Verena Huth

Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein


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href="#uea834ec9-7a5f-5add-a1ea-052d2a8f6595">2 Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948

       2.1 Textuelle Anzeichen einer Fiktion

       2.2 Der Skandal von 1998 und seine Vorboten

       2.3 Überlegungen zum realen Hintergrund

       3 Exkurs: Theorie der Autobiografie

       3.1 Erinnerung als Basis von Autobiografien

       4 Die literarische ,Wilkomirski-Rezeption‘: Benjamin Steins Roman Die Leinwand

       4.1 Inhalt

       4.2 Wilkomirski alias Minsky

       4.3 Ein Aufbrechen von konventionellen Erzählstrukturen?

       4.3.1 Chronologie

       4.3.2 Erzähltheoretische Begriffe

       4.3.3Bezug zu Raymond Queneaus Stilübungen

       4.3.4 Selbstreferenzialität

       4.4 Amnon Zichroni und Jan Wechsler

       4.5 Erinnerungs- und Identitätsproblematik

       4.5.1 Ästhetisierung von Erinnerungen

       4.5.2 Von Normen geprägte Kindheit und Jugend, Lesehunger und Heimatverlust

       4.5.3 Vom Lese- und Erinnerungsdiebstahl zum Erzählen des Romans Die Leinwand

       4.5.4 Das Bad in der Mikwe als Bild für den Übergang in einneues Leben

       5 Eine Neubetrachtung des Wilkomirski-Falls

       6 Fazit

       Literaturverzeichnis

      1 Einleitung

      Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen und verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer sollte da noch sagen, was einmal wirklich geschehen ist? Vergessen, sagt mancher meiner Kollegen leicht dahin, sei der Schorf der Psyche. Wie aber unter Schorf neue Haut wächst, um die Heilung zu vollenden, entsteht auch unterm Vergessen etwas Neues.1

      Im Jahr 1995 erschienen sowohl Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-19482 als auch Benjamin Steins Roman Das Alphabet des Juda Liva3. Darüber hinaus gelangte noch ein weiterer Roman auf den Markt: Daniel Ganzfrieds Der Absender4. Vor allem durch die Ereignisse der folgenden Jahre traten diese drei Autoren in Beziehung zueinander, womit auch die Basis für eine Fiktionalisierung der Zusammenhänge geschaffen wurde.

      Nach langjährigem Leidensweg entschloss sich Binjamin Wilkomirski5, ein Schweizer Mitte fünfzig, eine Autobiografie zu verfassen und mit seiner Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er brachte die Erinnerungsfetzen, die ihn schon lange geplagt hatten, zu Papier. Seine Agentin Eva Koralnik vermittelte das Manuskript an den Jüdischen Verlag im Hause Suhrkamp. Die Überzeugung, es hier mit etwas Besonderem zu tun zu haben, verbreitete sich schnell. Schließlich handelte es sich um den Lebensbericht eines Kinderüberlebenden von Auschwitz und Majdanek. Dass ein Kind gar mehrere Lager überlebte, schien so unglaublich wie wundersam. Aber dass es die Erinnerungen an das Grauen trotz seines frühkindlichen Alters so eindrücklich bewahren konnte, diese unvorstellbar schreckliche Leistung bildete nach damaliger Ansicht letztlich die Besonderheit des entstandenen Texts.

      Hätte nicht Daniel Ganzfried mit seinem am 27. August 1998 in der Schweizer Zeitung Die Weltwoche erschienenen Artikel „Die geliehene Holocaust-Biographie“ einen Stein ins Rollen gebracht, wäre Wilkomirski womöglich in der öffentlichen Meinung ein positiv beachteter, schreibender Holocaust-Überlebender und Historiker geblieben. Ganzfried behauptete drei Jahre nach der Veröffentlichung der Bruchstücke, Wilkomirskis Erinnerungen seien ein Fantasieprodukt und verhöhnten damit tatsächliche Holocaust-Überlebende. Mit Blick auf seine Recherchen unterstellte Ganzfried Wilkomirski, seiner Agentin und seinem Verlag eine kaltschnäuzige Planung in der Erwartung eines finanziellen Erfolgs.6 Es folgte ein Aufschrei in den Feuilletons – zugunsten Ganzfrieds.7 Ein Medienskandal hatte seinen Anfang genommen. Der Historiker Stefan Mächler, der von Wilkomirskis Agentur mit einer umfangreichen Recherche betraut wurde, legte allerdings den Schluss nahe, Wilkomirski sei seiner eigenen Erinnerungsfiktion erlegen, habe also seine Autobiografie nicht absichtlich gefälscht.

      Wie auch Daniel Ganzfried kannte Benjamin Stein Wilkomirski aus der Zeit kurz nach dem Erscheinen von Bruchstücke. Stein und Wilkomirski hatten bei einer gemeinsamen Veranstaltung auf der Leipziger Buchmesse aus ihren Büchern vorgetragen und hielten Kontakt miteinander. Vierzehn Jahre nachdem Stein Wilkomirski erstmals in der Schweiz besucht hatte, kam Steins Roman Die Leinwand im Jahr 2010 auf den Markt, der sich in fiktionalisierter Form auf den Skandal um Wilkomirski bezieht.

      Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung dieser literarischen Rezeption des Wilkomirski-Falls. Bereits im Laufe der Feuilleton-Debatte um Bruchstücke wurden moralische Fragen gestellt, solche nach dem ‚richtigen Erinnern‘ beispielsweise. Mit der Zeit meldeten sich auch Wissenschaftler8 zu Wort, u.a. aus der Literatur- und Geschichtswissenschaft. In Steins Die Leinwand werden verschiedene Diskurse gebündelt und dem Leser unsichere Identitäten präsentiert. Im zu Beginn dieser Einleitung genannten Zitat wird das kreative Potenzial von Erinnerungen beschrieben, die stets in Veränderung begriffen seien. Mit Die Leinwand wird die Diskussion um Wilkomirski auf einer fiktionalen Ebene weitergeführt – und damit in einen Bereich gelenkt, für dessen Zugehörigkeit Bruchstücke und damit Wilkomirski im Jahr 1998 angeklagt wurde.9 Dennoch, oder vielleicht gerade aus diesem Grund, stellt das Werk in Bezug auf Form und Inhalt die bisher differenzierteste Auseinandersetzung mit Wilkomirski dar.

      Im zweiten Kapitel wird zunächst Grundlagenwissen zum Fall Wilkomirski erarbeitet. Im Exkurs des dritten Kapitels bilden theoretische Schriften zum Thema ‚Autobiografie‘ den Gegenstand. Das Kapitel problematisiert die Möglichkeit der Klassifizierbarkeit der Autobiografie als fiktionales oder faktuales Erzählen. Weiterhin wird das sich daraus ergebene Spannungsverhältnis