Dagmar Herrmann

Zwischen Menschlichem


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      „Das geht Sie doch gar nichts an, Sie alte Schreckschraube!“

      Woraufhin Frau Tücks Glitzerohrringe wie verrückt zu funkeln begannen. Mit dem Zeigefinger, aus dem ihr plötzlich ein enorm langer Fingernagel spitz wie ein Dolch herauswuchs, deutete sie auf Melissa und zischte:

      „Du ungezogene Göre, wenn du nicht gleich still bist, häng ich dir ein Schloss vor dein loses Mundwerk. Hebe deinen Unrat unverzüglich auf!“

      Melissa tat selbstverständlich weder das eine noch das andere, rief: „Fex fex, alte Hex“ und rannte davon.

      Einen Tag später kam Melissa nicht in die Schule. Es hieß, sie habe die Maul- und Klauenseuche und ihre Zunge sei so geschwollen, dass sie kein Wort mehr herausbringen konnte.

      Wen wundert es, dass nach dieser Begebenheit die zwiespältige Haltung der Kinder, geprägt von Heidenangst und Hochachtung, und die Gerüchteküche um Frau Tück neue Nahrung erhielten.

      Verborgen

      dort

      hinter den Häusern,

      den sauber geputzten Fensterscheiben,

      den ordentlich gezogenen Rabatten, einer Zeit,

      in der jedes Weizenkorn von Bedeutung,

      Apfelhäuschen mitgegessen

      wurden,

      fand es die Wiese mit bunten Blumen,

      dem Duft von Ginster, dem satten Gelb des

      gemeinen Löwenzahns, das unschuldige Weiß

      wippender, nickender Margeriten,

      wenn der Fuß sie streifte, sorgsam,

      Schritt für Schritt achtend, kein

      Blatt oder Halm zu krümmen

      dort

      im Weizenfeld, leuchtendes Blau der Kornblume,

      am Rande

      feinste blässliche Bläulichkeit

      achtsamer Wegwarten boten den Augen

      Trostspender Schönheit.

      In der Mulde aus feinstem Sand, sonnengewärmt,

      schickte es Traumbilder den Wolken nach,

      aufwärts fliegende Gedankenstifte, hingeworfene Riesengebirge

      zeichnend und formend,

      und wenn die Farbe vom Weiß ins dunkle Grau

      wechselte, die Sonne sich zwängte

      durch Berg und Tal, schwebte

      sie fort, mit ihnen Abenteuer

      zu suchen und

      zu bestehen

      In lilablassem Tüllkleid mit schwarz polierten

      Lackschuhen

      tanzend

      in einem Zuckerbäckerschloss

      aus blanken durchsichtigen Mauern

      auf dem Schwarzweißkarree eines gewienerten Schachbrettbodens

      Alice im allerkleinsten Format

      und der weiße Hase

      im Überschwang

      seiner Taschenuhr verlustig gegangen

      schlitternd und

      jauchzend

      und wenn sich an goldenen Schnüren

      der purpurrote Vorhang hob

      am äußersten Ende des prunkvollen Saals:

      dort

      treten hervor auf eine fantastische Bühne

      huldvolle Engel, schrille Spaßvögel, balancieren

      lustige Gesellen aufgesetzte spitze Hüte

      mit ausladender Krempe, scheckig und fleckig

      baumeln Lumpen in Fetzen an dürren Knochen,

      klappernd

      im stürmisch schlagenden Takt einer

      unsichtbar aufspielenden Band

      Durch hoch gewölbte Hallen flügeln

      in farbenfrohen Federkleidern

      prachtvolle Paradiesvögel, im Auf und Ab jagen

      schwarzglänzende Raben,

      neonfarben schillernde Schmetterlinge

      und Falter rauschen

      mit riesigen Schwingen wogend hernieder,

      gleiten hinweg über staunend

      weit geöffnete haselnussbraune Augen

      streifen blond gescheiteltes Haar, vorbei an fest

      gezurrten Affenschaukeln schmeicheln sich ein

      betörende Töne in die zart beseiteten Muscheln

      der Ohren, benebeln Sinne …

      All das in schweigender Andacht,

      in heiliger Erhabenheit unberührter Natur,

      in dem allein das Gesummse der Bienen,

      das zitternde Zirpen der Grillen,

      der Lerche lockender Singsang

      im Ast schattenspendender

      lauschender Lärche am Waldesrand

      erklingen, sich zusammen fügen

      zu einer ganz leisen

      ganz großen

      Symphonie

      Dort

      hat sich das Kind verborgen,

      wollte es bleiben, ging nie

      wieder

      fort

      Das weiße Tuch, das unbefleckt und schneeweiß auf dem feucht schimmernden Schlick des Wattbodens ausgebreitet liegt, bewegt sich plötzlich, wird durch eine stark aufkommende Brise emporgehoben, flattert mit einem gewaltigen Brausen im Wind, bläht sich auf und nimmt die Gestalt eines Pferdes an, das sich, die Vorderhufe aneinanderschlagend, aufbäumt. Der Schweif beschreibt kraftvoll einen Kreis, und mit einem lauten Wiehern setzt es an zu einem rasanten Galopp den Deich entlang, bis es leichtbeinig die Deichwände erklimmt und über den Grat schnellt wie ein Schemen, der, am vom Mond belichteten Horizont sich abzeichnend, in einer Dunstwand aus Dunkelheit und feuchtem Nebel spurlos verschwindet.

      Das Mädchen, das diesem geisterhaften Schauspiel gefolgt ist, steht am Rande des Watts, die Hand, die einen lauten Aufschrei verhindert, auf die Lippen gepresst, denen jetzt die geflüsterten Worte entweichen: „Das war er, der Geist des weißen Pferdes, wie Hanussen gesagt hat.“

      Sie weiß nicht, wie es geschah, dass es sie hierher getrieben hat. Sie hat die Geschichten vom Schimmelreiter immer wieder und wieder erzählen gehört. Ihr Großvater hat ihr die Stelle gezeigt, an der die unglückliche Frau Elke mit ihrer Tochter Wienke ertrank und der verzweifelte Deichgraf sich mitsamt seinem Pferde in die tosenden Fluten warf, und gesagt:

      „Es lag ein Fluch auf der Familie. Der Deichgraf Hauke Haien hat sich nicht an die Überlieferung gehalten, die ihren Ursprung in jahrhundertelangen Erfahrungen der Küstenbewohner hat. Er war ein Tollkopf, wollte sich von niemandem einen Rat geben lassen, nur Unruhe hatte er ins Dorf gebracht. Viele sahen es als gerechte Strafe an, dass es so tragisch endete und Lebendiges doch dem neuen Deich geopfert werden musste, wie es Brauch war.“

      Elke, so heißt auch das Mädchen, mit dem strohblonden Haar, das wirr und unbändig um ihren Kopf steht und sich durch keine Bürste bändigen lässt, und wirr ist auch der Sinn, so sagt ihre Mutter von ihr, wenn sie dennoch ihr liebevoll