Renato Salvi

Verrat


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ich … es war … es tut mir ja so leid« Reden war noch nie Etters Stärke, also nahm er seine Tochter tröstend in die Arme. »Ich verspreche dir, sobald ich diesen Fall abgeschlossen habe, nehme ich mir eine Woche frei und dann unternehmen wir jeden Tag etwas Tolles, einverstanden?«

      Katrin nickte und ein Lächeln huschte über ihr makelloses Gesicht. Ein lautes Klirren aus der Küche beendete das traute Beisammensein von Vater und Tochter.

      »Morgen kannst du ausschlafen. Lass uns doch jetzt gleich irgendwo noch ein Eis essen gehen. Hast du Lust?«

      Katrin hatte Lust und ein Strahlen machte sich in ihrem Gesicht breit.

      »Lachen steht dir gut! Ich will dich nur noch lachen sehen!« Etter strich seiner Tochter übers Haar.

      Er stand auf und nähert sich langsam der Küchentür. Mit seiner Tochter war er nun versöhnt, doch der schwierigere Teil stand ihm noch bevor.

      Etter betrat leise die Küche, wo Helen gerade damit beschäftigt war, irgendwelche Scherben vom Boden zu wischen. Etter versuchte ihr zu helfen.

      »Lass mich in Ruhe«, fauchte Helen und entsorgte die Glassplitter achtlos im Abfalleimer. »Ist es so schwer, nur einmal ein Versprechen zu halten? Nur einmal?«

      »Ich habe die Zeit vergessen. Dieser Fall bringt mich an die Grenzen. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich habe mir extra einen Notizzettel gemacht, aber ich habe ihn zu spät gesehen.

      Etters Reue fand kein Gehör bei Helen. »Wenn du es nicht für mich tust«, sagte sie enttäuscht, »dann tue es bitte für Katrin. Sie hatte sich so auf heute Abend gefreut.«

      Etter wusste nicht, was er sagen sollte. Es fiel ihm nichts ein, das plausibel klang. Eine Entschuldigung würde Helen sowieso nicht akzeptieren. »Ich habe Katrin versprochen, dass wir jetzt ein Eis essen gehen.«

      »Um diese Zeit? Da hat doch alles geschlossen!«, fauchte Helen.

      »Der Burger King in der Autobahnraststätte in Pratteln hat bis Mitternacht geöffnet.« Etter lächelte.

      Helen lächelte nicht. Sie war von dieser Idee überhaupt nicht begeistert. Es war nicht fair, dass er auf diese Art versuchte, Geschehenes ungeschehen zu machen. Aber sie spürte seine ehrlichen Bemühungen und willigte schließlich ein – Katrin zuliebe.

      Etter atmete durch. Er war froh, das große Donnerwetter abgewendet zu haben.

      Kurze Zeit später stiegen Etter, Helen und Katrin ins Auto. Sie mussten noch gute 20 Minuten fahren, bis sie die Raststätte erreichten. Etter wählte den Weg via Friedhof Hörnli, über die Grenzacherstraße zur Autobahnauffahrt beim Tinguely-Museum. Von da würde es nicht mehr lange dauern bis zu ihrem Ziel.

      Es war Samstagabend und sehr viele Fahrzeuge benutzen um diese Zeit die Autobahn. Wagen an Wagen reihten sich hintereinander in den Fahrspuren ein. Die grellen Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge wirken wie eine hell leuchtende Perlenkette, sie brannten in Etters müden und schmerzenden Augen.

      Katrin saß auf der Rückbank und zählte die vorbeirauschenden Autos auf der Gegenfahrbahn. Helen saß auf dem Beifahrersitz und sagte die ganze Zeit kein Wort. Sie war noch nicht sicher, ob nicht gleich ein wichtiger Anruf kommen würde. Eine Dringlichkeit, die Etter unmöglich verschieben könnte. In Gedanken sah sie sich schon mit Katrin alleine dasitzen und Eis essen.

      Etter starrte ohne zu blinzeln auf die Fahrbahn. Er war unkonzentriert und konnte sich kaum wachhalten. Die Anstrengungen der letzten Wochen machten ihm mehr zu schaffen, als er zuzugeben bereit war. Hätte er die Augen schließen können, er wäre auf der Stelle eingeschlafen. Hätte Helen einen Führerschein besessen, müsste sie nun fahren – aber sie hatte keinen.

      Vorhin, zu Hause, da wäre er am liebsten gleich schlafen gegangen. Aber als er Katrin weinen sah, musste er sich etwas einfallen lassen. Katrins Tränen war er machtlos ausgeliefert. Helen konnte er enttäuschen, immer wieder. Als sie ihn vor 20 Jahren geheiratet hatte, da arbeitete er bereits bei der Basler Polizei. Helen wusste also, auf was sie sich mit Etter eingelassen hatte. Und wenn er schon kein guter Ehemann war, wollte er immerhin ein guter Vater sein. Dieser Restaurantbesuch war mehr als nur ein kleiner Ausflug.

      Etter biss sich auf die Lippen. Schmerzen würden ihn wachhalten. Es war nicht mehr weit. Da vorne noch den Schweizerhalle-Tunnel passieren und dann wären sie schon fast da. Etters Augenlider wurden immer schwerer. Er musste jetzt an etwas denken, das ihn wachhalten würde. Er dachte an seinen Fall. In Gedanken suchte er angestrengt nach dem noch fehlenden Hinweis. Bei den Recherchen hatte er eine Kleinigkeit übersehen, da war er sich sicher. Wenn er das letzte Puzzleteil finden würde, wäre er wieder einmal am Ziel angekommen und ein weiterer Täter wäre überführt. Er sah die Szenerie schon vor sich: Die Polizei begleitete einen Mann in Handschellen aus einem Haus und brachte ihn zu einem Streifenwagen. In Etters Fantasie stand er bereits vor versammelter Presse und gab Auskunft über die Geschehnisse. Die Reporter bedrängten ihn. Viele Fragen. Die Fotoapparate klickten und ein Feuerwerk von Blitzen blendeten Etters Augen.

      »Peter! Achtung!«

      Helen und Katrin kreischten. Etter war am Steuer eingeschlafen, nur ein oder zwei Sekunden, aber das hatte genügt, um von der Spur abzukommen. Am Ende des Tunnels geriet das Auto aus der Spur. Etter riss am Steuer, doch er bekam den Wagen nicht wieder unter Kontrolle. Das Fahrzeug prallte von der Leitplanke ab und überquerte die ganze Fahrbahn. In Panik trat Etter statt auf die Bremse aufs Gaspedal und der Wagen beschleunigte. Unkontrolliert raste Etter in die Leitplanke gegenüber und der Wagen wurde wieder zurück in die Mitte der Fahrspur geschleudert, sie überschlugen sich. Etter kniff die Augen zusammen und schützte seinen Kopf mit beiden Händen. Auf dem Dach liegend rutsche das Auto noch ein paar Meter weiter. Autos hupten, Bremsen kreischten, Glas splitterte. Endlich war das Wrack zum Stehen gekommen. Stimmengewirr. Dann Dunkelheit. Stille.

      Die offenen Wunden

      Etter stand lange am Grab. Er kam jeden Tag auf den Friedhof Hörnli. Manchmal brachte er Blumen mit, aber meistens kam er mit leeren Händen. Wie versteinert stand er vor dem Grabstein und blickte fassungslos auf den kleinen Erdhügel. Er konnte ihren Tod einfach nicht begreifen. Soviel hätte er mit ihr noch erleben wollen und soviel hatte er versäumt.

      Den Unfallbericht hatte Etter tausendmal gelesen. Fest gebrannt in seinem Hirn schwebte dessen Wortlaut wie ein Schwert über seinem Haupt: Das Fahrzeug ist aus noch ungeklärten Gründen von der Fahrspur abgekommen. Ungebremst touchierte es sowohl die linken wie die rechten Leitplanken. Zeugen sagten aus, dass keine Bremslichter zu erkennen waren, was darauf schließen lässt, dass der Fahrer womöglich bewusstlos war oder aus anderen Gründen nicht reagieren konnte. Das Auto überschlug sich. Dabei wurde ein Kind aus dem Fahrzeug auf die Fahrbahn geschleudert, wo es von nachfolgenden Fahrzeugen überfahren wurde. Es starb noch an der Unfallstelle. Fahrer und Beifahrerin wurden bewusstlos im Fahrzeug geborgen. Der Fahrer kam mit ein paar Prellungen und Fleischwunden davon. Die Beifahrerin wurde mit Verdacht auf eine schwere Rückenverletzung mit der REGA nach Nottwil geflogen.

      Nachdem Helen im Spital aufgewacht war, wollte sie die Scheidung. Etter wehrte sich nicht dagegen, denn er konnte seine Frau nur zu gut verstehen. Er hätte auch nicht mit sich weiterleben wollen, an ihrer Stelle. Die Last der Schuld lag schwer auf seinen Schultern.

      Seit einem Jahr hatte er nicht mehr gearbeitet. Er hätte auch nicht arbeiten können. Seine Lebenslust war am Tag des Unfalls erloschen, wie die Flamme einer Kerze, die man an einem stürmischen Tag schutzlos dem Wind aussetzt. Als er später begriff, dass er seine Tochter, seine Frau und seine Arbeit verloren hatte, wollte er sich das Leben nehmen. Er schluckte Unmengen von Tabletten. Darüber goss er fast einen Liter Schnaps und legte sich ins Bett. Im Tablettenrausch stand er aber auf, verließ die Wohnung und trat hinaus auf die Straße. Dort brach er zusammen. Passanten riefen die Ambulanz und Etter wurde gerettet. Danach wurde alles noch schlimmer. Seine Todessehnsucht beherrschte ihn und er war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Wochenlang ging er nicht aus dem Haus. Er verkroch sich in seinen Schuldgefühlen und hauste in seinen vier Wänden wie ein Tier. Die Nachbarn waren es, die dann die Polizei informierten. Etter kam in psychiatrische Behandlung. Er hasste Psychologen.