„Das geht Sie doch gar nichts an, Sie alte Schreckschraube!“
Woraufhin Frau Tücks Glitzerohrringe wie verrückt zu funkeln begannen. Mit dem Zeigefinger, aus dem ihr plötzlich ein enorm langer Fingernagel spitz wie ein Dolch herauswuchs, deutete sie auf Melissa und zischte:
„Du ungezogene Göre, wenn du nicht gleich still bist, häng ich dir ein Schloss vor dein loses Mundwerk. Hebe deinen Unrat unverzüglich auf!“
Melissa tat selbstverständlich weder das eine noch das andere, rief: „Fex fex, alte Hex“ und rannte davon.
Einen Tag später kam Melissa nicht in die Schule. Es hieß, sie habe die Maul- und Klauenseuche und ihre Zunge sei so geschwollen, dass sie kein Wort mehr herausbringen konnte.
Wen wundert es, dass nach dieser Begebenheit die zwiespältige Haltung der Kinder, geprägt von Heidenangst und Hochachtung, und die Gerüchteküche um Frau Tück neue Nahrung erhielten.
Abseits einer Kindheit
Verborgen
dort
hinter den Häusern,
den sauber geputzten Fensterscheiben,
den ordentlich gezogenen Rabatten, einer Zeit,
in der jedes Weizenkorn von Bedeutung,
Apfelhäuschen mitgegessen
wurden,
fand es die Wiese mit bunten Blumen,
dem Duft von Ginster, dem satten Gelb des
gemeinen Löwenzahns, das unschuldige Weiß
wippender, nickender Margeriten,
wenn der Fuß sie streifte, sorgsam,
Schritt für Schritt achtend, kein
Blatt oder Halm zu krümmen
dort
im Weizenfeld, leuchtendes Blau der Kornblume,
am Rande
feinste blässliche Bläulichkeit
achtsamer Wegwarten boten den Augen
Trostspender Schönheit.
In der Mulde aus feinstem Sand, sonnengewärmt,
schickte es Traumbilder den Wolken nach,
aufwärts fliegende Gedankenstifte, hingeworfene Riesengebirge
zeichnend und formend,
und wenn die Farbe vom Weiß ins dunkle Grau
wechselte, die Sonne sich zwängte
durch Berg und Tal, schwebte
sie fort, mit ihnen Abenteuer
zu suchen und
zu bestehen
In lilablassem Tüllkleid mit schwarz polierten
Lackschuhen
tanzend
in einem Zuckerbäckerschloss
aus blanken durchsichtigen Mauern
auf dem Schwarzweißkarree eines gewienerten Schachbrettbodens
Alice im allerkleinsten Format
und der weiße Hase
im Überschwang
seiner Taschenuhr verlustig gegangen
schlitternd und
jauchzend
und wenn sich an goldenen Schnüren
der purpurrote Vorhang hob
am äußersten Ende des prunkvollen Saals:
dort
treten hervor auf eine fantastische Bühne
huldvolle Engel, schrille Spaßvögel, balancieren
lustige Gesellen aufgesetzte spitze Hüte
mit ausladender Krempe, scheckig und fleckig
baumeln Lumpen in Fetzen an dürren Knochen,
klappernd
im stürmisch schlagenden Takt einer
unsichtbar aufspielenden Band
Durch hoch gewölbte Hallen flügeln
in farbenfrohen Federkleidern
prachtvolle Paradiesvögel, im Auf und Ab jagen
schwarzglänzende Raben,
neonfarben schillernde Schmetterlinge
und Falter rauschen
mit riesigen Schwingen wogend hernieder,
gleiten hinweg über staunend
weit geöffnete haselnussbraune Augen
streifen blond gescheiteltes Haar, vorbei an fest
gezurrten Affenschaukeln schmeicheln sich ein
betörende Töne in die zart beseiteten Muscheln
der Ohren, benebeln Sinne …
All das in schweigender Andacht,
in heiliger Erhabenheit unberührter Natur,
in dem allein das Gesummse der Bienen,
das zitternde Zirpen der Grillen,
der Lerche lockender Singsang
im Ast schattenspendender
lauschender Lärche am Waldesrand
erklingen, sich zusammen fügen
zu einer ganz leisen
ganz großen
Symphonie
Dort
hat sich das Kind verborgen,
wollte es bleiben, ging nie
wieder
fort
Hanussen und der freie Geist
Das weiße Tuch, das unbefleckt und schneeweiß auf dem feucht schimmernden Schlick des Wattbodens ausgebreitet liegt, bewegt sich plötzlich, wird durch eine stark aufkommende Brise emporgehoben, flattert mit einem gewaltigen Brausen im Wind, bläht sich auf und nimmt die Gestalt eines Pferdes an, das sich, die Vorderhufe aneinanderschlagend, aufbäumt. Der Schweif beschreibt kraftvoll einen Kreis, und mit einem lauten Wiehern setzt es an zu einem rasanten Galopp den Deich entlang, bis es leichtbeinig die Deichwände erklimmt und über den Grat schnellt wie ein Schemen, der, am vom Mond belichteten Horizont sich abzeichnend, in einer Dunstwand aus Dunkelheit und feuchtem Nebel spurlos verschwindet.
Das Mädchen, das diesem geisterhaften Schauspiel gefolgt ist, steht am Rande des Watts, die Hand, die einen lauten Aufschrei verhindert, auf die Lippen gepresst, denen jetzt die geflüsterten Worte entweichen: „Das war er, der Geist des weißen Pferdes, wie Hanussen gesagt hat.“
Sie weiß nicht, wie es geschah, dass es sie hierher getrieben hat. Sie hat die Geschichten vom Schimmelreiter immer wieder und wieder erzählen gehört. Ihr Großvater hat ihr die Stelle gezeigt, an der die unglückliche Frau Elke mit ihrer Tochter Wienke ertrank und der verzweifelte Deichgraf sich mitsamt seinem Pferde in die tosenden Fluten warf, und gesagt:
„Es lag ein Fluch auf der Familie. Der Deichgraf Hauke Haien hat sich nicht an die Überlieferung gehalten, die ihren Ursprung in jahrhundertelangen Erfahrungen der Küstenbewohner hat. Er war ein Tollkopf, wollte sich von niemandem einen Rat geben lassen, nur Unruhe hatte er ins Dorf gebracht. Viele sahen es als gerechte Strafe an, dass es so tragisch endete und Lebendiges doch dem neuen Deich geopfert werden musste, wie es Brauch war.“
Elke, so heißt auch das Mädchen, mit dem strohblonden Haar, das wirr und unbändig um ihren Kopf steht und sich durch keine Bürste bändigen lässt, und wirr ist auch der Sinn, so sagt ihre Mutter von ihr, wenn sie dennoch ihr liebevoll