo davon sprechen hören, daß auf verschiedenen Kaffeeplantagen unverantwortlicherweise ungesunde Wasserverhältnisse seien. Himmel, wie war es möglich, daß die Orlandos in größtem Luxus lebten, während ihren Arbeitern die notwendigste Lebensbedingung, gesundes Wasser, fehlte?

      »Wasser – nur einen Schluck Wasser! Ich verbrenne!« stöhnte die Fieberkranke.

      »Wir werden die Wasser kochen«, meinte Marietta kurz entschlossen. »Wo man kann kochen?«

      Das Kind wies auf die aufeinandergetürmten Steine: »Holz liegt draußen. Aber der Herd raucht, wenn wir Feuer machen. Dann muß Mutter wieder husten.«

      Ratlos stand Marietta da. Nur selten mal hatte sie in ihrem Elternhause die Küche betreten. Dort hauste die Dienerschaft, die schwarzen Köchinnen, die den ganzen Tag backten und brateten. Das war kein Aufenthalt für die jungen Fräulein.

      Hätte sie doch nur Diego mitgenommen. Nun mußte sie selbst sehen, fertig zu werden. Denn die Kranke bat unausgesetzt