Norbert F. Schaaf

Afghanistan Horsegirl


Скачать книгу

ist.“

      „Deshalb werden wir ja auch drei neue Trossen verankern. Bist du Fachmann für solche Sachen, German?“

      Hermann, der Ex-Pionieroffizier und Brückenbauingenieur, nickte nur. „Bist du Experte im Seilbalancieren, Haschem?“

      „Ich werde mich rüberhangeln. Du wirst sehen.“

      Sie packten Bohrmaschine und Zubehör aus und gingen an die Arbeit. Nachdem die Ösenhalterung für die Paralleltrosse verankert war, rollten sie die Trommel ab, und Haschem machte sich bereit, die abgrundtiefe Schlucht zunächst mit einer Hanfleine zu überqueren, an der Hermann das erste Stahlseil befestigte.

      „Womöglich ist die Verankerung drüben ja noch intakt“, gab er dem Jungen mit auf den Weg.

      Ohne zu zaudern hangelte sich Haschem, das Leinenende zwischen den Zähnen, die Kniekehlen über dem schwankenden Stahlseil eingehängt, sich kraftvoll Hand vor Hand vorwärts ziehend, über die mehrere hundert Meter tiefe und fast fünfzig Meter breite Felsenschlucht, deren Steilhänge zu beiden Seiten beinahe lotrecht abfielen.

      Hermann ließ die Hanfleine, die er zur Sicherung mit einem Karabinerhaken am Stahlseil eingehängt hatte, durch seine Hände laufen, wobei er Haschem bei seiner stetigen, nie unsicheren Vorwärtsbewegung gedankenvoll mit den Augen verfolgte. An der Art, wie er sich mit zupackenden Händen an dem drei Zentimeter dicken Stahlseil voranzog, erkannte Hermann, dass der junge Mann diesen Drahtseilakt wohl nicht zum ersten Mal vollführte.

      Hermann verspürte starken Hunger im Magen und schwere Gedanken im Kopf. Seinem Hungergefühl gab er regelmäßig nach, doch unnütze Gedanken pflegte er sich nicht zu machen. Er nahm sich nicht wichtiger als jeden anderen, obwohl er sich selbst für einen ganz besonderen Menschen hielt, diesen Status freilich jedem anderen ebenfalls zubilligte. Was anderen widerfahren mochte, konnte auch ihm selbst passieren. Wenn andere starben, bei Verkehrsunfällen, bei Raketenangriffen, bei Selbstmordanschlägen, er selbst aber lebte, glaubte er sich dennoch nicht gegen den Tod gefeit. Natürlich vertraute er sich selbst und erwartete selbstverständlich, dass andere ihm ebenfalls trauten, die wiederum ihm gleichermaßen vertrauen durften. Vor allem mussten sich Leute, die zusammenarbeiteten, voll und ganz vertrauen – oder gar nicht. Die Frage war, ob man sich den Menschen immer aussuchen konnte, dem man vertrauen musste. Da blieb oftmals keine Entscheidungsfreiheit, das einerseits. Andererseits gab es da immer die andere Seite, für jedermann. Die andere Seite, das war der Feind, das waren die feindseligen Menschen. Und für jeden waren es stets die anderen, für die einen die Taliban, für die anderen die Besatzungssoldaten, und die Warlords, die Drogenbarone, die Al-Quaida, die Regierungstruppen, die Polizisten, die Paschtunen, Hasaras, Tadschiken, Usbeken, Pamiris und die Zivilisten, Greise, Frauen und Kinder. Alle empfanden andere als Gegner, und man musste froh sein, wenn die anderen sich wenigstens richtig einschätzen ließen, sich berechenbar erwiesen. Heute waren die anderen nicht in Sicht. Da musste man sich jetzt keine Gedanken machen. Da gab es andere Dinge. Hermann, für sich allein und unbeobachtet, erlaubte sich einen kleinen Seufzer.

      Er sah Haschem auf der anderen Seite der Schlucht anlangen und sogleich die Hanfleine mit dem Stahlseil daran einholen, das er, Hermann, mit beiden Händen nachführte. Er sah, dass er Haschem vertrauen konnte. Über den Burschen musste er sich keine Gedanken machen, und das Problem mit der Hängebrücke war nicht schwieriger als jede andere Aufgabe. Er wusste, wie man Brücken baute, Brücken jeder erdenklichen Art, er hatte schon viele Brücken gebaut. Brücken jedweder Art und Konstruktion und Größe. Brücken über Flüsse und Täler und Wege, aber auch Brücken von Mensch zu Mensch. Diese Hängebrücke hier sollte die lebenswichtige Verbindung wiederherstellen zwischen den Ackerbauern und Viehzüchtern einer ländlichen Bergregion und den Märkten von Kundus und Faïzabad, auf die Mensch und Tier schon lange verzichten mussten.

      Das lose Stahlseil hing aufgrund seines Gewichts tief in der Schlucht durch, doch Haschem hatte es rasch nach oben gezogen und machte sich sofort daran, es in der Öse der intakten Halterung im Fels zu verspleißen. Als er fertig war, gab er Zeichen durch zwei kräftige Schläge auf das Seil, und während er mit der Hanfleine zurückhangelte, begann Hermann mit dem Verankern und Spannen der Stahltrosse auf seiner Seite. Dies vollendet, wiederholten die Männer ihr Werk mit den beiden anderen notwendigen Strängen, wobei sie mehrmals über die Stahlseile balancierend die abgrundtiefe Schlucht überquerten, um Löcher zu bohren, Metalldübel einzusetzen und Ösenschrauben anzubringen. Als alle Trossen verankert und gespannt waren, nicht zu lasch, damit die Konstruktion nicht in unkontrolliertes Schwingen geriet, nicht zu stark, damit sie nicht aus dem Fels gerissen wurde, verbanden der Afghane und der Deutsche vereint in einem erneutem Drahtseilakt die unteren Stränge in gemessenen Abständen untereinander durch die mitgebrachten Metallstäbe und hernach die unteren mit den oberen zu beiden Seiten.

      Nach einem Imbiss verstauten sie befriedigt das Gepäck, das erheblich geschwunden war, in und an die beiden Rucksäcke und versteckten die fast leere Stahlseilrolle in einer Felsspalte. Mit spielerischer Leichtigkeit turnten sie, jeder seinen Rucksack auf dem Rücken, über die teilfertige Hängebrücke, um auf die Kameraden zu warten und sie beim Anbringen des Maschendrahtbodens des Hängebrückensteges zu unterweisen und zu unterstützen.

      Auf der anderen Seite der Schlucht wollten sie gerade ihre Rucksäcke wieder abnehmen, als leichter Steinschlag sie aufhorchen und aufblicken ließ. Etwa fünfzig Schritt talaufwärts sahen sie die erwarteten Kameraden wie Ziegen über den Fels den Steilhangs herunterkommen. Die Gruppe bestand aus einem halben Dutzend Männern in der traditionellen Kleidung der Landbevölkerung mit groben, stark gebräunten, bartstoppeligen Gesichtern, ausgenommen ein Junge mit dunklem, flaumigem Gesichtshaar, der Hermann sogleich sehr bekannt vorkam. Sie näherten sich und grüßten Haschem freundschaftlich, während Hermann kaum seinen Blick von dem Jungen im hellbraunen Kaftan lassen konnte, der ihm bereits bei dem Buskashi aufgefallen war durch seine Haltung, seinen Gang, sein Verhalten und vor allem durch sein frühes Scheitern in dem wilden Kampfspiel und seinen schmählichen Rückzug. Hinter dem jungen Menschen trat ein kleingewachsener, stämmiger Mann hervor, der seinen Rucksack auf einem Felsvorsprung abstellte, auspackte und ihm ein Funkgerät entnahm mit einer ausklappbaren Satellitenschüssel.

      Nach einem kurzen Wortwechsel machten sich die Männer, mit Ausnahme des Funkers und des jungen Menschen, sogleich daran, die Maschendrahtrolle abzuwickeln und über der Bodenfläche der Hängebrücke, die noch aus gähnenden Löchern bestand, auszulegen und Masche für Masche zu verdrahten. Hermann blieb nichts zu tun, als den mit zweckmäßigem Werkzeug gewappneten Männern zuzusehen bei ihrer qualifizierten Arbeit, die ihnen flott von der Hand ging und bei der ihnen bald warm wurde, sodass sie ihre Kaftane ablegten und über die oberen Seile der Hängebrücke hingen.

      Der Funker hielt seinen schweifenden Blick auf dem kleinen Ausschnitt des Himmels über der Schlucht, während der junge Mensch die Saumpfade zu beiden Seiten hin sichernd im Auge behielt. Plötzlich, aus dem heiteren Himmel, näherte sich Ohren betäubendes, Luft zusammenpressendes Treibwerkgetöse, in dessen unmittelbarem Gefolge zwei Düsenmaschinen auftauchten, gekennzeichnet mit dem Stern, der sie als US-amerikanische Jagdbomber auswies, offenbar F-15-Jets.

      Der Mann am Funkgerät stülpte sich rasch ein Paar Kopfhörer über und begann, an seinem Funkapparat zu hantieren, während die Kampfmaschinen bereits wieder außer Sicht gerieten. Bald hatte er das Gerät so eingestellt, dass er den Funkverkehr der Flieger mit ihrer Kommandozentrale mithören konnte. Die Piloten meldeten, was sie sahen und sprachen von arbeitenden Zivilisten, während die Stimme des Kommandeurs, der wohl die Livebilder von den Kamerasystemen der Jets vor Ort direkt überspielt bekam, energisch widersprach und von unmittelbarer Bedrohung mit direkter Feindberührung redete, die von bewaffneten Aufständischen ausginge und auf der Stelle gebannt werden müsse. Zudem würde ein intakter Brückenübergang Nachschubwege eröffnen für Waffen der Taliban sowie für ihrer Finanzierung dienenden Rohopiumlieferungen.

      Der junge Mensch an der Seilbrücke, einen grellen Warnruf ausstoßend, deutete zum Himmel und winkte seinen Kameraden energisch, von der Brücke zu kommen.

      Ob sie noch ein oder zwei Mal über die Schlucht, die Hängebrücke und die Leute hinwegfliegen sollten, erkundigte sich einer der Piloten über Funk, während die Kampfjets sich wieder der inzwischen fertiggestellten Hängebrücke