Werner Boesen

Entfremdung und Heimkehr


Скачать книгу

Geschwister und ich sind froh, dass wir unsere Mutter stets in guter Erinnerung behalten haben und dies in unserem Herzen mitgetragen haben. Unsere Mutter gab uns die Kraft durchzuhalten, sodass wir uns alle gut entwickeln konnten.

      FÜR SICH SELBST VERANTWORTLICH

      Jedes Heimkind war sich selbst verantwortlich. Offiziell hatten die Erzieher die direkte Verantwortung über die zugeordneten Kinder. Doch wenn es etwas Gutes über Heimkinder zu berichten gab, fühlte sich plötzlich jeder verantwortlich, allen voran die Ordensträger. Gab es etwas Negatives zu sagen, hatten dies die Erzieher zu verantworten. Die Erzieher hingegen hatten ein recht gutes Alibi, sich aus der Verantwortung zu ziehen: einerseits kamen die Kinder ja verhaltensgestört ins Kinderheim, andererseits war man als Erzieher in Ausübung einer Berufsrolle nur eine begrenzte Zeit für die zugeordneten Kinder zuständig. Insofern konnten die leiblichen Eltern schon irreparable Schäden an ihren Kindern angerichtet haben, die halt immer wieder zu Tage treten. Aber auch die Erzieherkollegen konnten in der übrigen Zeit, in der man nicht berufstätig im Kinderheim war, etliches falsch machen. Dann gibt es noch die kluge Erkenntnis, dass jedes Menschen Schicksal vom „lieben Gott“ vorbestimmt ist und es „muss ja kommen, wie es kommen muss“. Die Heimkinder hatten das Nachsehen. Entweder sie kapierten es irgendwann, was man mit ihnen vorhatte oder sie gingen zugrunde, denn

      „die Letzten beißen die Hunde“.

      DIE ROLLE DER ERZIEHER

      Die Hauptfunktion der Erzieher bestand im Erziehen von fremden Kindern. Dazu wurden sie beruflich ausgebildet. Die Ausbildung reichte jedoch nicht aus, um eine Masse von Kindern erziehen zu können. Erziehung lässt sich aber auch in einer Ausbildung nicht erlernen, denn Fachwissen allein genügt bei weitem nicht, um Kinder zu erziehen. Von der Tatsache, dass es einen Beruf „Erzieher“ gibt, erfuhren wir erst, als wir schon lange aus dem Kinderheim heraus waren und wir konnten uns kaum vorstellen, was unter der Ausbildung „Erziehung“ zu verstehen ist. Lernte man da etwa, wie man Kinder „richtig“ prügelt oder wie man Heimkind-Berichte zu formulieren hatte, ohne dass das Jugendamt Verdacht schöpfen musste? Lernte man dort, wie man Kinder zu züchtigen hatte, bis sie es nicht mehr wagten, über die Situation im Heim gegenüber Außenstehenden zu reden? Lernte man dort, wie man junge Menschen stets auf ihre elende Herkunft aufmerksam machen musste, um sie zu ehrerbietenden und dankbaren Geschöpfen heranzuzüchten? Dies lernte man sicherlich nicht, doch es gibt ja den gewissen Unterschied zwischen Theorie und Praxis.

      Geschlossene Einrichtungen begünstigen die Züchtigung von Kindern, denn die Öffentlichkeit scheint sich kaum dafür zu interessieren, was hinter hohen Mauern passiert. Sie erhält auch kaum Einblick und wenn, dann nur nach Voranmeldung. Zu groß ist das Vertrauen in die „göttliche Überwachung“. Doch auch Nonnen und Patres sind nur Menschen, mit allen Fehlern und Schwächen, die Menschen haben können. Niemand ist perfekt. Dies wird man auch nicht durch eine Berufsausbildung, auch wenn es ein typisches Kennzeichen jeden erlernten Berufes ist, keine Fehler mehr in dem gelernten Beruf zu machen.

      Die Erzieher wirkten wie Perfektionisten, denn sie selbst machten grundsätzlich keine Fehler. Fehler machten immer die Heimkinder. Diese Fehler mussten ihnen ausgetrieben werden. Prügel galt dabei als Allheilmittel und das nicht nur bis Ende der sechziger Jahre. Die Vielzahl der Kinder stellte den Heimerzieher zwangsläufig in die Situation einer permanenten Überforderung, in der es ihm scheinbar nur noch möglich war, sich auf die Stufe von Neo-Primitiven zu begeben, die verzweifelt auf ihre urzeitliche Muskelkraft zurückgriffen, um noch eine Art persönlicher Dominanz zu demonstrieren. Der Heimerzieher war kein Erzieher mehr, sondern bestenfalls ein Heimkindhüter oder Heimkindwärter, vergleichbar mit dem Schafhirten, der seine Schäfchen mit Hilfe von bissigen Hunden zusammenhält. Wer aus der Reihe tanzt, wird auf die „Schlachtbank“ geführt.

      DAS JUGENDAMT

      Eine Sozialarbeiterin des Jugendamtes führte die Heimeinweisung durch, indem sie das Kind vom Elternhaus wegnahm und in ein Kinderheim brachte. Außerdem sorgte sie für die Heimentlassung. Hierzu vertraute sie scheinbar blind den Heimkindberichten der Erzieher des Kinderheims. Sonst kümmerte sie sich nicht um ihre Zöglinge und wenn, dann nur von ihrem Büroschreibtisch aus. Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes war primär als Sachbearbeiterin tätig. Ihre zu bearbeitenden Sachen waren die Heimkinder bzw. Heimkind-Angelegenheiten. Die Sozialarbeiterin blieb stets auf Distanz gegenüber dem Heimkind. Wir wurden von ihr nicht psychologisch und pädagogisch betreut und erhielten auch von keinem Fachpsychologen eine Erklärung für unsere Heimeinweisung. Von den Heimkindhütern wurde die Sozialarbeiterin gegenüber den Heimkindern als Autoritätsperson bezeichnet, die jederzeit die Möglichkeit hat, die Heimkinder in noch schlimmere Heime zu stecken. Aus diesem Grunde konnten sich die Heimkinder auch nicht der Sozialarbeiterin anvertrauen.

      Die Sozialarbeiter sind eingebunden in unsere bürokratische Ordnung, in der Kindeswohl kaum Platz zu haben scheint. Ihre Beurteilung in Sachen Heimkind-Angelegenheiten ist auch Basis für juristische Entscheidungen der Vormundschaftsgerichte. Aus unserer Kindessicht bleibt uns nichts anderes festzustellen, dass Juristen wohl sehr gut mit Paragraphen umgehen können. Sie beherrschen dies wie die Jongleure ihre Bälle werfen. Ein ernsthaftes Interesse im Bemühen um Kindeswohl, das heißt zum Beispiel den Kindern adäquate Lebensverhältnisse zu bieten, indem dauerhafte Bezugspersonen zu suchen sind, ist bestenfalls vorgetäuscht. Viel leichter fällt die Einweisung der Kinder in die nächstgelegene oder oft auch weit entfernte geschlossene Einrichtung, die aus Sicht der Juristen und Sozialarbeiter wohl nur die Gewähr dafür bietet, die Kinder zu sozialisieren. Dass es sich dabei um menschliche Pervertiertheit oder im Klartext um menschlichen Schwachsinn handelt, ist psychologischen Fachleuten schon lange bekannt, wenn diese es auch nicht so deutlich ausdrücken, wie ich dies gerade getan habe. Aber wann fragt ein Jurist einmal einen Psychologen? Selbst wenn der Jurist zu der Einsicht gelangt, der Psychologe habe recht, bedeutet dies natürlich noch nicht, dass der Jurist sich diese Entscheidung zunutze macht, denn Recht haben und Recht bekommen sind zwei recht unterschiedliche Tatbestände.

      DIE NONNE

      Sie entsprach bei weitem nicht den christlichen Idealen und zeigte die gleichen Verhaltensweisen wie die übrigen Erzieher. In ihrer Eigenschaft als Heimleiterin war sie sogar Vorbild für die Erzieher. Ihre Prügel glich einem Trommelfeuer. Bei der Nonne zeigte sich, wie jemand ein im Bewusstsein der Bevölkerung vorhandenes positives Bild in sein negatives Extrem verwandelte und niemand schien es zu merken. Wie sollte es auch jemand merken? In Gegenwart anderer Erwachsener zeigte die Nonne ihr liebstes Gesicht, stets freundlich lächelnd und den Eindruck erweckend, keiner Seele etwas zu Leide zu tun.

      GOTT UND TEUFEL

      Der „liebe“ Gott wurde im Kinderheim zur Förderung des Anpassungsverhaltens eingesetzt. Zunächst glaubten wir auch daran, dass es einen Gott gibt, der allmächtig ist und alles sieht, was man macht. Das jedoch unser Schicksal „gottgewollt“ sein sollte, ging uns nicht in unsere Köpfe. Da wir unser Schicksal als so gravierend erlebten, forderten wir quasi Gott heraus. Und siehe da, er ließ uns gewähren. Da der liebe Gott real nicht existent war, musste er an Glaubwürdigkeit verlieren. Gott diente nicht nur der Förderung des Anpassungsverhaltens, sondern sollte auch jede Art von Eigenaktivität hemmen, die nicht göttlichem Gebote entsprach. Obwohl es einen allmächtigen Gott geben sollte, wurde die Existenz eines Teufels nicht geleugnet. Gegen den Teufel, der Verkörperung allen Schlechten und Bösen musste man ankämpfen. Welche verrückte Erwachsenenwelt! Freilich ließ man sich zur Bändigung von Kindern recht viel einfallen.

      Die folgende Abbildung 1 enthält zusammengefasst die Sicht der Erlebniswelt ehemaliger Heimkinder in geschlossenen Einrichtungen.

ZwangsgewaltDem Gebrauch und Missbrauch durch fremde Erwachsene ausgeliefertKein Recht auf kindliche Autonomie
OhnmachtMein Wille zählte nicht mehrJeglicher Eigenwille wurde gebrochenDer Zweck heiligt die Mittel!
HeimterrorErziehungsprinzip: Befehl und GehorsamMotto: Bist du nicht willig, braucht es GewaltReligiöses Leitmotiv: Bete und ArbeiteKommunikationsmodus: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold!
Kinder nur noch ObjekteGefühls- und geschlechtslose WesenMarionetten und menschliche Wracks
Alles reglementiertEs darf gespielt werden
Gegenüber jedem Erwachsenen weisungsgebundenEin Erwachsener hatte jegliche Autorität
SelbstverleugnungVergessen