Verena Huth

Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein


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Es ist schwer vorstellbar, dass ein Kind, das möglicherweise erst ein paar Worte gelernt hat, eine solche Aussage aufnehmen und im Gedächtnis behalten kann. Es folgt die Szene der Ermordung seines Vaters; Wilkomirski beschreibt die Gefühle und Gedanken seines frühkindlichen Ich:

      Ich bin traurig und erschrocken, weil er sich von mir abgewendet hat, aber ich fühle, daß er es nicht tat, weil er mich nicht mehr liebt. Sein eigener Schmerz muß übergroß gewesen sein, und er hat sich nur abgewendet, weil etwas Unbekanntes noch viel stärker war als er. Mit einem Schlag begreife ich: Von jetzt an muß ich ohne dich weitermachen, ich bin allein.23

      Dieses Zitat macht deutlich, dass das Reflexionsvermögen des schreibenden Ichs das des erlebenden weit übersteigt. Das Geschehen wird durch den Erwachsenen interpretiert und geformt. Die Schlüsse, die der Junge aus den Ereignissen zieht, erscheinen in den Mund gelegt – insbesondere der letzte Ausspruch: „Von jetzt an muß ich ohne dich weitermachen, ich bin allein.“ Die zitierte Stelle zeigt, dass Wilkomirskis angestrebtes Erzählverfahren in sich bereits unglaubwürdig und im Grunde auch nicht realisierbar ist. Kein erwachsener Mensch kann das Kind in sich auf authentische Weise wieder zum Sprechen bringen. Warum Bruchstücke trotz vieler Szenen, die, vorsichtig formuliert, mit einem Fragezeichen hätten versehen werden sollen, auf den Markt gelangte und erst Jahre danach als Konfabulation erkannt wurde – um diese Merkwürdigkeit kreist auch die spätere Feuilleton-Debatte.

      Fälschungen sind immer spannend. Unter anderem deshalb, weil sie nicht unsere unbedingt besten Eigenschaften auf den Teppich rufen. Man ärgert sich, weil man auf etwas hereingefallen ist, das man hätte durchschauen müssen, und falls man zufällig nicht zu den Getäuschten gehört, so fühlt man sich leicht überlegen, oder man wird sogar ein wenig schadenfroh, weil die lieben Mitmenschen sich so leicht betrügen ließen.24

      Dieses Zitat aus Ruth Klügers Artikel „Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann“ beschreibt vermutlich die menschliche Seite des Prozesses sehr treffend, den Daniel Ganzfried im Jahr 1998 in Gang setzte. Doch schon bevor er seinen Artikel veröffentlichte, sogar noch vor Erscheinen von Wilkomirskis Bruchstücke, wurden, quasi auf offizieller Ebene, erste Zweifel an dessen Authentizität geäußert. Der damalige Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, Hanno Helbling, schrieb einen Brief an den Suhrkamp-Verleger, Siegfried Unseld, in dem er Binjamin Wilkomirski als Pseudologen bezeichnete.25 Zwar konnte der Brief keine Beweise vorbringen, die gemachten Vorwürfe erwiesen sich später jedoch als zutreffend. Verlag und Autor verständigten sich auf eine Erweiterung von Bruchstücke: Wilkomirski schrieb ein Nachwort, in dem er auf die Widersprüche in seiner Biografie hinwies und behauptete, er habe „rechtliche Schritte gegen diese verfügte Identität“26 eingeleitet.

      Schaut man sich die Rezensionen in Deutschland und der Schweiz kurz nach Erscheinen des Buches an, so fällt auf, dass sich lediglich vier Rezensentinnen von auflagenstärkeren Zeitungen zu Wort meldeten: Klara Obermüller in der Weltwoche27, Taja Gut in der Neuen Zürcher Zeitung28, Eva-Elisabeth Fischer in der Süddeutschen Zeitung29 und Renate Wiggershaus in der Frankfurter Rundschau30. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Spiegel, in der taz, der Welt und der Zeit erschienen hingegen keine Besprechungen. Nur bei Taja Gut findet sich ein überschwängliches Lob: Bruchstücke trage „das Gewicht dieses Jahrhunderts“ – eine drei Jahre später oft zitierte Aussage. Klara Obermüller ließ dagegen leichte Zweifel anklingen, ob Wilkomirskis Geschichte glaubhaft sei.31

      Auf lokaler Ebene sowie in den USA kann jedoch von einem achtbarem Erfolg des Buches gesprochen werden.32 Vor allem Wilkomirskis Auftritte bei Lesungen und Kongressen wurden durchweg als sehr bewegend beschrieben. Er las seinen Text nie selbst, neben der Darbietung eines Schauspielers spielte er einige Stücke auf der Klarinette. Der tief traumatisierte Mann, dem es unmöglich war, seinen Text vor Publikum vorzutragen, jedoch seine Emotionen in Musik kleidete, rührte die Anwesenden meist sehr.33 In die Zeit relativ kurz nach der Veröffentlichung fallen auch die Preisverleihungen, bei denen Wilkomirski dekoriert wurde.34 Bruchstücke wurde in neun Sprachen übersetzt. Von der deutschsprachigen Version wurden innerhalb von vier Jahren jedoch nur 13.000 Exemplare verkauft. Wilkomirskis Autobiografie war also gerade im deutschsprachigen Raum vom Status eines Bestsellers weit entfernt.35 Zum Vergleich: Die beiden Werke, die im Jahr 1998 häufig als Vergleichsbeispiele herangezogen wurden, um die Qualität von Bruchstücke argumentativ herabzusetzen, Ruth Klügers weiter leben (1992)36 und Imre Kertész' Roman eines Schicksallosen (1996)37, waren bereits im selben Jahr über 100.000 Mal verkauft worden.38

      Im Jahr 1998 nahm Wilkomirskis Karriere eine scharfe Wende: In seinem Artikel „Die geliehene Holocaust-Biographie“ in der Weltwoche behauptete Daniel Ganzfried, Wilkomirski habe Auschwitz und Majdanek nur „als Tourist“ besucht. Er sei der uneheliche Sohn der Schweizerin Yvonne Grosjean, die ihn zur Adoption frei gegeben hätte.39 Dieser Artikel Ganzfrieds, wie auch seine folgenden zum gleichen Thema, zeichnete sich durch ein hohes Maß an Polemik aus.40 Als Sohn eines KZ-Überlebenden sah er sich offenbar in einem besonderen Maße vom ‚Schwindel‘ Wilkomirskis betroffen.41 Ganzfried wurde nach eigener Aussage bei seinen Recherchen zur Vergangenheit des Autors überdies stark behindert: „Als ich diesen Fall recherchiert habe, hat man aktiv versucht, mich zu behindern, zu bedrohen, zu bestechen etc. etc.“42 Diese Erfahrung bestärkte ihn zusätzlich in seinem Vorhaben, Wilkomirskis Vorleben sowie den sorglosen Umgang des Verlags und der Agentur mit dem Buchprojekt öffentlich zu machen.

      Sein Artikel erhielt große Aufmerksamkeit, insbesondere in der Schweiz und in Deutschland. In diesen Ländern wurde in den 1990er Jahren die Frage nach dem Umgang mit ‚herrenlosen‘ jüdischen Vermögen in der Zeit während und nach dem Ende des Dritten Reichs heiß diskutiert, was die Debatte um Wilkomirski zusätzlich befeuerte.43

      Viele Journalisten hefteten sich argumentativ an Ganzfrieds Fersen, jedoch zunächst ohne eigene Nachforschungen anzustellen.44 Es wurde ebenfalls behauptet, Wilkomirskis Autobiografie hätte eine breite und geradezu begeisterte Berichterstattung erfahren. So schreibt Leon de Winter im Spiegel: „Wilkomirskis Buch bekam hervorragende Kritiken. [...] die New York Times sprach von ‚einer poetischen Vision mit dem Zauber kindlicher Unschuld‘. Auch im deutschen Sprachraum war der Tenor nicht anders.“45 Dem schließt sich Jörg Lau in der Zeit an: „Die Literaturkritik hat die Bruchstücke seinerzeit mehrheitlich mit fast religiöser Ehrfurcht aufgenommen.“46 Wie oben bereits gezeigt wurde, kann von solchen Erfolgen nur bedingt die Rede sein.47 Gerade mit Blick auf das deutschsprachige Feuilleton kann nur der Artikel von Taja Gut in der Neuen Zürcher Zeitung genannt werden, dem ein solch „religiös-ehrfürchtiger“ Ton zu entnehmen ist. David Oels merkt in diesem Zusammenhang an, dass Werturteile wie die de Winters und Laus in einem medialen Zusammenhang zu sehen sind: Um effektvolle Schlagzeilen bringen zu können und damit besondere Aufmerksamkeit für die eigene Position zu generieren, müsse die Fallhöhe des ‚Antihelden‘ vergrößert werden.48 Nach einer vorgeblich überschwänglichen Aufnahme seines Buches geht nun von verschiedenen Seiten ein literaturkritischer Kugelhagel auf Wilkomirskis Bruchstücke nieder:

      Es war ermüdend, dieses Einerlei der Sprache, die Klischees, die Perspektiven eines Kindes, das auf Gefahren blitzschnell und korrekt reagiert, aber sich in der Freiheit und Sicherheit auf geradezu idiotische Weise nicht orientieren kann; es klang nach zusammengelesenen Bruchstücken, nicht nach erfahrenem Leid.49

      Nach ihrer treffenden Definition des öffentlichen Umgangs mit Fälschungen, schlägt Ruth Klüger nun ebenfalls den durch Ganzfried geebneten Meinungsweg ein. Zwar hatte sie das Buch nach seinem Erscheinen nur angelesen,50 doch wird aus ihrer nunmehr abgeschlossenen Lektüre deutlich, dass sie Bruchstücke auch ohne das Wissen um seine fehlende Authentizität für einen unglaubwürdigen Text von schlechter literarischer Qualität gehalten hätte. Diese