Norbert F. Schaaf

Afghanistan Horsegirl


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doch immerhin nicht in Uniform.

      Der Generalgouverneur hob die flache Hand, um Ruhe zu gebieten, und schaute würdig nach rechts und links. Allmählich kehrte Stille ein. „Ich erkläre das Buskashi für eröffnet“, verkündete Kadhir Shah feierlich in das hingehaltene Mikrofon und in das Schweigen der Menge, darin sensationsgierige, wettlüsterne, ungeduldige Erwartung lag. „Möge der Beste gewinnen. So Allah will.“

      Kadhir Shah nahm Platz. Das Buskashi nahm seinen Lauf.

      Das Signal zum Aufstellungnehmen ertönte aus den Trompeten. Im Schritt führten die sechsunddreißig Reiter ihre Pferde, mit ernsthaften Mienen und schweigsam, auf das Loch mit dem Hammelkadaver zu und nahmen im Kreis ringsherum Aufstellung. Die meisten Pferde standen ruhig, nur einzelne tänzelten ein wenig nervös, während man auf das Startsignal wartete. Ein Feldwebel pflanzte die Standarte auf dem Spielfeld vor den Tribünen auf und salutierte, bevor er wieder den Kampfplatz zu den Tribünen hin im Paradeschritt verließ.

      Als das Startsignal mit scharfem Trompetenstoß erschallte, rührte sich zunächst keiner. Mit einem Mal aber hoben sich wie in einer einzigen Bewegung sechsunddreißig Peitschen, und unter wildem Kampfgeschrei ihrer Reiter stürmten die Pferde vorwärts. Im Bruchteil einer Sekunde war aus dem festlich geordneten Trupp ein ungestümer, durcheinanderwirbelnder Haufen aus Pferden und Reitern geworden. Schreie und Flüche wurden ausgestoßen, Peitschenschläge knallten hernieder, wieder und wieder. Pferde bäumten sich steil empor, mit den Vorderhufen die Luft schlagend, und fielen wieder zu Boden. Chapandas, an die Flanken ihrer Reittiere geklammert und mit nur einem Fuß im Steigbügel, tasteten, die Köpfe im wirbelnden Staub, mit rauen Händen und derben Fingernägeln auf dem steinigen Erdboden nach dem Hammelkadaver, um ihn auszugraben und zu packen, an einem Bein, am Schwanz, wild entschlossen, ihn an sich zu reißen. Kaum aber war es einem geglückt, da griffen bereits andere, genauso kraftvolle, Gier erfüllte Hände nach dem kopflosen Aas, während unablässig derbe, kraftvoll geführte Peitschenschläge auf sie einprasselten.

      Ein einziges Reiterpaar, das Tier mit aufmerksamen Augen und Ohren, der Mensch mit jugendlichem, konzentriertem Gesicht, hielt sich außerhalb des Getümmels. Die Kerle hier sind noch närrischer als bei uns, dachte der junge Mensch, derweil seine kühlen Augen den Kampf stoisch verfolgten. Hier wie dort hieß dieses erbitterte Gerangel, lediglich ganz vergebens seine Kraft zu vergeuden. Hier wie dort wurde derjenige, dem es endlich gelang, mit dem Aas davonzureiten, sogleich von den anderen verfolgt und schnellstens eingeholt und mit heftigen Peitschenhieben bedacht. Dabei wissen sie es ebenso gut wie ich, dachte der junge Mensch noch und ließ kopfschüttelnd sein Pferd noch ein Stück zurückweichen. Es war eines dieser speziell gezüchteten Buskashi-Pferde, die die seltensten und gegensätzlichsten Befähigungen auf sich vereinigten, Temperament und Geduld, äußerste Schnelligkeit und ungeheure Körperkraft, die Kühnheit des Wolfes und das Geschick des dressierten Hundes, ohne die sie sonst niemals vom scharfen Galopp in den Stand, von Verfolgung in Flucht, vom listigen Ausbruch zu offenem Kampf überzugehen vermochten, und das bei dem leisesten Wink von Oberschenkel, Zügel oder Sporen.

      Der junge Mensch beobachtete die sich abkämpfenden, aufeinander einschlagenden Reiter, allesamt vom selben trügerischen Rausch besessen. Nein, ich habe mich nicht getäuscht, dachte er weiter bei sich, alle sind sie unwissende Hohlköpfe. Schon waren ihre festlichen Gewänder besudelt von Schweiß und Schaum, von Staub und Blut. Und ihre vom Lehm der Erde beschmutzten und von Peitschenhieben gezeichneten Gesichter drückten nichts weiter aus als den Trieb primitiver Wildheit.

      Sie spielen, um zu spielen, dachte der junge Mensch mit den weichen Zügen weiter, ich spiele, um zu gewinnen.

      Mit einer jähen Bewegung musste er sein Pferd, ein fahlgelb-hellbrauner Schecke, zurückhalten, das ungestüm vorwärts drängte. Der nicht besonders große, noch junge, freilich feurige Hengst schüttelte Kopf und Mähne. Der junge Mensch tätschelte den Pferdehals. „Du willst auch gerne spielen“, sagte er halblaut vor sich hin. „Aber noch nicht. Du musst lernen, dich zurückzuhalten. Für den einzigen, für den letzten Sieg. Ich weiß ja, dass es nicht leicht ist, ich weiß es. Nein, leicht ist es gewiss nicht ...“ Und er erinnerte sich unvermittelt daran, wie er als sehr junger Mensch sich vorgenommen hatte, alle Reiter an Ungestüm und Leidenschaft zu übertreffen, einen Turban auf dem Kopf und irgendwann die Kappe der Chapandas. Und er hatte seine Lektion, vom Vater und vom Onkel, den Unwissenden, den Ahnungslosen, sehr gründlich gelernt: „Wem Allah die Stärke der Schultern und Arme versagt hat, der muss seinen Verstand benutzen und schulen.“ In den Ohren klang ihm noch Vaters gönnerische, hämische Stimme, die noch anfügte: „Du armer Schwächling, du! Sieh dir meinen Körper an. Nun, und deiner? Was bildest du dir ein, auf meine Art und Weise Buskashi reiten zu können?“

      Es war eine entsetzliche, eine schmähliche Demütigung. Und doch eine heilsame, eine lehrreiche Lektion. „Es war wesentlich leichter“, sagte der junge Mensch, ohne sich bewusst zu sein, ob er zu sich selbst, zu seinem Pferd oder zum Vater sprach, „als sich peitschen, treten und zertrampeln zu lassen – wie diese dort ...“ Und der junge Mensch erinnerte sich an das Gelächter und die Verachtung, die ihm entgegengebracht wurden, anfangs – als er den Chapan, den traditionellen, schafwollgefütterten, vom Hals bis Fuß reichenden Kaftan der nördlichen Steppenreiter, übergezogen hatte – wenn er sich weigerte, wie die anderen inmitten der Herde zu spielen. Aber er hatte es ignoriert und sich darüber hinweggesetzt, hatte Muskeln und Lungen geschont und auf den günstigen Moment gelauert wie ein Falke. Und schließlich war der junge Mensch, als einsamer Reiter, frisch und gelassen, dicht am Ziel und auf einem noch unverbrauchten, kräftigen Pferd, zum Angriff übergegangen und davongestürmt und hatte gewonnen, eins ums andere Mal gewonnen, dann immer und überall, bei den Buskashis seiner Region. Hohngelächter und Beschimpfungen waren längst schon verstummt.

      Heute wollen sie gar nicht mehr aufhören, fuhr es dem jungen Mensch durch den Kopf, mit zusammengekniffenen Augen das Kampfgetümmel betrachtend, der Blick des Generalgouverneurs macht sie noch wilder als gewöhnlich. Gleichzeitig ging ihm durch den Sinn: Ruht aber der Blick des Großgouverneurs nicht auch auf mir? Und sieht er nicht auch, wie ich hier abseits stehe, ein feiger, von der Meute verschreckter Hund? In der Region und den benachbarten Provinzen weiß eigentlich jeder, wer ich bin, und niemand würde sich einer Täuschung hingeben. Vor dem Großgouverneur jedoch, vor den vielen fremden Würdenträgern – wer bin ich für sie? Nur ein feiger Hund, nichts sonst.

      Und heute war er nur als Ersatzspieler für einen ausgefallenen Kämpfer in die Auswahl der Reiter gekommen, seiner früheren Verdienste und seiner Bekanntheit als provinzieller Erfolgsspieler wegen, aber nicht zuletzt wegen seiner beharrlichen, willensstarken, siegesgewissen schönen Augen.

      Seine Faust, feingliedrig und sehnig, umklammerte den Griff seiner Peitsche. Eine kleine Bewegung nur und er würde im dichtesten Kampfgetümmel verschwinden. Er nahm die Peitsche in den Mund, seine Zähne gruben sich in die rohgegerbten Peitschenriemen. O nein, bei Allah – sein Name sei gepriesen –, dachte er, ich werde mich nicht von irgendeinem falschen Ehrgeiz verführen lassen. Ich werde dieses Spiel so wie immer und auf meine spezielle Art und Weise spielen. Und wenn ich in den Kreis der Gerechtigkeit die Trophäe werfe, um die sich jetzt diese Schafsgesichter zerreißen, und den Schrei des Sieges „Hallal!“ ausstoße, so werden auch die Fremdlinge und die Honoratioren erkennen, wie und wer ich wirklich bin. Doch Halt – war es das Unterbewusstsein, das ihn jetzt unberührt von seinen Gedanken antrieb? Er nötigte sein Pferd zum Zurückweichen und beugte sich, derweil ihm die Knie zitterten, an den Hals des Pferdes gepresst, weit vor, und seine kalten, zusammengekniffenen Augen verfolgten den schwarzen haarigen Fleck, der von Hand zu Hand, von Pferd zu Pferd wanderte.

      Jäh und unvermittelt erschallte sein einsamer Kampfschrei, schneidend und scharf und langgezogen wie der des jagenden Steppenwolfes, als der junge Mensch, angetrieben von Peitsche und Sporen, sich in das Gewühl stürzte. Keiner der Chapandas war auf diese Attacke von hinten gefasst gewesen. Das Reiterpaar durchbrach wie ein Geschoss die Reihen der Kämpfenden, ließ sich mit äußerster Geschicklichkeit gen Boden fallen, und fand sich unvermittelt, genau nach seiner Berechnung, um eine Armeslänge von dem Hammelkadaver entfernt. Das Aas wie im Flug packend, nur einen Stiefel im Steigbügel, in linker Hand die Zügel, die Peitsche verbissen zwischen den Zähnen, riss er es an sich. Er zügelte sein Pferd, dass es