Renato Salvi

Verrat


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nur gut gehen, wenn es anderen schlecht ging, war Etters Meinung. Etter mochte mit niemandem über seine schrecklichen Erlebnisse reden. Er wollte nicht verarbeiten – er wollte leiden. Er war schuld am Tod seiner Tochter und er wollte sich dafür bestrafen, für alles was er seinen Lieben angetan hatte. Trost fand er nur im Rausch – und Etter brauchte viel Trost. Anfangs waren es nur kleine Mengen Alkohol. Sein Körper forderte dann aber mehr und Etter war der Sucht machtlos ausgeliefert. Der Alkohol brachte ihn immer weiter von einem halbwegs normalen Leben weg.

      Etter klappte seinen Mantelkragen hoch. Große Schneeflocken fielen vom Himmel. Wie weiße Federn schwebten sie über den menschenleeren Friedhof. Er atmete tief ein und verließ das Grab von Katrin. Sein Nachhauseweg führte ihn an vielen Restaurants vorbei. Apotheken, wie er sie nannte. Dort bekam er seine Medizin, soviel er wollte.

      Heute wollte er aber nicht. Er wehrte sich gegen den Drang, das Glas anzusetzen und den Inhalt in sich hineinzustürzen. Es geschah oft nach den Friedhofsbesuchen. Er hasste sich für alles was er war: Alkoholiker, Vater, Ehemann, Polizist und Kindermörder. Hass stieg in ihm hoch, in einer Art, wie er ihn vor dem Unfall nicht gekannt hatte. Als er noch als Kommissar arbeitete, versuchte er sich oft in die Gedanken der Täter hineinzufühlen. Nie hatte er begriffen, wie viel Hass ein Mensch empfinden musste, um töten zu können. Nun, ein Jahr nach dem Unfall, wusste er es. Etter hasste sich so, wie er einen Mörder hassen würde, der ihm das Liebste genommen hatte. Warum musste ihm das passieren? Ihm, der jahrzehntelang für das Gute gekämpft hatte. Tränen der Wut und der Trauer lösten sich ab. Nur der Tod würde Vergebung bringen. Der Tod war Etters Erlösung. Und da er es nicht schaffte, sich auf einen Schlag von der Welt zu verabschieden, versuchte er es eben in Raten. Der Alkohol würde seine Arbeit schon machen. Auf den Alkohol war Verlass.

      Nach dem Unfall musste er das kleine Reihenhaus in Riehen verkaufen, in dem er, Helen und Katrin gelebt hatten. Zu viele Erinnerungen waren damit verbunden und als jobloser Alkoholiker waren seine Geldreserven schnell aufgebraucht. In einem renovationsbedürftigen Mietshaus in der Kleinhüningerstraße, nahe des Brückenkopfs – dem Treffpunkt Kleinhüningens – fand er eine neue Bleibe; eine schlichte Zweizimmerwohnung.

      Völlig durchfroren und nass vom Schnee, betrat er den Hauseingang. Seine Wohnung befand sich im ersten Stock. Er schüttelte sich die Schneeschicht vom Leib und öffnete den Mantel. Zum Glück waren es nur ein paar Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Die Beine schmerzten und sein Herz raste. Nach einem Jahr hatte der Alkohol bereits ein Wrack aus ihm gemacht. Sicherlich würde es nicht mehr lange dauern und in seinen Adern würde nur noch Alkohol fließen. Sein Herz würde dann aufhören zu schlagen und endlich würde Ruhe einkehren.

      Etters Wohnung war einfach eingerichtet. Der schmale Gang lechzte nach frischer Farbe und der Teppich war durchgetreten und roch nach nassem Hund. Links neben der Eingangstür befand sich die Küche. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals darin gekocht hatte. Er betrat sie nur, wenn er zum Kühlschrank wollte – darin lagerte seine Medizin; keine Lebensmittel, nur Bier- und Schnapsflaschen. Rechts von der Wohnungstür war das fensterlose Badezimmer. Die Kacheln an den Wänden waren verkalkt und Schimmel bildete sich in den Fugen. Im Schlafzimmer stand nur ein Bett, sonst gar nichts; Etter hatte keinen Schrank und keine Kommode. Kleidungsstücke hatte er nur noch wenige, er achtete sowieso nicht mehr auf sein Äußeres. Eine Hose, ein Hemd und ein paar Schuhe genügten. An der Decke baumelte eine Glühbirne, deren Fassung lieblos mit den Stromkabeln verbunden war. Im Wohnzimmer standen ein karger Holztisch, ein Stuhl und auf einer leeren Bierkiste thronte ein kleiner Fernseher. Etter besaß nur noch das Nötigste. Er wollte denen, die nach seinem Ableben die Wohnung ausräumen mussten, nicht viel Arbeit machen.

      Etter entledigte sich seiner nassen Kleidung und warf sie achtlos in eine Ecke des Schlafzimmers. In Unterhemd und Unterhose holte er sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Mit beiden Händen umklammerte er die Flasche; er zitterte. Ob ihn die Kälte oder sein Drang nach Alkohol zittern ließen, konnte er nicht sagen. Er würde es wissen, sobald er die Flasche geleert hatte. Er suchte hastig die Küchenablage nach dem Flaschenöffner ab, öffnete die Flasche ungeduldig und trank sie, noch in der Küche stehend, in einem Zug aus. Es war wie eine liebevolle Umarmung eines guten Freundes.

      Etter stellte die leere Flasche auf die Küchenablage. Er hatte Mühe noch einen freien Platz darauf zu finden. Die Spüle, alle freien Flächen und ein Teil des Bodens waren mit leeren Flaschen vollgestellt.

      Er öffnete erneut den Kühlschrank und sorgte für Nachschub. Drei Bier würden vorerst genügen, dachte er, und ging damit ins Wohnzimmer, wo er sich auf den wackligen Stuhl setzte. Die zweite Flasche öffnete er noch im Gehen und, als wäre er dem Verdursten nahe, schüttete er das Bier in sich hinein.

      Er schaltete den Fernseher ein und entfernte den Kronkorken der dritten Flasche. Hin und wieder schaute er fern, um auf andere Gedanken zu kommen. Die Nachrichten interessierten ihn nicht sonderlich, Meldungen von Mord und Totschlag ließen ihn seit dem Unfall kalt.

      Er hasste seinen Beruf. Er war schuld, dass er nie Zeit für seine Familie gehabt hatte. Während er seine Tage und Nächte mit den kranken Gedanken der Täter verbrachte, saßen zu Hause eine liebe Frau und eine noch liebere Tochter, die ihn gebraucht hätten. Wenn er, ein Jahr nach dem Unfall, an seine Tochter dachte, musste er sich anstrengen, um sich an gemeinsam Erlebtes überhaupt noch erinnern zu können. Oft war er nicht mit Katrin zusammen gewesen. Als sie noch ein Baby war, hat Helen sie für sich in Anspruch genommen. Das war Etter recht gewesen. So konnte er sich ohne Schuldgefühle seiner Arbeit widmen. Als Katrin älter wurde, war er schon so von der Arbeit besessen, dass ihm sein familiäres Defizit gar nicht aufgefallen war.

      Nach seinem Selbstmordversuch riet man Etter, das Gespräch mit Helen zu suchen, um die schrecklichen Erlebnisse verarbeiten zu können. Helen verweigerte jedoch jegliches Gespräch; die Scheidung war durch und sie hatte mit Etter abgeschlossen. Er wusste nicht, wie sie das Erlebte verkraftete, aber Etter aus dem Gedächtnis zu löschen war scheinbar ein Teil davon.

      Seine Polizeikollegen standen Etter nach dem Unfall bei. Viele nahmen an Katrins Beerdigung teil. Etter erhielt Kondolenzkarten mit gut gemeintem Trost und einige hatten immer mal wieder angerufen, um sich bei ihm nach seinem Zustand zu erkundigen. Nach ein paar Wochen wurden die Anrufe aber immer weniger und sein Handy blieb schließlich stumm. Der Einzige, der sich immer wieder bei Etter gemeldet hatte, war Thomas Sutter, Etters früherer Assistent. Er musste nach Etters Ausscheiden dessen Arbeit übernehmen. Thomas Sutter wollte nie Leiter der Mordkommission werden und ließ sich dazu nur widerwillig überreden. Für Sutter war es nur eine Übergangslösung, bis Etter seine Arbeit wieder hätte aufnehmen können. Für Sutter sah es inzwischen so aus, dass das wohl noch lange dauern würde, aber er verlor die Hoffnung nicht, dass sein Chef irgendwann zurückkehren würde. Etter selbst glaubte nicht an Märchen und solange er trank, war an ein normales Arbeiten nicht zu denken.

      Im Fernsehen kamen die üblichen Talkshows: betrogene Ehefrauen, die in aller Öffentlichkeit über ihre Männer herzogen, Jugendliche die erzählten, dass sie noch immer nachts ins Bett pinkelten und Greise die schworen, dass sie im hohen Alter noch mehr Sex hätten, als alle Straßenköter der Stadt zusammen. Etter zappte sich durchs Programm. Er machte bei Tele Basel eine Pause, um erneut eine Bierflasche zu öffnen. Die Nachrichtensendung begann.

      »… Vermisst wird seit gestern Abend die dreizehnjährige Simone Habicht. Das Mädchen war mit einem blauen Fahrrad unterwegs. Sie war auf dem Weg zur Klavierstunde, wo sie aber nie ankam. Simone Habicht trug bei ihrem Verschwinden eine rote Daunenjacke, eine schwarze Manchesterhose, Winterstiefel und einen blauen Rucksack. Das Mädchen ist einen Meter sechzig groß, schlank und hat braune schulterlange Haare. Wer sachdienliche Hinweise zum Verschwinden von Simone Habicht machen kann, meldet sich bitte beim nächsten Polizeiposten.«

      Etter vergaß zu trinken. Er starrte die ganze Zeit auf den Fernseher, wo man das Foto der Vermissten zeigte. Er konnte es kaum glauben: sie war Katrin wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihre Augen wirkten so fröhlich, als ob sie sagen wollten: Uns gehört die Welt.

      Etter drückte den roten Knopf der Fernbedienung. Er wollte das Mädchen nicht mehr sehen. Er stellte die noch volle Flasche achtlos auf den Tisch und stand auf. Sein Kopf schmerzte und ihm wurde heiß und kalt. Er ging ins