und einmal sogar eine Gemäldeausstellung. Aber damit ist für die nächsten zwanzig Jahre ihr Bildungsbedürfnis innerhalb von Paris vollkommen erschöpft. Sonst widmet sie sich ausschließlich den Stätten der Unterhaltung, sie fährt regelmäßig in die Oper, die französische Comédie, die italienische Commedia, auf Bälle, Redouten, sie besucht die Spielsäle, also genau das »Paris at night, Paris city of pleasure« der reichen Amerikanerinnen von heute. Am meisten verlocken sie die Opernbälle, denn Maskenfreiheit ist die einzige, die ihr, der Gefangenen ihrer Stellung, erlaubt ist. Mit der Larve über den Augen kann sich eine Frau einigen Scherz gestatten, der einer Madame la Dauphine sonst unmöglich wäre. Man kann fremde Kavaliere – der öde, unfähige Gatte schläft zu Hause – für ein paar Minuten zu munterm Gespräch heranholen, man kann einen entzückenden jungen schwedischen Grafen, der Fersen heißt, freimütig ansprechen und mit ihm, von der Larve gedeckt, plaudern, bis die Hofdamen einen wieder in die Loge holen; man kann tanzen, den heißen, geschmeidigen Körper bis zur Müdigkeit entspannen: hier darf man sorglos lachen, ach, man kann sich in Paris so herrlich ausleben! Nie aber betritt sie in all den Jahren ein bürgerliches Haus, nie wohnt sie einer Sitzung des Parlaments oder der Akademie bei, nie besucht sie ein Hospital, einen Markt, nicht ein einziges Mal versucht sie, etwas von dem täglichen Leben ihres Volkes zu erfahren. Immer bleibt Marie Antoinette bei diesen Pariser Seitensprüngen in dem engen glitzernden Kreis des mondänen Vergnügens und meint dem guten Volk, dem »bon peuple«, schon genug getan zu haben, wenn sie ihm lächelnd und lässig seinen begeisterten Gruß erwidert; und siehe, immer wieder steht es entzückt in Scharen Spalier, und ebenso jubeln Adel und reiche Bürgerschaft, wenn sie abends im Theater an die Brüstung der Rampe tritt. Immer und überall fühlt die junge Frau ihren muntern Müßiggang, ihre lauten Lustpartieen gebilligt, abends, wenn sie in die Stadt fährt und die Leute gerade müde von der Arbeit kommen, und ebenso morgens um sechs Uhr, wenn das »Volk« wieder an seine Arbeit geht. Was kann an diesem Übermut, an diesem lockern Sichlebenlassen also unrecht sein? Im Ungestüm ihrer törichten Jugend hält Marie Antoinette die ganze Welt für vergnügt und sorglos, weil sie selbst sorglos und glücklich ist. Aber während sie in ihrer Ahnungslosigkeit glaubt, dem Hof abzusagen und sich in Paris mit ihren Lustfahrten volkstümlich zu machen, fährt sie in Wirklichkeit mit ihrer gläsern klirrenden, ihrer luxuriösen und gefederten Karosse zwanzig Jahre lang an dem wirklichen Volk und an dem wirklichen Paris vorbei.
Der mächtige Eindruck des Pariser Empfangs hat etwas in Marie Antoinette verwandelt. Immer bestärkt fremde Bewunderung das eigene Selbstgefühl: eine junge Frau, der Tausende bestätigt haben, daß sie schön ist, wird sofort schöner durch dieses Wissen um ihre Schönheit; so auch dieses verschüchterte Mädchen, das sich in Versailles bisher immer als Fremde und Überflüssige fühlte. Jetzt aber löscht ein junger, von sich selbst überraschter Stolz in ihrem Wesen völlig alle Unsicherheit und Scheu aus; verschwunden ist die Fünfzehnjährige, die, begönnert und bevormundet von Botschafter und Beichtiger, von Tanten und Verwandten, durch die Zimmer schlich und sich vor jeder Hofdame duckte. Jetzt erlernt Marie Antoinette die langgeforderte Hoheitshaltung mit einem Ruck, sie strafft sich von innen; aufrecht schreitet sie wie an Untergebenen graziös beschwingten Schrittes an allen Damen des Hofes vorbei. Alles wird anders in ihr. Die Frau, die Persönlichkeit beginnt durchzubrechen, sogar die Schrift verwandelt sich mit einem Schlage: bisher ungelenk, mit riesigen kindischen Lettern, drängt sie sich jetzt frauenhaft nervös in zierliche Billette zusammen. Allerdings, die Ungeduld, die Fahrigkeit, das Abgerissene und Unbedachte ihres Wesens wird sich nie ganz aus ihrer Schrift verlieren, dafür aber beginnt im Ausdruck eine gewisse Selbständigkeit. Jetzt wäre dies brennende, vom Gefühl pulsender Jugend ganz erfüllte Mädchen reif, ein persönliches Leben zu leben, jemand zu lieben. Jedoch die Politik hat sie an diesen plumpen Ehemann, der noch kein Mann ist, geschmiedet, und da Marie Antoinette ihr Herz nicht entdeckt hat und keinen anderen weiß, um ihn zu lieben, ist diese Achtzehnjährige in sich selbst verliebt. Das süße Gift der Schmeichelei strömt ihr heiß in die Adern. Je mehr man sie bewundert, um so mehr will sie sich bewundert sehen, und, noch ehe Herrscherin durch das Gesetz, will sie als Frau durch ihre Anmut sich den Hof, die Stadt und das Reich untertänig machen. Sobald sich eine Kraft einmal selbstbewußt erkannt hat, fühlt sie Verlangen, sich zu erproben.
Die erste Probe der jungen Frau, ob sie andern, ob sie dem Hof und der Stadt ihren Willen aufzwingen kann, gilt glücklicherweise – fast möchte man sagen: ausnahmsweise – einem guten Anlaß. Der Meister Gluck hat seine »Iphigenie« vollendet und möchte sie in Paris aufgeführt sehen. Für den sehr musikalischen Wiener Hof gilt sein Erfolg als eine Art Ehrensache, und Maria Theresia, Kaunitz, Joseph II. erwarten von der Dauphine, daß sie ihm den Weg ebnen wird. Nun war das Unterscheidungsvermögen Marie Antoinettes bei künstlerischen Werten keineswegs hervorragend, weder in Musik noch in Malerei noch in Literatur. Sie hatte einen gewissen natürlichen Geschmack, aber keinen selbständig prüfenden, sondern nur jenen lässig neugierigen, der gehorsam jede neue Mode mitmacht und sich für alles gesellschaftlich Anerkannte mit kurzem Strohfeuerinteresse begeistert. Zu tieferem Verständnis fehlte Marie Antoinette, die nie ein Buch zu Ende las und jedem eindringlichen Gespräch auszuweichen wußte, die unerläßliche Charaktervorbedingung wirklichen Unterscheidens: Ernst, Ehrfurcht, Mühe und Nachdenklichkeit. Kunst war für sie nie mehr als ein Zierat des Lebens, ein Vergnügen zwischen andern Vergnügungen, sie kannte bloß den mühelosen, also nie den wirklichen Kunstgenuß. Um Musik hatte sie sich, wie um alles, lässig bemüht, die Klavierstunden bei Meister Gluck in Wien hatten sie nicht weit gebracht, sie dilettierte auf dem Clavecin so wie als Schauspielerin auf der Bühne und als Sängerin im intimen Kreise. Das Neue und Grandiose der »Iphigenie« vorahnend zu begreifen, war sie, die ihren Landsmann Mozart in Paris überhaupt nicht bemerkte, selbstverständlich völlig unfähig. Aber Maria Theresia hatte ihr Gluck ans Herz gelegt, und sie empfindet eine wirklich amüsierte Neigung zu diesem scheingrimmigen, breiten und jovialen Mann, außerdem aber will sie, gerade weil sich in Paris die italienische und französische Oper mit den heimtückischsten Kabalen gegen den »Barbaren« wehrt, die Gelegenheit nützen, einmal ihre Macht zu zeigen. Sofort erzwingt sie, daß die Oper, welche die Herren Hofmusiker für »undurchführbar« erklärt hatten, angenommen wird und die Proben unverzüglich angesetzt werden. Leicht macht ihr freilich der ungefüge, cholerische, von der fanatischen Unnachgiebigkeit des großen Künstlers besessene Mann die Protektion nicht. Er rüffelt bei den Proben die verwöhnten Sängerinnen so zornig zusammen, daß sie weinend zu ihren prinzlichen Liebhabern stürzen und sich beschweren; unerbittlich setzt er den an solche Genauigkeit nicht gewöhnten Musikern zu und schaltet im Opernhaus wie ein Tyrann; durch die geschlossenen Türen hört man seine mächtige Stimme streithaft donnern, dutzende Male droht er alles hinzuwerfen, nach Wien zurückzureisen, und nur die Furcht vor seiner kronprinzlichen Gönnerin verhindert noch einen Skandal. Endlich, für den 13. April 1774, wird die Erstaufführung festgesetzt, der Hof bestellt bereits seine Plätze, seine Karossen. Da erkrankt ein Sänger und soll rasch durch einen andern ersetzt werden. Nein, befiehlt Gluck, die Erstaufführung wird verschoben. Verzweifelt beschwört man ihn, was ihm denn einfalle, der Hof hätte seine Einteilung doch schon getroffen; wegen eines mehr oder minder guten Sängers dürfe ein Komponist und gar ein bürgerlicher und überdies ein ausländischer doch nicht wagen, die hohen Verfügungen des Hofes, die Dispositionen allerdurchlauchtigster Herrschaften umzustoßen. Das sei ihm gleichgültig, poltert der bäurische Hartschädel, lieber werfe er seine Partitur ins Feuer, als die Oper unzulänglich spielen zu lassen, furios stürzt er zu seiner Gönnerin Marie Antoinette, der dieser wilde Mann Spaß macht. Sie ergreift sofort Partei für den »bon Gluck«, die Hofkarossen werden zum Ärger der Prinzen abbestellt und die Erstaufführung auf den Neunzehnten verschoben. Außerdem läßt Marie Antoinette durch den Polizeileutnant Maßnahmen treffen, um zu verhindern, daß die hohen Herrschaften ihren Ärger über den unhöfischen Musikanten mit Pfeifen äußern: mit allem Nachdruck macht sie öffentlich die Sache ihres Landsmannes zu der ihren.
Tatsächlich wird die Uraufführung der »Iphigenie« ein Triumph, aber mehr einer Marie Antoinettes als Glucks. Die Zeitungen, das Publikum zeigen sich eher frostig gesinnt; sie finden, daß es »einige sehr gute Stellen neben sehr platten« in der Oper gebe, denn wie immer in der Kunst begreift sich das großartig Kühne für ein unbelehrtes Auditorium selten auf den ersten Blick. Doch Marie Antoinette hat den ganzen Hof zur Premiere geschleppt; sogar ihr Gatte, der seine Jagd sonst nicht für die Musik der Sphären opfern würde