Verena Huth

Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein


Скачать книгу

der sich mit der literarischen Rezeption des Wilkomirski-Falls auseinandersetzt.

      Benjamin Steins Roman Die Leinwand besteht aus zwei, von zwei verschiedenen Erzählern geschilderten Geschichten, die formal deutlich voneinander getrennt sind. Die Leinwand ist ein ‚Wenderoman‘, ohne hier eine inhaltliche Thematisierung der Ereignisse von 1989 zu meinen. Bereits an der Form lässt sich erkennen, dass es in diesem Text um das Aufeinanderprallen zweier Perspektiven, zweier Identitäten geht. Zunächst wird die Präsentation des Wilkomirski-Skandals im Roman untersucht. Daraufhin rückt die gedruckte Form in den Mittelpunkt: der versuchte Aufbruch der Chronologie. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Thema ‚Selbstreferenzialität‘. Im Anschluss daran werden die beiden Hauptfiguren, der Psychoanalytiker Zichroni, ein enger Freund des Autors Minsky, und der Journalist Wechsler, der Minskys Autobiografie als Fälschung brandmarkt, genauer vorgestellt. Ironischerweise lassen sich zwischen den beiden eigentlichen Kontrahenten Gemeinsamkeiten ausmachen, die sich insbesondere im Bereich der Erinnerungs- und Identitätsproblematik bewegen. Zuletzt wird die aus dieser Lektüre neu gewonnene Perspektive auf den Wilkomirski-Fall zusammengefasst.

      2 Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948

      Im Jüdischen Verlag erscheint im Jahr 1995 Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 von Binjamin Wilkomirski. In seiner Autobiografie beschreibt der Autor ihm verbliebene, fragmentarische Bilder aus seiner Kindheit. Er erinnert sich an ein von äußerster Gewalt und Grausamkeit, Vertreibung und Flucht geprägtes Leben. 1939 in Riga geboren, muss er dort als Kleinkind die Ermordung seines Vaters mitansehen. Daraufhin wird er mit seinen Geschwistern auf einem Bauernhof versteckt. Schließlich werden sie von Soldaten gefunden und getrennt deportiert. Wilkomirski kommt zunächst nach Majdanek, später nach Auschwitz. Er schildert Szenen von bestialischer Brutalität. Zu den schockierendsten Passagen gehört jene Szene, in der Wilkomirski das Wiedersehen mit seiner sterbenden Mutter im Lager schildert, als diese ihm, quasi noch mit letzter Kraft, ein Stück steinharten Brotes reicht.10 Kaum erträglicher ist das Lesen einer weiteren Szene, in deren Verlauf der kleine Junge beobachtet, wie Ratten aus Frauenleichen herauskriechen:

      Ich recke meinen Kopf vor, und in diesem Augenblick öffnet sich blitzschnell die Wunde, die Bauchdecke hebt sich ab und eine riesige, blutverschmierte, glänzende Ratte huscht den Leichenberg herab. [...] Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen! Die toten Frauen gebären Ratten!11

      Wilkomirski berichtet weiter, wie er nach der Befreiung 194512 das Lager verlässt und ab diesem Zeitpunkt in Kinderheimen in Krakau untergebracht ist. Von dort aus wird er in einen Zug in die Schweiz gesetzt und dabei in eine Gruppe reisender Kinder eingeschleust. Am Zielbahnhof angekommen, bleibt Binjamin allein zurück und gerät in die Obhut der Schweizer Behörden. Einige Zeit später wird er von der wohlhabenden Familie Dössekker adoptiert.

      Betrachtet man die formale und sprachliche Konstruktion dieser ‚Erinnerungen‘ näher, erscheinen sie komplexer als auf den ersten Blick. Die assoziative Erzählweise in Verbindung mit der zunächst simpel wirkenden Stilistik erzeugt einen Eindruck von Authentizität. Von Beginn an wird dieser auch ganz konkret im Text beschworen:

      Ich bin kein Dichter, kein Schriftsteller. Ich kann nur versuchen, mit Worten das Erlebte, das Gesehene so exakt wie möglich abzuzeichnen – so genau, wie es eben mein Kindergedächtnis aufbewahrt hat: noch ohne Kenntnis von Perspektive und Fluchtpunkt.13

      Und welcher Bericht könnte authentischer wirken als der eines ‚unschuldigen Kindes‘? Das Zitat versucht, den emotionalen Abstand zwischen dem erwachsenen Mann, der seine Erinnerungen aufschreibt, und dem kleinen Jungen, der erlebt, herunterzuspielen. Auf diese Weise wird die Perspektive des Kindes in den Mittelpunkt gestellt, als ob ein Eintauchen darin – ohne die Reflexionen des erwachsenen Ichs – möglich sei. Zusätzlich bietet die Darstellung von Kindheitserinnerungen „eine verführerische Lösung für diese Krise der Repräsentation“: Konstitutiv für die Shoah-Literatur ist schließlich die Problematik der Darstellung selbst. Durch das bloße Zitieren seiner damaligen Kinderperspektive wird jedoch der Text scheinbar „von den Ereignissen selbst geschrieben“.14

      Wie bereits angedeutet, ist die Erzählung nicht chronologisch aufgebaut, sondern springt zwischen den Erinnerungen aus der Schweizer Kindheit und der Lagerkindheit hin und her. Auf diese Weise wird auf der formalen Ebene ausgedrückt, dass sich die Lagererfahrung im Bewusstsein des traumatisierten Ichs auch in der vermeintlich sicheren Schweiz fortschreibt:

      Die Menschen, die in ganzen Häusern wohnen, die keine gestreiften Hemden tragen, die alles zum Essen haben, soviel sie wollen – das sind doch die, welche die anderen töten. Sie sind es, die ich fürchten muß [...]. Ich will nicht unter diesen Menschen wohnen. Was haben sie vor? Wo ist meine Baracke?15

      An einer späteren Stelle heißt es: „Das Lager ist noch da.“16 Das Kind Binjamin hat keine Möglichkeit, seine Erfahrungen auf irgendeine Art zu verarbeiten, es lebt weiterhin in ständiger Angst und kann auch seinen Adoptiveltern kein Vertrauen schenken. Diese tragen noch zusätzlich zu seiner Traumatisierung bei, indem sie ihm verbieten, von seiner Vergangenheit zu sprechen oder sich nur daran zu erinnern: „‚Das mußt du jetzt vergessen! Vergessen, wie einen bösen Traum. Es war nur ein böser Traum‘, sagte sie [die Adoptivmutter] immer wieder. ‚Du mußt alles vergessen. Ich, ich bin jetzt deine Mutter!‘“17 Neben dieser Beschreibung eines inkompatiblen Nach- und Nebeneinanders zweier Lebenswelten wird die Schreibmotivation deutlich gemacht: Das beinahe lebenslange Schweigen soll gebrochen werden, der Autor möchte zu seiner Vergangenheit stehen können. Darüber hinaus sollen Leidensgenossen erreicht werden: „Sie sollen wissen, daß sie nicht ganz allein sind.“18 Der Erinnerungsvorgang beim nunmehr erwachsenen Autor wird an vielen Stellen in martialische Bilder der Verwüstung gekleidet, es sei ein „Geröllfeld“, auf dem sich „Brocken des Erinnerns“ befänden.19 Wilkomirski traut seinem (frühkindlichen) Gedächtnis jedoch eine fotografische Qualität zu: „Meine frühen Kindheitserinnerungen gründen in erster Linie auf den exakten Bildern meines fotografischen Gedächtnisses und den dazu bewahrten Gefühlen – auch denen des Körpers.“20 Allein die Behauptung, über ein fotografisches Gedächtnis zu verfügen – und zudem noch in einem so frühen Alter – macht skeptisch. Die diffus beschriebenen ‚Körpererinnerungen‘ werden als zusätzlicher Garant für die Authentizität des Dargestellten herangezogen.

      Entgegen der zu Beginn von Bruchstücke gemachten Behauptung, es solle um die Erinnerung eines Kindes gehen, die detailgetreu abgebildet werde, zeigt sich, dass es sich durchaus um eine artifizielle Textkonstruktion handelt, die eindeutig von einem Erwachsenen geformt wurde, um die Perspektive eines Kindes zu imitieren. Wilkomirski äußert zwar, er sei kein Dichter, präsentiert allerdings einen Text, in dem das „Bruchstückhafte seiner Schilderungen den Eindruck, für das angeblich Nichterzählbare eine passende Form gefunden zu haben“21, evoziert. Die Bescheidenheitsgeste Wilkomirskis, sich nicht als Dichter zu bezeichnen und dagegen ganz auf seine ‚ungeschliffenen‘ Kindheitserinnerungen zu vertrauen, offenbart auf diese Weise die subtile Absicht, sich als besonders wahrheitsgetreuer Autor zu profilieren, dessen Text eine vielleicht sogar höhere Qualität aufweist als jeder von einem Literaten verfasste, fiktionale Text.

      In Bruchstücke finden sich zahlreiche Passagen, die bereits auf den ersten Blick unplausibel wirken – auch wenn man versucht, das Wissen um die später herausgestellten Umstände der Entstehung des Buches beiseite zu schieben. Aus Platzgründen soll hier nur auf eine Szene näher eingegangen werden, die exemplarisch zeigt, wie unglaubwürdig Wilkomirskis Erzählung stellenweise erscheint.

      Zu Beginn der Bruchstücke schildert Wilkomirski seine letzten Erinnerungen an seinen Vater. Dieser wird von „Uniformierten“ abgeholt, Binjamin kriecht hinter ihm her, klammert sich an das Geländer des Treppenhauses und klettert hinab. Es ist dieser Passage nicht präzise zu entnehmen, wie alt Binjamin ist. Allem Anschein nach aber ist er noch nicht ganz sicher beim Laufen. Dessen