Dagmar Herrmann

Zwischen Menschlichem


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      Jeremiah, der für dich ein gutes Wort im Himmel einlegen wird.“ –

      Ich war zutiefst erschüttert und konnte gar nicht schnell genug meine rollenden Tränen aus dem Gesicht wischen. Mich wunderte nur, dass alles auf eine Seite des Papiers gepasst hatte.

      Inspiriert von einer Geschichte aus dem

      Buch „Madita“ von Astrid Lindgren.

      Margot bettet Jockel in eine der großen Zigarrenkisten, die sie von Onkel Friedrich abgestaubt hat. Die Unterlage aus weicher blauer Watte aus Mutters Kosmetikbeutel dient als Matratze. Liebevoll deckt sie ihn mit einem hellbraunen Stückchen Samt zu, das sie aus einem abgelegten Sofakissen geschnitten und gesäumt hat. Margot liebt ihren Jockel unsagbar.

      Caroline tut es immer mehr leid, dass sie Margot den Jockel zum 12. Geburtstag geschenkt hat. Sie hat die kleine Holzpuppe selber geschnitzt, die sogar ihre Gliedmaße bewegen kann und ihm die Sachen, die er trägt, geschneidert und gehäkelt: ein spitzes hellblaues Mützchen aus Baumwolle, kariertes Hemd und Sepplhose, weiße Baumwollstrümpfe mit roter Bordüre und braune Schühchen aus einem Stück Leder. Er sieht aus wie ein kleiner lustiger Junge. Und so hat Margot ihn ins Herz geschlossen, und jetzt heißt es: Jockel hier und Jockel da. Jockel sitzt mit am Tisch, Jockel auf Margots Schoß, Jockel in der Schultasche, Jockel im Kino. Margot hat keine Augen mehr für ihre allerbeste Freundin.

      Caroline fühlt einen brennenden Schmerz und schließlich einen törichten, abgrundtiefen Hass auf die kleine Holzpuppe.

      Eines Tages jedoch, als Margot von ihrer Mutter mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet, in die Küche gerufen wird, ist sie mit Jockel ganz allein in der Wohnstube. Der sitzt ihr gegenüber auf dem Sofa, sorgfältig an ein Kissen gebettet, Caroline am Wohnzimmertisch ihm Aug in Aug gegenüber. Caroline blickt Jockel unentwegt an. Es scheint, als bewege er seine Lider, was doch ganz unmöglich ist. Es scheint ihr, als blicke er sie aus den aufgemalten hellblauen Augen höhnisch an. Caroline kocht vor Wut. Sie beugt sich über den Stubentisch, um ihm direkt in das alberne hölzerne Gesicht zu starren.

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      Ich kann doch nichts dafür

      Nun gerät die brennende gelbe Kerze, die im Kerzenhalter aus Murano-Glas auf der bestickten kostbaren Brokattischdecke steht, ins Wanken. Vor Schreck erstarrt sieht Caroline zu, wie sie einen kleinen Bogen zu beschreiben scheint, um eigens auf Jockel zu landen, der unverzüglich Feuer fängt. Caroline glaubt an eine Fügung des Schicksals!

      Plötzlich greift das Feuer um sich, die Tischdecke brennt und aus den Sofakissen züngeln die Flammen. Caroline stürzt aus dem Haus und rennt so schnell sie ihre Beine tragen durch den Garten auf die Straße, immer weiter die Landstraße hinauf. Außer Atem kommt sie auf einer kleinen Anhöhe zum Stehen. Erst hier dreht sie sich ganz langsam und zögernd um: Das Haus brennt lichterloh.

      Aus Frau Tück konnte man nicht recht schlau werden.

      Sie erweckte den Eindruck einer netten kleinen Dame, ein harmloses putziges Mütterchen, das kein Wässerchen trüben konnte, von derart zierlichem Knochenbau, dass es schien, ein Windhauch würde ausreichen, um sie wegzupusten. Jener Typ weiblichen Wesens, welches vom zarten bis ins hohe Alter gewohnt war, dass ihr ungebeten in den Mantel geholfen und die Tür aufgehalten wird.

      Ihr Haar, das sie offenbar auf altmodische Art mit einer Brennschere selbst ondulierte und recht unstatthaft bis auf die Schultern fiel, war schlohweiß, um Augen- und Mundwinkel hatten sich bereits spinnwebenfeine Fältchen gelegt und schmale Furchen gegraben. Hingegen verliehen ihr straffe rosige Bäckchen einen kindlichen Ausdruck und machten es schwierig, ihr Alter einzuschätzen.

      Frau Tück kleidete sich bescheiden, solide und bequem und stets in gedeckten unauffälligen Farbtönen. Wenn sie ausging, trug sie meist einen langen wallenden Umhang, unter dem Schnürstiefel hervorlugten. Sommertags sah man sie in knöchellangem Rock, weißen oder zartfarbenen Spitzenblüschen, die am Hals bis oben hin zugeknöpft und mit altmodischen Kameebroschen verziert waren. So schritt sie einher wie ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit.

      Das war an sich nichts Verwerfliches, aber außergewöhnlich genug, um einige Verwunderung in dem sie umgebenden Milieu eines unverschuldet ziemlich heruntergekommenen Arbeiterviertels hervorzurufen. Doch in der Nachbarschaft hatte man sich an Frau Tück und ihre Eigenheiten gewöhnt. Sie war ja ansonsten eine durchaus liebenswerte und freundliche Person, sollte man meinen.

      Wenn sie ihre Besorgungen machte, überschlugen sich die Verkäufer und Verkäuferinnen, ihr zu Diensten zu sein. Sie wählte ihre Worte sorgsam und sobald sie anhob, in einem verhaltenen, ihr eigenen Singsang zu sprechen, dämpften unverzüglich alle Anwesenden ebenfalls die Stimmen und hörten ihr aufmerksam zu. „Bitte“, sagte sie mit betörendem Augenaufschlag in einschmeichelndem Ton, niemand wäre imstande, eine Bitte weicher, inständiger und gleichzeitig entschiedener vorzubringen.

      Ihre samtbraunen Augen überschattet von langen Wimpern glichen denen eines Rehs. Nur etwas passte nicht recht ins Bild: Stets trug sie sehr auffällige Ohrringe, die blitzten und funkelten und zu der Sanftheit des Augenpaars im Widerspruch standen. Wie kleine tückische Irrlichter tanzten sie an ihren Ohrläppchen, winzige glitzernde Funken versprühend. Es schien, als verzerre sich der gütige Mund zu einem hämischen Grinsen; insgeheim von empfindsamen Zeitgenossen mit gewissem Unbehagen wahrgenommen, die sich schließlich schuldbewusst beeilten, dies den Ausschweifungen ihrer überbordenden Fantasie zuzuschreiben.

      Frau Tück wohnte in einer schnuckeligen alten Villa in der Morgenlandstraße, eines jener Gebäude, die gebaut wurden, als der Stadtteil bessere Zeiten gesehen hatte Wann und Woher sie eines Tages, bereits im fortgeschrittenen Alter, gekommen war, wusste niemand mehr so recht, auch nicht die Alteingesessenen. Die einen meinten, sie hätte schon seit Menschengedenken in der Villa gewohnt, andere sagten, sie sei vor längerer Zeit aus Südafrika eingewandert. Es wurde gemunkelt, die Alte verfüge über übersinnliche Kräfte, die ihr bei den „Kaffern“ und „Hottentotten“, von einer Voodoopriesterin beigebracht worden wären, nicht wirklich wissend, was das eigentlich sei, Voodoo.

      Sie lebte vollkommen zurückgezogen, nie hatte sie Gäste. So konnten sich allerlei Gerüchte und Anekdoten um die Villa und ihre Bewohnerin ranken.

      Zum Beispiel, dass Frau Tück eine äußerst merkwürdige, spannungsreiche Beziehung zu Kindern habe. Die Kinder selbst waren einerseits von ihr fasziniert, da sie allein durch ihre ungewöhnliche Erscheinung die Kindern eigene Vorstellungskraft anregte. Andererseits fürchteten sie Frau Tück, ja gruselten sich direkt vor ihr. Wozu etliche Vorkommnisse der unheimlichen Art beitrugen, deren Hergang sich wie ein Lauffeuer bis in den letzten Winkel des Viertels verbreitete.

      „Vallah“, sagte Deniz, „ich schwöre. Ich habe gesehen, wie sie sich plötzlich in Nichts auflöste und eine stinkende kleine Rauchwolke hinterließ, nur noch ein paar Funken flogen.“

      Es sei gewesen wie bei einem verlöschenden Silvesterknaller und habe auch genauso ein Geräusch verursacht. Mit Silvesterknallern kannte Deniz sich aus.

      Ein besonders dramatisches Aufeinandertreffen hatte Melissa mit Frau Tück. Melissa war dafür bekannt, ein besonders freches und naseweises Ding zu sein. Sie waren ja alle keine Unschuldslämmer, aber da war man sich einig, Melissa war besonders schlimm.

      So war niemand überrascht, als Melissa mit Frau Tück auf recht nachhaltige Weise aneinander geriet. Janine und Aishe konnten Zeugnis ablegen, dass es dazu kam, als Melissa ihre leere Bonbontüte vor der Nase von Frau Tück demonstrativ auf den Bürgersteig fallen ließ, und dies obwohl allgemein von der lieben Frau Tück bekannt war, dass sie zur Furie werden konnte, wenn jemand seinen Müll auf der Straße „entsorgte“.

      Wie nicht anders zu erwarten, wies sie Melissa