Axel Birkmann

Der tote Hund in der Dachrinne


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nickten ihm aufmunternd zu. Und die ersten Smartphone wurden gezückt, um Bilder oder Videoaufnahmen zu machen.

      Das Dach des Hauses war nicht mehr als zehn Meter über dem Boden, doch die lange Drehleiter, auf der er mühsam Zentimeter um Zentimeter in die Höhe stieg, sah aus seiner Perspektive fast so aus, als ob sie direkt in den Himmel führte. Er musste sich zusammenreißen. Alle starrten jetzt auf ihn und den Feuerwehrmann hinter sich, der ihn Gott sei Dank nicht drängte, sondern ganz einfach nur bedächtig und umsichtig hinter ihm her kletterte. Die Leiter berührte nicht das Dach, sondern führte fast parallel an der steilen Neigung des Daches entlang. Nach vielen unzähligen Sprossen hielt sich Kreithmeier an der Leiter fest und blickte auf die rot lackierten Ziegel des Hauses. Unterhalb davon konnte er die Dachrinne entdecken. Aber keine Leiche, keinen Toten. Mit beiden Händen sich am Geländer fest haltend, drehte er sich um und fragte den Zugführer hinter sich:

      »Wo ist die Leiche?«

      »Dort in der Dachrinne. Warten Sie, ich bewege die Leiter näher heran, dann können Sie besser sehen.«

      Bevor Kreithmeier noch etwas erwidern konnte, drückte der Feuerwehrmann auf eine Fernbedienung in seiner Hand und die Leiter drehte sich näher ans Haus und an die Dachrinne. Kreithmeier hielt sich krampfhaft mit beiden Händen fest, als die Leiter herum schwenkte und sich zusätzlich noch ein bisschen tiefer senkte. Das war nicht seine Welt. Er blickte nach unten und sah unter sich die weit aufgesperrten Mäuler der Schaulustigen, die nur darauf warteten, dass er sich hier oben blamierte oder seinen Halt verlor und in die Tiefe stürzte.

      »Wo?«, fragte er zitternd ein zweites Mal.

      »Hier genau unter uns. Dort liegt der Tote.«

      Alois Kreithmeier konzentrierte sich. Er vergewisserte sich, dass er mit beiden Füße fest auf einer der Sprossen stand, seine beiden Hände das Geländer fest umklammerten, und erst dann beugte er sich hinunter, um den Toten besser erkennen zu können.

      Ihm stockte der Atem, als er erkannte, um was für einen Toten es tatsächlich ging. Hätte er jetzt eine Hand frei gehabt, hätte er dem Feuerwehrmann gerne eine Ohrfeige gegeben, als Strafe, ihn für so Etwas vom sicheren Boden über eine wackelige ewig lange Leiter in die Höhe zu jagen. In der Dachrinne lag ein Toter, das war richtig. Doch in der Dachrinne lag kein Mensch, sondern ein kleiner toter Hund, ein toter Dackel. Und deswegen hatte man ihn, Kriminalhauptkommissar Alois Kreithmeier, von seinem morgendlichen Spaziergang geholt und mit einem muffigen Feuerwehrhelm eine turmhohe Leiter hochgejagt. Doch leider konnte er nicht. Eine Ohrfeige austeilen. Jedes seiner Gliedmaßen war fest mit der Leiter verbunden. So musste er sich seinen Gefühlsausbruch aufheben, bis er wieder unten war. Aber dann.

      »Was soll das? Wollen Sie mich verarschen? Ein verspäteter Aprilscherz, oder versteckte Kamera? Sie jagen mich wegen einem toten Dackel hier rauf, verlangen nach Spurensicherung und Mordkommission? Sie sind nicht ganz sauber?«

      »Ich bitte Sie. Wie kommt denn ein Dackel aufs Dach? Schließlich tot in eine Dachrinne, und dann das alles bei einem vereitelten Einbruch in die besagte Villa hier?«

      »Ein Einbruch? Davon hat mir niemand etwas erzählt. Und dafür bin ich auch nicht zuständig. Also was soll das alles hier?«

      »Wollen wir das hier oben auf der Leiter besprechen oder können wir wieder hinunter?«

      »Natürlich will ich wieder hinunter. Wem gehört der Hund?«

      »Den Besitzern der Villa, einem Bauunternehmer. Die Tochter des Hauses hat den toten Hund entdeckt. Nur zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass er tot war. Sie dachte er hätte sich auf dem Dach verlaufen und säße in der Dachrinne fest. Deshalb der Anruf an die Feuerwehr. Wir konnten nur noch seinen Tod feststellen. Haben ihn aber nicht berührt. Spurensicherung ist Ihre Aufgabe. Aber eines ist sicher: Er ist keines natürlichen Todes gestorben. Das ist gewiss.«

      »Und dann haben Sie gedacht, das ist ein Fall für die Mordkommission, weil wir so wenig in Freising zu tun haben. Sie Vollidiot. Das hat ein Nachspiel«, wetterte Kreithmeier von oben auf den Feuerwehrmann herunter.

      »Ich bitte Sie, das ist doch nahe liegend.«

      »Schwachsinn. Wir sind nicht für ungewöhnliche Todesfälle bei Vierbeinern zuständig. Da hätte es gereicht, wenn Sie einen Tierarzt geholt hätten. Auf geht’s. Klettern wir wieder herunter.«

      Kreithmeier blickte nach unten, dabei passte er vorsichtig auf, dass er seine Füße fest auf den Leitersprossen absetzen konnte. Sein Blick schweifte von oben über die Köpfe der Schaulustigen. Dabei entdeckte er keine Autolänge vom Feuerwehreinsatzfahrzeug entfernt, eine Person auf das Haus zu kommen, deren Gang er nur zu gut kannte. Hüfte und blonde Mähne schwingend stakste seine Partnerin auf die Gruppe zu. Mit einer kecken Bewegung wehte sie sich das lange Haar aus dem Gesicht und winkte ihm zu, während sie wie ein Mannequin auf dem Laufsteg in knappem Rock und hohen Absätzen lächelnd in seine Richtung stolzierte.

      Das hatte ihm noch gefehlt. Melanie Schütz hier. Und er auf der Leiter mit diesem schrecklichen Helm auf dem Kopf. Er sah beileibe nicht aus wie der Held, der unter Einsatz seines Lebens ein junges Mädchen aus den tobenden Flammen rettet. Nein, er sah ganz einfach bescheuert aus, und das wusste auch sie. Auf der letzten Stufe angekommen, nestelte er sich den Schutzhelm vom Kopf , drückte ihn ohne hinzuschauen irgendjemanden in die Hand, kletterte vom Feuerwehrwagen und stand seiner Kollegin sprachlos schwer schnaufend gegenüber.

      Sie sah ganz einfach glänzend aus. Kurzer knapper Rock, hoch gepuschter Busen, ein strahlendes Lächeln und ihre langen blonden Haare. Obwohl es früh am Morgen war, hatte sie keine Schlafffalten, einen gesunden Teint und eine positive Ausstrahlung als ob sie gerade von einer Castingshow, »Deutschland sucht die Toppolizistin“, gekommen war. Neid, Neid, Neid.

      Plötzlich war nicht mehr er der Held, der sich auf die Leiter geschwungen und sich der Gefahr der Höhe gestellt hatte, nein, sie stand jetzt im Mittelpunkt. Nicht der verknöcherte frustrierte sitzen gelassene Mittvierziger mit Anzug vom K+L Ruppert und Schuhen vom Deichmann, grauen Haaren und Mundfalten, nein eine junge dynamische weltoffene Polizistin, zwar aus den neuen Bundesländern, was vermeintlich zu hören war, wenn sie den Mund aufmachte, verschlang die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Wie er das hasste.

      Und dann die Schuhe. Highheels mit zehn Zentimetern oder noch mehr. Wie konnte sie in solchen Schuhen einem flüchtigen Täter hinter rennen? Gott sei Dank waren sie beide nie in diese Situation gekommen, sie mit ihren Schuhen und er mit seiner Kondition, die nur für ganze 100 Meter ausreichend war. Wenn überhaupt?

      »Alles im Griff?«, unterbrach Melanie Schütz seine Gedanken. Alois Kreithmeier brachte nur ein unverständliches »Schau ma amoi« heraus. Einer seiner Lieblingssprüche, den er vom Franz Beckenbauer abgeschaut hatte.

      »Der Tote ist ein Hund, ein Dackel, richtig?«, fragte sie laut.

      »Ja, richtig!«, murmelte er.

      »Und jetzt? Was machen wir? Die Spusi ist auf dem Weg. Es klang wie eine männliche Leiche, nicht wie ein Zamperl?«

      Kreithmeier hasste es, wenn Melanie mit ihrer sächsischen Aussprache bairische Worte in den Mund nahm. Obwohl sie ihm immer treu versicherte, ihr Dialekt sei nicht sächsisch, denn sie stamme aus Thüringen. Sächsisch wäre noch viel schlimmer. Münchnerisch sei auch nicht bairisch konterte sie immer, wenn er sie darauf ansprach und er den Unterschied zwischen den beiden Dialekten nicht verstehen wollte.

      »Ein Rauhaardackel, um es genau zu sagen. Und vermeiden Sie bitte diese bairischen Ausdrücke. Es klingt dämlich aus Ihrem Mund«, flüsterte er ihr zu. Sie lachte nur und zeigte dabei ihre weißen Zähne. Sie nahm ihn nicht Ernst. Sie zog ihn auf, wie und wann sie nur konnte. Er ging nicht darauf ein und sagte laut, dass es alle hören konnten:

      »Der tote Hund liegt in der Dachrinne in etwa zehn Meter Höhe. Ein Dackel klettert normalerweise nicht auf ein Dach. Er ist ja keine Katze. Also muss der oder die Täter den Leichnam dort oben abgelegt haben. Wie sollte er sonst dort hinauf kommen?«

      »Und was haben wir damit zu tun?«, fragte Melanie ihren Kollegen mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihr Lächeln war schwer einzuschätzen. Lachte sie ihn aus