Karl Michael Görlitz

Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3


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wenn man mit Straßenschuhen darüber huschte. Neukölln hieß der Bezirk, in dem wir nun wohnten, und selten gab es eine Gegend, die schlechter zu ihrem Namen passte, denn neu war hier gar nichts. Eher im Gegenteil. Neu waren hier lediglich das Hertie-Kaufhaus und einige Häuser, die in den 50er Jahren die Bombenlücken füllten, und die auch schon wieder reichlich mitgenommen wirkten. Berliner Mischung in der Grundfarbe dreckig. Ein Arbeiterviertel, ziemlich hässlich, aber mit verstecktem Charme, der wirklich gut versteckt war.

      Im ehemaligen Rixdorf lauerten gemütliche Bauernhäuschen mit Obstgärten hinter schwärzlichen Mietskasernen, was zutiefst überraschend war, und unweit davon spielte ein kompletter Park, mit Orangerie und leider vertrockneter Kaskade, Häschen in der Grube. Ein reicher Kiesgrubenbesitzer hatte seinen Tagebau mit freundlichen Grüßen und neuer Füllung an die Stadt zurückgegeben. Als noble Geste und völlig unpassend in der ärmlichen Umgebung. Aber schön.

      Es gab noch einen Dorfplatz mit Barockkirche, Schmiede, Böhmischen Gottesacker und Stadtvillen der wohlhabenderen Landmännern ringsum, aber das gehörte schon nicht mehr zu unserem direkten Wohnumfeld, es lag aber sozusagen vor der Haustür, wie in anderer Richtung Kreuzberg, welches das berüchtigte Szenenviertel darstellte.

      Zum Einkaufen für den täglichen Bedarf gab es das Warenhaus am Rathaus, zwei Fleischer, einige Häuser weiter Bäckerei und Obstladen. Im Parterre hatte sich eine Pizzeria mit äußerst schlichter Dekoration breitgemacht, und um die Ecke hatten sich noch Tier- und Zahnarzt niedergelassen. Deren Eingang war ungleich prächtiger, mit Stuck und Marmor, bei uns war der Gips abgeschlagen, dafür besaßen wir einen Fahrstuhl. Eine Bombe war im Weltkrieg ins Dach gerasselt und das teilzerstörte Haus war schmucklos wieder bewohnbar gemacht worden. Unsere Wohnung ging um die Ecke, was günstig für die Raumfolge war und uns das sogenannte Berliner Zimmer ersparte, ein Durchgangszimmer, welches den Seitenflügel mit dem Vorderhaus verband, wo sich ein zweiter Flur anschloss, der zur Küche, Schlafräumen und Dienstbotenkammer, sowie Personaleingang führte. Fast alle Großraumwohnungen waren ähnlich geschnitten, die nicht ganz so wichtigen Zimmer zum Hof, der im übrigen auch lärmgeschützter war.

      Wir schliefen im Balkonzimmer, welches zur Innstraße lag. Gegenüber, auf Augenhöhe lag ein Ehepaar fast den ganzen Tag auf der Lauer. Hingebreitet auf Kissen im Fenster folgten ihre Gesichter wie Stiefmütterchen dem Lauf der Sonne, denn ansonsten gab es nicht viel zu sehen in der ruhigen Straße.

      Unter ihnen ging ein besonders hübscher Apotheker, der auch nichts weiter mit der Geschichte zu tun hat, seinen Geschäften nach. Außer vielleicht, dass er einmal zum Kaffee herüberkam und sich angenehm überrascht zeigte, dass hinter den ständig geheimnisvoll zugehangenen Fenstern sich so etwas wie ein fast normaler Haushalt verbarg.

      »Wir waren so neugierig, was sich wohl hinter den Pferdedecken in ihren Fenstern verbergen mochte, dass ich unbedingt einmal nachschauen musste.«, erklärte er uns erleichtert. So, so, als Pferdedecken wurden meine eleganten Fensterdekorationen von unten wahrgenommen! Nun ja, Heteromänner verstehen eben nicht viel von der Kunst, mit Stoffen zu zaubern, auch wenn sie zauberhaft aussehen.

      Die Gegend litt schwer unter ihrer Bedeutungslosigkeit, dabei lag um die Ecke ein Hallenbad, von welchem man wahre Wunderdinge hörte. Ein Badepalast wie im alten Rom, mit säulenumstandenen Becken und Mosaiken unter der Gewölbedecke, Massagebänken aus eitel Marmor und wasserspeienden Delphinen, die von allerliebsten Putti geritten wurden. Das wärs eigentlich gewesen, um mich mit der Ödnis ein wenig mehr anzufreunden, aber das Bad war wegen Renovierung geschlossen und blieb es, solange wir in der Sonnenallee wohnten. Erst kurz vor unserem Wegzug wurde es feierlich wiedereröffnet und wir bekamen Gelegenheit, es trockenen Fußes zu durchschreiten. Gebadet haben wir dort nie.

      Auch die Sonnenallee war eher schattig, vier Reihen alter Kastanien säumten Gehweg und Mittelpromenade, auf der schon lange niemand mehr promenierte. Im Sommer hatte man den Eindruck eines grünen Tunnels, der sich endlos lang hinzog. Das war wirklich schön und versöhnte ein wenig mit dem Blick auf den immergrünen Kunstrasen des Sportplatzes mit seinem gnadenlosen Flutlicht auf der anderen Straßenseite. Elf Freunde sollt ihr sein. Oftmals hörte sich das gar nicht so an, besonders am Sonntag, wenn spärliches Publikum das Rasengrün umstand und unzufrieden johlte. Hier brauchten wir keine Vorhänge um neugierige Blicke abzuwehren, und hier saßen wir am Wochenende mittags beim Frühstück und warfen gelegentlich einen gelangweilten Blick auf die vierundvierzig strammen Männerbeine, die sich unten tummelten. Fußball! Das war uns viel zu rustikal.

      Da schlurrten wir doch lieber in den Hauspantöffelchen in unser geliebtes Ili-Kino, gleich neben dem Fußballfeld. Ein Kino, in welchem die Zeit in den 50ern stehen geblieben war, mit verblichenen Diplomen im Foyer, dessen Tapete auch schon museal zu nennen war, die es als Filmkunst-Lichtspieltheater von Weltrang auswiesen.

      Der Typ hinter der Kasse war klasse. Genau so verschroben wie das Kino, welches er praktisch im Alleingang betrieb. Es gab zwar noch einen Filmvorführer und eine Chefin mit Kontrollzwang, mit welcher er telefonisch in ständigen Kontakt stand, aber gesehen hat man beide nie zusammen. Vielleicht führte er auch Selbstgespräche mit dem Telefonhörer, den er ständig am Ohr hatte und nur beiseite legte, um in der Kasse nach Wechselgeld zu kramen. Hatte man noch einen Zusatzwunsch, wie ein Eis oder ein Tütchen Gummibärchen, geriet er prompt ins Schleudern, denn dafür gab es eine Extrakasse. Und der Vorgang des Geldwechselns begann erneut. Schließlich musste alles seine Ordnung haben, und nachdem er die übergeordnete Instanz telefonisch informiert hatte, reichte er beides durch den Schlitz im Fenster, welcher danach wieder sorgfältig verschlossen wurde. Danach erhob er sich von seinem Platz und schlurfte aus dem Kassenbereich, nicht ohne vorher der Chefin kurz Bescheid zu geben, dass er nun den Akt des Einlasses vornahm.

      In den 50er Jahren mochte er eine flotte Erscheinung gewesen sein, wenn er sommers in kurzen Höschen und nabelfrei, mit auf der mageren Brust flott zusammengeknoteten Hemd à la St.Tropez und Badelatschen hinter der Eingangstür erschien, aufschloss, und die Besucher nach strenger Prüfung der Kinokarte, die er soeben selbst verkauft hatte, einzeln einließ, bevor er wieder absperrte und die gemächliche Prozedur beim nächsten Besucher von neuem begann. War man erst einmal drin, war man auf sich selbst angewiesen und konnte sich hinsetzen, wo man wollte, denn es gab nur einen Einheitspreis. Zum Glück war es nie voll, denn ansonsten hätten die letzten Kunden rechts gehen müssen, um den Hinausströmenden Platz zu machen, die über den gesehenen Film diskutierten.

      Die Leute in der Warteschlange murrten nur verhalten, denn wer ins Ili ging, wusste Bescheid und kam rechtzeitig. Wer wollte auch schon die blöden Werbefilme sehen. Erst wenn der Hauptfilm bereits angefangen hatte, machte sich gewisse Unruhe breit und der Mann an der Kasse geriet in Schwierigkeiten, die er mit der Chefin erst ausdiskutieren musste, bevor er zur Tat schritt. Gelegentlich zeigte man tatsächlich Filmkunst, wohl um den Ruf zu wahren, aber in der Hauptsache wurden die üblichen Blockbuster in der zweiten Verwertungskette nachgespielt, da es noch keinen Video-Verleih gab. Das Haus hatte aber eine Filmspezialität, die jede Samstagnacht gezeigt wurde: Cheech and Chong, die Dauerbekifften. Viele der sogenannten Off-Kinos hatten zu dieser Zeit ihre Spezialität des Hauses, so wie zum Beispiel das Kolonna in der Kolonnenstraße. Dort spielte jeden Sonnabend die Rocky Horror Picture Show, wo man mit einem Tütchen Reis nebst Wasserpistole antreten musste. Ein anderes Filmtheaterchen zeigte mit Hellzapoppin den wahrscheinlich lustigsten Film aller Zeiten zu Flaschenbier. Und wir hatten Cheech and Chong mit den Tütchen auf der Leinwand und im Herrenklo, da im Saal nicht geraucht werden durfte.

      Es war ein Erlebnis, den Film mehrmals zu sehen, da man die witzigen Dialoge meist nicht mitkriegte, weil die breite Masse schon vorher grölte. So enthüllte sich der Sinn nur nach und nach, und es war immer eine Freude, eine neue Pointe zu entdecken.

      Auch in der Kindervorstellung am Sonntagnachmittag war schwer was los bei den Glücklichen, die noch Einlass gefunden hatten. Bei dem Hollywood-Epos Die zehn Gebote saß doch tatsächlich eine fromme Familie hinter mir, die das Buch zum Film mit sich führte und einem Vater, der seinem Sprössling daraus predigte. Der aber hörte gar nicht zu, und bei der Szene, in welcher Moses das rote Meer teilt, brüllte er heulend los: »Moses renn! Moses renn!«, bis Papa ihn Mores lehrte und das Kind entfernte. Oder noch so ein Dialogfetzen, der mir im Ohr geblieben ist. Der hinterhältiger Kater im Trickfilm fällt in einen tiefen Brunnenschacht und ein Kind hinter