Werner Boesen

Entfremdung und Heimkehr


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sollte jedoch nicht als unumkehrbar verstanden werden. Denn die Wurzeln der Herkunft müssen erkannt werden, damit sich die Kinder ihr Leben organisieren können. Das bedeutet, auch wenn die Kinder zunächst bei ihren „Pflegeeltern“ bleiben wollen, sollte die Möglichkeit bestehen, auch bei den leiblichen Eltern wohnen und aufwachsen zu können. Natürlich sind dabei an die Erfordernisse elterlicher Toleranz möglicherweise große Anforderungen gestellt. Ich denke dabei an den Satz: Kinder sind nicht das Eigentum ihrer Eltern. Wiewohl es auch mir schwerfallen würde, solch ein vertauschtes Kind „hergeben“ zu müssen. Und ich denke, dass dieses Vertauschen auch wirklich Ausnahmefälle sind.

      Sicherlich mag es auch etliche andere „Grenzfälle“ oder „Besonderheiten“ geben. Als Besonderheit sehe ich zum Beispiel die Zwangsadoptionen in der ehemaligen DDR. Hier eskalierten beispielsweise auch die Presseinformationen in ihrer Ausdrucksweise. Da wird von Grausamkeit an Kindern und Eltern gesprochen und sogar von einem der schlimmsten Verbrechen (Die Rheinpfalz Tageszeitung v. 15.6.1991 Grausamkeit an Kindern u. Eltern). Ich denke, diese Kritik ist total überzogen und sehr befremdend, das heißt die Leute, die diese Kritik äußern, verstehen wenig von dem, um was es geht; zumindest erweckt es den Anschein. Weiterhin bleiben die Missstände im eigenen Land außer Betracht oder zumindest könnte man den Eindruck haben, in der BRD wären behördlicherseits keine Grausamkeiten an Kindern möglich.

      Um was geht es?

      Es geht darum, dass Eltern bestimmten gesellschaftlichen Normen nicht gerecht werden. Die Normen, die die Gesellschaft vorgibt, sind den Kindern wenig begreiflich. In meinem Fall interessierte es mich nicht, dass meine Mutter wechselnde Männerbekanntschaften unterhielt und auch für kein geordnetes Familienleben sorgen konnte. Die Behörden interessierten sich in keinster Weise dafür, ob wir bei unserer Mutter bleiben wollten oder nicht. Lieber bezahlte die Behörde einen teuren Heimplatz, statt unserer Mutter das nötige Kleingeld zu geben. Unabhängig von irdischen Rechtstatbeständen sind wir aus unserer Sicht als Kind damals einem staatlichen Verbrechen zum Opfer gefallen. Das Verbrechen, das darin bestand, uns von unserer geliebten Mutter wegzunehmen und uns nichts anderes bieten zu können wie Verwahranstalten. Eine seelische Grausamkeit von Amts wegen. Damit war es jedoch nicht genug. Die Verwahranstalten machten uns zu seelischen Krüppeln, denn physische und psychische Gewalt war an der Tagesordnung. Dies kannten wir von unserer Mutter nicht. Für geschlossene Anstalten interessieren sich heute genauso wenig Mitmenschen wie damals. Es ist dann schon recht beschämend, wenn mit dem Finger auf andere gezeigt wird, wobei wir selbst genug Kindesverbrechen verübt haben und weiter verüben werden. Es spielt für ein Kind keine Rolle, ob es als Heim-, Pflege- oder Adoptivkind betrachtet wird. Diese Rollen werden von Erwachsenen zugeteilt. Wenn Eltern ihre Kinder im Stich lassen und einfach weglaufen, haben sie ihr Erziehungsrecht verwirkt, sicherlich nicht auf Dauer. Doch was sind das für Vorbilder?

      Da Kinder nicht als Eigentum der Eltern betrachtet werden können, hat auch der Staat eine Mitverantwortung für die Kinder, auch wenn diese Mitverantwortung vielleicht im Hinblick auf unsere materialistische Ausrichtung etwas in den Hintergrund treten mag. Die ehemalige DDR hat ihre Mitverantwortung so definiert, dass Kinder im Sinne des Sozialismus zu erziehen sind. Man mag zu dieser Zielsetzung stehen wie man will, sie ist zunächst einmal festgelegt worden. Welche Ziele hat die BRD?

      In unserem Grundgesetz habe ich noch keinen Passus gefunden, dass Kinder im Sinne der Demokratie zu erziehen sind. Es ist ausgeführt, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen. Kinder gehören zur Familie. Wenn eine Familie zerstört wird, indem die Kinder weggeholt werden, ist es ein Armutszeugnis, wenn diese Kinder nur in Verwahranstalten gesteckt werden. In dieser Hinsicht ist die BRD noch ein Entwicklungsland.

      Da mir als Kind gesellschaftliche Normen noch fremd sind, wäre mir mehr damit gedient, in eine Familie integriert zu werden. Ich möchte natürlich nicht leugnen, dass auch in einer neuen Familie seelische Grausamkeiten vorkommen können. Es wäre auch ein Trugschluss davon auszugehen, Kinder vor jeglicher seelischer Grausamkeit schützen zu können. Wichtig ist jedoch bei alledem, dass Kinder ihre Erlebnisse aufarbeiten können und Ansprechpartner haben, die viel Verständnis aufbringen. Dann lassen sich auch seelische Grausamkeiten in gewisser Weise heilen. Dazu vergeht natürlich auch viel Zeit. Gutmachen lassen sich seelische Grausamkeiten jedoch nicht. Wie sollte das gehen? Es ist bestenfalls eine gewisse Genugtuung, wenn solches Unrecht nicht weiter passiert und die Verantwortlichen dafür einstehen müssen. Und ob wir letztlich mehr Schaden als Nutzen von unserer Vergangenheit gehabt haben, wer kann dies beurteilen? Letztlich wohl nur wir selbst. Vielleicht ist gerade unsere Vergangenheit für uns auch eine heilsame Lehre gewesen.

      Was blieb uns auch anderes übrig, als uns auf unsere „eigene Beine“ zu stellen und das Beste draus zu machen? Mir ist es in einem weitaus stärkeren Maße gelungen, wie es meine Herkunft vermuten lässt. Mein Dank gilt dabei insbesondere auch den Pflegeeltern, die ihren Beitrag geleistet haben für etwas, was sie ebenfalls nicht für möglich hielten. Schade nur, dass Pflegeeltern so wenig Bedeutung staatlicherseits zukommt. Die in Aussicht gestellte Pflege auf Zeit entspricht weder dem Bedürfnis des Kindes nach einer dauerhaften Bezugsperson noch dem Bedürfnis der Pflegeeltern eine dauerhafte Ersatzmutter und ein Ersatzvater sein zu können. Diese Bedürfniskonstellation wird zu leicht durchbrochen von Behörden, die unbedingt eine Pflegestelle finden müssen, weil an und für sich anständige und fleißige Jungs und Mädels aus dem Heimtrott herausmüssen, wie im Falle von meinen Geschwistern und mir. Dann interessieren auch die Motive der Pflegeeltern nicht mehr. Pflegekinder stehen dann zu leicht in der Gefahr, als „billige“ Hausarbeitskräfte ge- und verbraucht zu werden. Dies ist nichts anderes als moderne Sklavenhalterei. Dafür sollten sich auch Pflegeeltern zu schade sein. Sie sollten zu ihrer originären Bedeutung stehen, auf Dauer Ersatzeltern zu sein und nicht nur auf Zeit. Das sollte zu Beginn der Pflegekindbeziehung den Behörden deutlich gemacht werden. Wenn die Behörden hier keine Einsicht haben, kann ich den Eltern nachfühlen, die beispielsweise 15.000 Euro und mehr ausgeben, um sich ein Kind aus der 3. Welt zu adoptieren (siehe zum Beispiel Website Eltern für Kinder e.V., Staatlich anerkannte Adoptionsvermittlungsstelle https://www.efk-adoptionen.de/adoption/kosten/). Dies ist eine klare erzieherische Ausrichtung, die von vornherein die Gewähr dafür bietet, auf Dauer angelegt zu sein.

      Auch wenn es aus Erwachsenensicht viele für unmoralisch halten, Kinder aus der 3. Welt zu „kaufen“ und an begüterte Eltern zu „verkaufen“, ist dies aus Kindessicht kein Thema. Dem Kind eröffnet sich eine Chance, die es sonst nie hätte. Aber welche Sozialarbeiter interessiert so etwas? Dabei sind sie selbst auch nichts anderes als „Kindesvermittler“, werden dafür jedoch nicht so gut bezahlt. Und jemand, der Geld hat, den interessiert es recht wenig, wieviel er für etwas hinlegen muss. Natürlich dürfte er auch froh sein, etwas ohne Geld zu bekommen. Doch dafür ist ein anderer „Kaufpreis“ fällig, nämlich der Preis, den Vorstellungen von Behördenmenschen zu entsprechen. Und dieser Preis ist für viele weitaus „teurer“ als irgendeine Summe Geld.

      3. Sozialarbeiter wursteln sich durch! Ein Kind hat noch keine Kinderrechte?!

      Wenn wir uns rückwirkend die Aktivitäten unserer Sozialarbeiter betrachten, können wir zunächst - wenn auch noch etwas oberflächlich - nur feststellen, dass sie sich mehr oder weniger erfolgreich durchgewurstelt haben.

      Jedes Kind, das vom Büroschreibtisch in die „Aktenablage“ wandert, ist „versorgt“. Sollten unerwarteterweise die Pflegeeltern vorsprechen, ist die alte Akte schnell wieder griffbereit, nur um ggf. noch einmal drauf hinzuweisen, wie verhaltensgestört ja das Kind war und auch noch ist usw. Vielleicht wird abschließend noch einmal deutlich gemacht, dass es halt so seine Zeit braucht, bis sich das Kind „in den Griff bekommt“ und es war ja auch das Beste von den vielen, die noch in Heimen sind. Die Pflegeeltern sind erst mal ruhiggestellt, die Sozialarbeiter können sich nochmal eine „Verschnaufpause“ gönnen und sich schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, wohin das Kind kommt, wenn es dann gar nicht klappt.

      Sicherlich kein leichter Job, doch auch dieser Job als Sozialarbeiter/in in Jugendämtern wird zur Routine, härtet ab, macht betriebsblind, macht gefühlskalt. Eigenschaften, die der Welt eines Kindes fremd sind und genau das Gegenteil darstellen: ein Kind ist gefühlsbetont, sensibel, spontan. Eigenschaften, die ein Kind kennzeichnen