Norbert F. Schaaf

Afghanistan Horsegirl


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jeweils aus muslimischen Ländern sowie Staaten der Ungläubigen. Der mittlere Pavillon, auf einem Podest mit erhöhtem Dach, worin purpurrote Sessel standen, darunter ein hoher als Sitz des Generalgouverneurs aller Nordprovinzen, war noch unbesetzt in erwartungsvoller Leere.

      Etliche Fernsehkameras waren aufgebaut, auf Brettergerüsten und Kränen, sowie zwei riesige Übertragungsleinwände zu beiden Seiten, und über ungezählte Lautsprecher ertönte von einer Kommentatorentribüne her unvermittelt eine plärrende Stimme: „Hier in der Distrikthauptstadt auf dem Gelände von Magrabi wird heute auf Geheiß unseres ehrwürdigen Generalgouverneurs das erste Herbst-Buskashi abgehalten. Derjenige unter euch auserwählten Chapandas, der den kopflosen Hammel um die beiden Fahnen in blau und gelb herum trägt und sie wieder im Zielkreis ablegt, wird die Gouverneursstandarte erhalten. Das bedeutet, dass er Meister-Chapandas von ganz Nordafghanistan diesseits des Hindukusch ist.“ Der Sprecher wiederholte seine Ansage in englischer Sprache mit starkem Akzent, und um die anwesenden Fremden näher über Grund und Art des mächtigen Spektakels aufzuklären, fuhr er in der fremden Sprache fort mit gehobener Stimme, die das Gelärm des Publikums jedoch zunächst kaum zu durchdringen vermochte. „... zu den Spielregeln“, war mit einiger Anstrengung zu vernehmen, bevor etwas Ruhe in die Zuschauerreihen einkehrte. „Ein für die Zucht ungeeigneter Hammel ist geschlachtet und sein Kopf abgeschlagen worden. Aus Rücksicht auf die Jugend einiger Mitspieler wurde heute darauf verzichtet, den Hammelkadaver zusätzlich zu beschweren durch Zustopfen mit Sand und Einschütten von Wasser. In der Mitte des Spielfeldes, genau im Zentrum des großen Kreidekreises, wurde ein Loch gegraben und der Kadaver hineingelegt. Er ist kaum auszumachen, da das Loch gerade so tief ist, dass sich das Fell auf gleicher Höhe befindet wie der Erdboden. Unweit des Loches ist ein kleiner Mittelkreis mit Kreide ausgemalt, der Hallal genannt wird, was soviel bedeutet wie `der Kreis der Gerechtigkeit´. Zu beiden Seiten des Hallals ist nahe dem Spielfeldrand jeweils ein Fahnenmast eingepflanzt. Am heutigen Tag sind drei Dutzend Reiterspieler, die Chapandas, ausgewählt, die sich rings um das Loch mit dem Kadaver versammeln. Nach dem Startsignal stürmen alle auf den enthaupteten Kadaver zu, beugen sich tief vom Pferd, um den kopflosen Hammel an einem Bein zu packen. Wer ihn zu fassen bekommt, nicht unbedingt nur ein einzelner, reitet mit ihm davon. Die anderen nehmen die Verfolgung auf, indes versucht wird, mit dem Kadaver den blauen Mast im Osten zu erreichen und zu umrunden. Ist dies gelungen, muss der Hammelkadaver über das gesamte Feld zum gelben Mast im Westen getragen werden und um ihn herum bis zurück zum Hallal, wo er abzulegen ist. Sieger ist derjenige, dessen Hand den enthaupteten Hammel auf den weißen Mittelkreis wirft. Doch bis zum endlichen Sieg werden Kämpfe zu sehen sein, zähes Gerangel, ungestüme Hetzjagden, rüde Angriffe, erbitterte Verfolgungen in wildem, verbissenem Getümmel. Dabei erlaubt sind Schläge jedweder Art, mit der Peitsche, dem Ellbogen, der Faust oder der flachen Hand. Irgendwann, von Stunde zu Stunde, von Hand zu Hand, von Sattel zu Sattel, wird der Kadaver dem Ziel näher gebracht, sind erst die beiden Masten umritten. Endlich hält ihn ein Spieler gepackt, galoppiert, den letzten Rivalen ausweichend oder ihn zu Boden werfend, mit dem Kadaver in der Hand bis zu dem weißen Kreidemal und schleudert, was von dem Hammel noch übriggeblieben ist, auf den ...“

      Vieltausendfache Schreie erstickten seine Worte: „Hallal, Hallal!“ brüllte die Menge, „Hallal, Hallal!“ Und die Hallal-Rufe wollten gar nicht verstummen, zigtausend Mal als Echo zurückgeworfen von Wänden und Felsen. Als die Rufe endlich verebbten, fügte der TV-Kommentator abschließend hinzu: „Man wünscht unendlich viel Freude am Spiel des großen Dschingis-Khan.“

      Die Menge klatschte begeistert Beifall, die Gäste in den Pavillons dezent und gönnerhaft.

      Nur ganz allmählich flaute der Applaus ab. In gebannter Faszination starrte die afghanische Bevölkerung unentwegt zur Tribüne mit den ausländischen Fremdlingen hinüber. Nur galt ihr begieriges Augenmerk keineswegs den auswärtigen und teils hochdekorierten Politikern, Militärs, Topmanagern, Botschaftern oder Konsuln, sondern ausschließlich deren Damenbegleitung. Nirgends sonst in der Menschenmenge war ein einziges weibliches Wesen auszumachen, weil weder diesseits noch jenseits des Hindukusch nach Sittsamkeit und Brauch eine Frau an einer öffentlichen Veranstaltung teilnehmen durfte. Nicht einmal die Präsidentengattin – wie früher die Königin – wäre bei einem Buskashi zugelassen worden.

      Eine Bewegung aus den Augenwinkeln erregte Hermanns Aufmerksamkeit: Der Beginn des Schauspiels rückte wohl in greifbare Nähe, da zwei Gardefeldwebel an den Ehrentribünen vorbeischritten, die hinter sich her den kopflosen Kadaver eines fetten Hammels zogen. Gemessenen Gleichschrittes marschierten sie auf das Spielfeld und legten ihre animalische Fracht nahe dem mit Kreide ausgemalten `Kreis der Gerechtigkeit´ ab in das vorbereitete Loch.

      Unvermittelt wieder trompeteten – lauter und feierlicher – die länglichen Blechblasinstrumente. Eine Wagenkolonne hielt auf der Straße hinter den Pavillons. Hermann vernahm Waffenklirren und Hackenzusammenschlagen, die Menschenmassen jubelten. Kadhir Shah, der Generalgouverneur aller Nordprovinzen, betrat, eskortiert von großem Gefolge, mit zeremoniellen, wohlgesetzten Schritten den mittleren Pavillon. Zugleich erklang das scharfe Kommando zum Beginn der feierlichen Parade, die das Buskashi einleitete.

      Von Süden her näherte sich den Ehrentribünen eine Reiterstaffel mit fünf Trompetern voran, gefolgt – auf prachtvollem Araberhengst – von einem noch jungen Obristen, einem Verwandten des Provinzgouverneurs, dem die Leitung des Kampfspiels anvertraut war. Dahinter ritten, Seite an Seite, in festliche Chapans aus grüner Seide mit schmalen weißen Streifen gehüllt, die Spielführer aus den verschiedenen Regionen, die stolz ihre jeweilige Buskashi-Mannschaft anführten. Abschließend erschienen, in einer Reihe und breiter Phalanx, auf den prachtvollsten Pferden ihrer Provinzen, die kampfbereiten Chapandas, sechs mal sechs an Zahl.

      Die Reiterkämpfer trugen keine Chapans, sondern unterschiedliche BuskashiGewänder, je nach ihrer Herkunftsregion, eigens angefertigt für dieses festliche HerbstBuskashi. Die Kameras schwenkten langsam über die Reihe der Reiter auf ihren Rössern und schließlich in Großaufnahme von Kopf zu Kopf, von Gesicht zu Gesicht, von Augenpaar zu Augenpaar, das leuchtete vor Ehrgeiz und Ruhmsucht, ein Champion des Buskashi zu werden und damit eine bekannte Größe, ja ein Held in der Region und in ganz Nordafghanistan. Staunendes Raunen und verzückte Bewunderungsrufe ertönten bei jedem Gesicht, das auf den Großbildleinwänden erschien, besonders freilich bei einem grimmigen, tief zerfurchten sowie einem ganz jungen mit glatter Haut und schwarzem Flaum über dem schön geschwungenen Mund, dem Grübchenkinn und den leicht rosigen Wangen, denen beide spezieller Applaus zuteilwurde.

      Letzterer, ein ganz junger Mensch, der Hermann sofort besonders beeindruckte, ritt mit entschlossener Miene ganz am Schluss seiner Mannschaft – wohl der Jugendlichkeit wegen und nicht aus Mangel an Fähigkeit und Tapferkeit. Wurde doch niemals ein Unwürdiger und Unerprobter in die Reiterreihen der Buskashi-Spieler aufgenommen. Gleichwohl der junge Mensch, in ebensolcher Kleidung wie die anderen, in enger Gemeinschaft mit ihnen ritt, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, weit von ihnen entfernt zu sein. Ihre zur Schau gestellte einfältige Eitelkeit bereitete ihm nur pure Abscheu. Ihnen genügte es wohl zu paradieren wie dressierte Bergaffen, den Ruhm zu teilen mit fünfunddreißig anderen. Und wären wir nur zu zweit, überlegte der junge Mensch, so wäre doch einer zuviel. Wie ich sie zutiefst verachte in meinem innersten Gemüt, diese Herrenreiter, die mich gleichwohl nötigen, besser zu sein als sie, wesentlich besser. So sinnierte der junge Mensch, indessen Kadhir Shah stehend und mit einer Hand an seiner Persianer-Kula die Reiterschar grüßte.

      Vor dem Generalgouverneur lag auf der Balustrade die Ehrenstandarte, die der Sieger dieses Buskashi aus seiner hoheitsvollen Hand würde empfangen dürfen und mitnehmen für ein volles Jahr in seine Heimatregion.

      Sie ist mein, dachte der junge Mensch auf seinem zähen, temperamentvollen Pferd, mein, mein und nur mein. Diese Trophäe, die erste, die je von einem Menschen wie mir in die Steppe hinaus getragen werden würde ...

      Er blickte auf zu einer der Großbildleinwände, die jene Standarte zeigte, danach in langsamem Schwenk die Reihe der Chapandas und schließlich das erwartungsheischende Publikum: Reihe um Reihe schauten unter Turbanen Mützen, Kappen und Kulas, hingebreitet wie ein unendlicher Teppichläufer, die Gesichter hervor, aus deren Zügen ihre unterschiedliche Herkunft abzulesen war: Ebenen, Gebirge, Täler, Wüsten, Steppen, Einwanderungen und Eroberungen,