Mercy übernimmt programmgemäß den Einsatz. Wie zufällig nähert er sich Madame Dubarry und beginnt ein Gespräch. Inzwischen hat, genau im Sinne der Verabredung, Marie Antoinette begonnen, ihren Rundgang zu machen. Sie plaudert mit dieser Dame, jetzt mit der nächsten, jetzt abermals mit der nächsten, verlängert vielleicht aus Angst und Erregtheit und Ärger ein wenig dies letzte Gespräch; nun steht nur noch eine, die letzte Dame zwischen ihr und der Dubarry – zwei Minuten, eine Minute noch, und sie muß bei Mercy und der Favoritin angelangt sein. In diesem entscheidenden Augenblick aber führt Madame Adelaide, die Haupthetzerin unter den Tanten, ihren großen Coup aus. Sie fährt scharf auf Marie Antoinette zu und sagt befehlend: »Es ist Zeit, daß wir gehen. Komm! Wir müssen den König bei meiner Schwester Victoire erwarten.« Marie Antoinette, überrascht, erschreckt, verliert den Mut; verschreckt, wie sie ist, wagt sie nicht, nein zu sagen, und hat anderseits nicht genug Geistesgegenwart, jetzt noch rasch ein gleichgültiges Wort an die wartende Dubarry zu richten. Sie wird rot, verwirrt sich und läuft mehr, als sie geht, davon, und das Wort, das ersehnte, bestellte, das diplomatisch erkämpfte und zu viert verabredete Wort bleibt ungesprochen. Alles ist starr. Die ganze Szene war vergebens gestellt; statt Versöhnung hat sie eine neue Verhöhnung bewirkt. Die Böswilligen am Hofe reiben sich die Hände, bis hinunter in die Gesindestuben erzählt man kichernd, wie die Dubarry vergeblich gewartet hatte. Aber die Dubarry schäumt, und, was bedenklicher ist, Ludwig XV. gerät in redlichen Zorn. »Ich sehe, Herr von Mercy,« sagt er ingrimmig zu dem Botschafter, »Ihre Ratschläge haben leider keinen Einfluß. Es ist nötig, daß ich hier selber eingreife.«
Der König von Frankreich ist zornig und hat gedroht, Madame Dubarry tobt in ihren Zimmern, die ganze österreichisch-französische Allianz schwankt, der Friede Europas schwebt in Gefahr. Sofort meldet der Botschafter die böse Wendung nach Wien. Nun muß die Kaiserin heran, das »siebenmal glühende Licht«. Nun muß Maria Theresia selbst eingreifen, denn nur sie allein von allen Menschen hat Macht über dieses halsstarrige und unbedachte Kind. Maria Theresia ist über die Vorgänge äußerst erschrocken. Als sie ihre Tochter nach Frankreich sandte, hat sie ehrlich die Absicht gehabt, ihrem Kinde das trübe Gewerbe der Politik zu ersparen, und von vornherein ihrem Botschafter geschrieben: »Ich gestehe offen ein, nicht zu wünschen, daß meine Tochter irgendeinen entscheidenden Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten gewinne. Ich habe es selbst erfahren, welche drückende Last die Führung eines großen Reiches bedeutet, und überdies kenne ich die Jugend und den Leichtsinn meiner Tochter, verbunden mit ihrer geringen Neigung für irgendein ernstes Streben (und sie hat auch noch gar keine Kenntnisse); das läßt mich für die Regierung einer so herabgekommenen Monarchie wie der französischen nichts Gutes erhoffen. Wenn meiner Tochter eine Besserung dieses Zustandes nicht gelingt oder er sich gar noch verschlechtern würde, wünschte ich lieber, daß man dessen irgendeinen Minister beschuldige als mein Kind. Ich kann mich darum nicht entschließen, zu ihr von Politik und Staatsangelegenheiten zu sprechen.«
Aber diesmal – Verhängnis! – muß die tragische alte Frau sich selber untreu werden, denn Maria Theresia hat seit einiger Zeit ernste politische Sorgen. Eine dunkle und nicht eben saubere Sache ist in Wien im Gange. Vor Monaten schon war von Friedrich dem Großen, den sie als den leibhaftigen Sendboten Luzifers auf Erden haßt, und von Katharina von Rußland, welcher sie ebenso gründlich mißtraut, das peinliche Angebot einer Teilung Polens gekommen, und der begeisterte Beifall, den diese Idee bei Kaunitz und ihrem Mitregenten Joseph II. findet, verstört seitdem ihr Gewissen. »Alle Partage ist unbillig in seinem Grund, und für uns schädlich. Ich kann diesen Antrag nicht genug bedauern und muß bekennen, daß mich sehen zu lassen schäme.« Sofort hat sie diese politische Idee als das erkannt, was sie ist, als moralisches Verbrechen, als Raubzug gegen ein wehrloses und schuldloses Volk. »Mit welchem Recht dürfen wir einen Unschuldigen ausrauben, den zu schützen wir immer uns gerühmt haben?« In ernster und reiner Entrüstung lehnt sie den Vorschlag ab, gleichgültig dagegen, daß man ihre sittlichen Bedenken für Schwäche auslegen könnte. »Gelten wir lieber für schwach als für unehrlich«, sagt sie edel und klug. Aber Maria Theresia ist längst nicht mehr Alleinherrscherin. Joseph II. ihr Sohn und Mitkaiser, träumt einzig von Krieg und Reichsvermehrung und Reformen, während sie, der labilen und künstlichen Staatsform Österreichs weise bewußt, einzig an Erhalten und Bewahren denkt; um ihrem Einfluß entgegenzuarbeiten, läuft er ängstlich dem militärischen Mann nach, der seiner Mutter erbittertster Feind gewesen, Friedrich dem Großen, und zur tiefsten Bestürzung sieht die alternde Frau ihren getreuesten Diener Kaunitz, den sie groß gemacht, sich dem steigenden Stern ihres Sohnes zuneigen. Am liebsten möchte sie, abgearbeitet, müde, in allen ihren Hoffnungen als Mutter wie als Herrscherin enttäuscht, die Staatsmacht niederlegen. Aber die Verantwortung hält sie zurück, sie ahnt mit prophetischer Sicherheit – hier ist die Situation geheimnisvoll ähnlich jener Franz Josephs, der, gleichfalls müde, gleichfalls die Macht nicht aus den Händen ließ –, daß von dem fahrigen unruhigen Geist dieses hastigen Reformers sofort sich Unruhe im ganzen mühsam beherrschten Reich verbreiten werde. So kämpft diese fromme und zutiefst redliche Frau bis zur letzten Stunde um das, was ihr als das Höchste gilt: um die Ehre: »Ich bekenne,« schreibt sie, »daß zeit meines Lebens nicht so beängstiget mich gefunden. Als alle meine Länder angesprochen wurden, steiffete ich mich auf mein gutes Recht und den Beistand Gottes. Allein im gegenwärtigen Fall, wo nicht allein das Recht auf meiner Seiten nicht vorhanden, sondern Verbindlichkeiten, Recht und Billigkeit wider mich streitten, bleibt mir keine Ruhe, vielmehr Unruhe und Vorwürffe eines Herzens übrig, so niemahlens Jemanden oder sich selbsten zu betäuben oder Duplicität für Aufrichtigkeit gelten zu machen gewohnet wäre. Treue und Glauben ist für allezeit verlohren, so doch das gröste Kleinod und die wahre Stärcke eines Monarchen gegen die anderen ist.«
Aber Friedrich der Große hat ein robustes Gewissen und spottet in Berlin: »Kaiserin Katharina und ich, wir beide sind zwei alte Briganten, doch wie macht sich das diese Devote mit ihrem Beichtvater aus?« Er drängt, und Joseph II. droht, immer wieder beschwört er die Unvermeidlichkeit eines Krieges herauf, wenn Österreich sich nicht füge. Schließlich, unter Tränen, mit verwundetem Gewissen und weher Seele gibt Kaiserin Maria Theresia nach: »Ich bin nicht stark genug, allein die affaires zu führen, mithin lasse, jedoch nicht ohne meinen größten Gram, selbe ihren Weg gehen,« und unterschreibt mit der Rückendeckung »weil alle klugen und erfahrenen Männer dazu raten.« Aber im innersten Herzen weiß sie sich mitschuldig und zittert vor dem Tag, da der geheime Traktat und seine Folgen vor der Welt offenbar werden. Was wird Frankreich sagen? Wird es gleichgültig diesen räuberischen Überfall auf Polen in Hinblick auf die Allianz dulden oder einen Anspruch bekämpfen, den sie selber als nicht rechtmäßig empfindet (mit eigener Hand streicht ja Maria Theresia das Wort »rechtmäßig« aus dem Okkupationsdekret). Alles hängt einzig von der herzlichen oder kühlen Gesinnung Ludwigs XV. ab.
Da schneit mitten in diese Sorgen, in diesen brennenden Gewissenskonflikt der Alarmbrief Mercys herein: der König sei verärgert gegen Marie Antoinette, er habe dem Botschafter offen seinen Unmut bekundet, und das gerade, während man in Wien noch immer den einfältigen Gesandten, Prinz Rohan, so herrlich übertölpelt, daß er über seinen Vergnügungspartieen und Jagdritten nichts von Polen merkt. Weil Marie Antoinette nicht mit der Dubarry sprechen will, kann aus der Teilung Polens eine Staatsaffäre entstehen, am Ende sogar ein Krieg – Maria Theresia erschrickt. Nein, wo sie selbst, die Fünfundfünfzigjährige, ein so schmerzliches Gewissensopfer der Staatsräson bringen mußte, da darf ihr eigenes Kind, diese ahnungslose Sechzehnjährige, nicht päpstlicher sein wollen als der Papst, nicht moralischer als ihre Mutter. – Ein Brief wird also geschrieben, energischer als je, um den Trotz der Kleinen ein für allemal zu brechen. Natürlich kein Wort von Polen, nichts von der Staatsräson, sondern (es muß der alten Kaiserin hart angekommen sein) die ganze Affäre bagatellisieren: »Ach, was für eine Angst und Hemmung, zum König, diesem besten der Väter, zu sprechen! Oder zu jenen Leuten, von denen man Dir rät, es zu tun! Was für eine Angst, nur irgend guten Tag zu sagen! Ein Wort über ein Kleid, über eine Kleinigkeit kostet Dich soviel Grimassen oder vielleicht mehr? Du hast Dich in eine solche Sklaverei einfangen lassen, daß anscheinend die Vernunft und sogar Deine Pflicht nicht mehr Kraft hat, Dich zu überreden. Ich kann nicht länger schweigen. Nach dem Gespräch mit Mercy und seiner Mitteilung über das, was der König wünscht und was Deine Pflicht erheischt, hast Du gewagt, ihm nicht zu gehorchen! Was für ein vernünftiges Motiv kannst Du mir da nennen? Gar keines.