L.J. Thomas

Kallistos Familie


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Als junger Florist kamen einmal Leute in unseren Laden, recht nett wirkend, aufgeschlossen, offen für Neues, die wollten, nachdem sie die roten, weißen und gelben Rosen im Laden betrachtet hatten, blaue haben und fragten, ob wir die weißen nicht färben könnten. Das brachte mich innerlich in Rage, äußerlich musste ich die Fassung bewahren, wie immer im Laden, verneinte also, so trocken ich konnte. Die Leute gingen unbefriedigt raus, ich hatte sie wohl schlecht beraten. „Ein Kunde, der ohne alles den Laden verlässt, kommt nicht wieder“, pflegte mein Chef zu sagen. „Für immer verloren.“ Der erste Verlust zieht weitere nach sich – ein kaufmännisches Desaster.

      Mein Fehler war lange Zeit, dass ich mich falsch orientierte. Nicht der nahe, kurzfristige Gewinn war meine Stärke (den wollten aber meine Arbeitgeber), auch nicht die schnelle Eroberung der Kunden und Kundinnen, sondern der langfristige ästhetische Anspruch, den ich bei ihnen zu provozieren lernte. Das dauert schon mal Monate. In-zwischen habe ich einen eigenen Laden, bin um-geben von einfachen Blumen, die ich vergesellschafte, zu Familien, Freundesgruppen. Die Kunst besteht darin, all das natürlich wirken zu lassen, was aus Menschenhand entstand. Ein selbstverständliches Entstehen der Schönheit ist das Ziel im Auge des Betrachters – in Wirklichkeit steckten Stunden Arbeit im dann so attraktiven Produkt.

      Ich bin ja kein Schreiber, ich kann von orangen Tulpen, die manche unglaublicherweise mit Violett koppeln, schreiben, von unsauber gelegten Bindestellen oder von Ringelblumen, die eine Zeit lang gerne auf Plastik geklebt wurden, vorzugsweise in Kindergärten. Doch um all diese widerlichen Dinge geht es mir gar nicht. Sondern?

      Ich war alleine im Laden, als sie ihn betrat. Wir waren alleine. Sie ließ mich gleich an die schönsten Tulpenfelder der Welt denken, so empfinden, als stünde ich vor ihnen. Sie trug ein rotes, ja knallrotes Oberteil, das eng genug war, um die Form des Darunterliegenden konturiert zu sehen, und einen weißen Rock aus dünnem Stoff, Leinen vielleicht, der, als sie eintraf, leicht hochwehte, wie ein junges Rosenblütenblatt im Spätsommer, ein Anblick, der mich nie wieder losließ. Es war tatsächlich Sommer, ihre Beine waren nackt, ihr Gesicht hübsch, braune Augen darin, braunes gelocktes Haar drumherum, sie lächelte meist, als sie sich nach der ersten Begrüßung umschaute. Nie zuvor und nie mehr wieder habe ich eine Kundin oder einen Kunden dabei beobachtet. Sie benötigen Muße, um sich einzufühlen in die Pflanzenwelt, vielen sind die besonderen Eigenschaften der Wesen darin nicht geläufig. In diesem Fall war alles anders. Dass ich ihre Schritte, ihre Blicke verfolgte, nachvollzog, war mir selbst gar nicht klar – es geschah einfach. Ich konnte nicht von ihr lassen. Diese Frau bewegte sich, wiegte sich selbst in ihren Hüften, so sicher, so selbstgewiss, wie ich es für mich selbst niemals für möglich hielt und halte. Ein Körperbewusstsein wie eine Turnerin, eine Selbstsicherheit wie eine Schauspielerin. Doch sie turnte und spielte nicht, sie war sie selbst. Als sie den morgens von mir gebundenen Strauß betrachtete – das war mein neuester Lieblingsstrauß, die beste Kreation seit Monaten –, lächelte sie, ich sah das und lächelte auch, hätte am liebsten geschrien vor Lachen und Glücksempfinden.

      Von meinem alten Chef habe ich gelernt, auf entscheidende Situationen zu achten, etwa wenn eine Kundin den Gesichtsausdruck ändert oder sich ihre Bewegungen lockern. Diese Frau änderte nichts. Zugleich änderte sie alles. Ich empfand mehr, als ich bewusst wahrnehmen konnte. In mir entwickelten sich Bilder des Aufspreizens, jenes Bindeprinzips, das die Schönheit des Darunterliegenden offenbart. Unter der äußeren, offensichtlichen, soll alles so wirken, als ginge man durch einen verwilderten Garten und finde weit unten, in der Tiefe, wunderschöne Blüten einer verborgenen Tulpenzwiebel. Das ist dann das Ergebnis der ganz hohen Kunst des Bindens, eines Niveaus, das nur sehr wenige Floristen erreichen. Ich weiß, dass ich an diesen großen, ja erregenden Bindekunst-Moment dachte, aber nicht, warum.

      Sie ging mit einem vielsagenden Lächeln. Wir hatten zwischen den Begrüßungs- und Verabschiedungsworten kein einziges gewechselt, und doch schien mir niemals ein Mensch näher als sie gewesen zu sein. Als sie mich und meinen Laden verließ, nahm ich ihren Duft wahr. Nichts, keine einzige Blume duftete so einmalig bitter-süß wie sie. Für immer verloren. Was mir, als sie bei mir war, gefehlt hatte, war das, was ich an meinem Großvater einst so bewundert hatte: Mut. Und ich blieb, wie immer, allein in meinem Laden, mit einem staunenden Schweigen.

      Und so ging es regelmäßig, immer wieder. Sie war nicht die einzige Schöne, die wortlos und unange-sprochen meinen Laden verließ. Was mir bei den Blumen so gut gelang, klappte bei mir selbst gar nicht. Und wenn mir das bewusst wird – das ist immer häufiger der Fall –, wäre ich jedes Mal gerne eine Tulpe oder eine Nelke in meinem Laden. Dann täte ein anderes Wesen das mit mir, das mir selbst nie gelingt.

      Georg und Frieda

      Wir Limnologen nehmen Proben, prüfen, messen, berechnen Schichten der Gewässer, in denen andere schwimmen oder an denen sie achtlos vorbeispazieren. Wir denken an all die Gesteine, an denen Quellwasser vorbeizieht, an Zuflüsse und Regengüsse. Wir beobachten Geschehnisse, die die anderen nicht sehen können. Verhältnisse, Beziehungen von Elementen, die anderen verborgen bleiben, sie finden unterirdisch und unter Wasser statt. Längst verstorben geglaubte Tiere tauchen wieder auf, wie aus dem Nichts, unvermittelt, beeinflussen das System, benötigen so viel Sauer-stoff, dass andere zugrundegehen. Wieder andere breiten sich aus, brauchen Platz, den vorher ältere eingenommen hatten. Die werden nun verdrängt. Evolution ist eine schöne Erzählversion unseres Daseins. Wir, die Experten für Gewässerkunde, erleben sie jeden Tag. Wir könnten viel davon erzählen – doch das interessiert niemanden. Ich jedenfalls habe noch keinen gefunden.

      Auch wenn ich Ferien habe, zieht es mich zum Wasser, es lässt mich nicht los. Und jetzt kann ich was erzählen: Ich schlidderte, sagt man das so?, ich schlidderte – „geriet“ ist wohl das bessere Wort – in eine komische Geschichte. Ihr Ausgangspunkt: Flussufer. Jetzt erzähle ich – ein Anfänger im Geschichtenerzählen – einfach drauflos:

      Ich fand den Mann an den Anhöhen mit ihrem schwachen Grün liegen. Völlig außer Atem, total nass, ein paar Blutspuren waren zu sehen, er weinte, schrie, war zerzauselt und irgendwie verbogen wirkend. Sprechen war nicht drin, Gucken wohl auch nicht, er blinzelte, schaute mich blind an, sah mich nicht. Verstand er? „Hallo, was ist denn geschehen?“ Der Mann rührte sich, und als er wieder langsamer atmet, zu sich kommt, lächelt er, ganz zuversichtlich. Ich reiche ihm meine Jacke, und ja: Er lässt sich bedecken, abtrocknen auch. Wirkt bedürftig, anlehnungsbedürftig. Doch dann schmeißt er plötzlich alles von sich, die Sachen fallen eher ab, und er schleppt sich den Hügel hoch, eine Art Krabbeln ist das eigentlich. Als er oben ankommt, streckt und reckt er sich, wirkt viel größer als je zuvor und geht los. Ungeheuer schnell ist er nun. Ich folge mit meinem Fahrrad, anders ginge es gar nicht, sein Tempo ist atemberaubend. Sein Weg? Scheinbar ziellos, er geht mal rechts ab, dann wieder rechts, und noch einmal rechts, sodass er dort landet, wo er bereits war. Das lernt er offenbar, nimmt nicht mehr jede Seitenstraße, muss nicht alles sehen, bleibt geradliniger, seltener geht er unnötige Nebenwege, doch dann landet er in einer Sackgasse. Er findet heraus, klettert über eine Mauer und ist nun alleine. Ich abseits, keine Chance, ihn weiterzuverfolgen. Studiere meine Karte, um herauszufinden, was hinter der Mauer ist und wie ich dorthinkomme, denke, dass mein kleiner Uferspaziergang ausgerechnet vor einer Mauer endet und die Offenheit, die ich suchte, in einer Sackgasse mündet, da gibt es dieses Geräusch, wie wenn ein Dachziegel sich löst. Und tatsächlich: Der Typ klettert auf einem First, weit nach oben, und ich sehe noch, wie er in ein Fenster steigt. Er kommt an – ich stecke fest.

      Wenige Wochen später erzählte ich einem neuen Mitarbeiter in unserem Büro von dem Vorfall, einfach weil ich ihn nicht vergessen konnte und das Ende offengeblieben war, aber auch, weil man ganz neuen Leuten in seinem Leben manchmal liegengebliebene Dinge erzählt – solche, die man anderen verschweigt. Ein komischer Vorgang: Der Adressat weiß nichts von einem, soll aber ganz Wichtiges anhören, annehmen, einen Rat geben vielleicht, manchmal sogar verzeihen. Wir sprachen dann auch über die Probleme, aus dem Russischen ins Deutsche zu übersetzen, über Dostojewski und neue russische Autoren – und auch über St. Petersburg, jene Stadt, aus der er gekommen war.

      „Sag mal, ich bin sehr dankbar, dass du bei uns angeheuert hast, ein großer Fortschritt könnte das sein für unsere kleine Klitsche, aber: Warum bist