Justine la Mour

Meditatives Schießen


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Gebirge aus Eis, die in einen düsteren Himmel aufragen. Eiswüsten, Schollen unter ihm, die jederzeit wegbrechen oder schmelzen könnten, ein Narr, der nach innen schaut, der den Weg nicht beachten will, auf dem seine Füße gehen, keine Schuhe, nur Ringelsocken, die Lampe, die zur Erleuchtung dienen soll mit dem Pferd, leichten Schrittes scheint er ohne Angst voranzuschreiten, sein Haar schlohweiß, die Weisheit des Alters in seinen Augen. Kein Land zu erahnen, nur Eisberge, Kraterlandschaften, kreideweiß, die weit entfernt liegen. Eisfelder, Abgründe, eine Winterlandschaft im düsteren Gewässer, kein Halt, keine Befestigungen, kein Ufer, nirgends. Voranschreiten mit traumwandlerischer Sicherheit von Scholle zu Scholle, der Fischschwanz aus Pelz, die Dekoration eines Narren im Traum.

      Sie stehen am Tejo, der über die Ufer getreten ist, mühsam versuchen Einheimische und Flüchtlinge Befestigungen anzubringen, Sandsäcke zu schleppen, die Wassermassen zurückzudrängen. Das Sprachgewirr hüllt sie ein, das unentwegte Reden in so vielen unterschiedlichen Klängen, portugiesisch, spanisch, englisch, französisch, italienisch vereinen sich zu einem Gemisch aus Klängen wie eine Melodie, die über dem Wasser schwebt.

      Max und Leonora stehen da und schauen zu, lachen, rangeln am Abhang, lange scheint es Spaß zu sein, aber dann wird es ernst, sehr ernst. Du willst mich umbringen! Nein, du mich!

      Leonoras Bein schwebt über dem Abgrund, es sieht aus als hätte sie keine Chance, als wolle er sie hinunterstoßen, sie sieht sich selbst schon fallen. Ihr roter Lederhandschuh, an einigen Stellen außen fleckig, innen warm und weich, sie lässt ihn los, ganz einfach geschieht es, sie nimmt es sich nicht vor, es geschieht wie von selbst. Sie macht eine kurze Drehung auf einem Bein, wie eine Balletttänzerin, das Pas de deux ist beendet, er steht am Abgrund, sein Fuß über dem Wasser, da lässt sie ihren roten Handschuh los und er fällt.

      Kein Schrei, kein Laut, nichts, als würde er freiwillig stürzen, sie sieht ihm nach als könne sie nicht glauben, was geschieht, als betrachte sie eine Szene in einem Film, wie in Zeitlupe scheint er zu fallen. Es ist ein Traum, denkt sie, es ist nur ein Traum. Aber sie weiß, sie besitzt rote Lederhandschuhe, sie stammelt etwas vor sich hin, ihre Lippen zittern vor Kälte und Aufregung, noch fällt er, immer noch, den roten Handschuh in seiner Hand, im allerletzten Moment scheint er sogar zu springen, beinahe elegant sieht es aus, wie die Turmspringer bei der Olympiade, eine Drehung, dann ein Aufplatschen, hoch spritzt das Wasser des Tejo von allen Seiten, Fontänen, die seinen Körper umringen. Er taucht unter in dem matten Grün, sein Kopf unter Wasser, die grauen Strähnen ganz deutlich unter der Oberfläche zu erkennen. Etwas zieht sich zusammen in Leonora, ein Zucken wie kurz vor dem Einschlafen, die Muskeln entspannen sich, sie lächelt. Peggy nimmt ihre Hand und zieht sie fort. Honey, let`s go. Das ist nichts für feine Ladies.

      Eingebettet in grünlich trübe Wassermassen treibt er davon, er scheint schon nicht mehr zu leben, sie sieht keine Schwimmbewegungen, nur ein ruhiges Treiben, weiter weg, fort von ihr, wohin weiß sie nicht. Nicht einen Augenblick lang der Impuls ihn zu retten, hinein zu springen, zu schreiben, nichts. Ein einsamer roter Lederhandschuh in seiner Hand, vom Ufer aus kann man ihn kaum erkennen.

      Mein Handschuh, er hat meinen Handschuh mitgenommen, Peggy! Leonora bewegt ihre Lippen, das Gesagte entgleitet ihr, es fließt aus ihr heraus, ein Strom, der nicht mehr endet, einmündet in die erschrockenen Schreie und Rufe der Fremden.

      Und dann steht er hinter ihnen, seine Augen stahlblau, ein Blau, das klarer nicht scheinen könnte. Die schwarzen dichten Wimpern nass wie von Tränen überströmt, noch nie hat sie ihn weinen sehen und auch jetzt, keine Regung, ein kleines Lächeln, ein leichtes Erstaunen, kaum sichtbar, ihr roter Lederhandschuh in seiner Faust, er hebt den Arm und lacht. Das Wasser tropft aus seiner Kleidung, aus den Haaren, es stört ihn nicht, er steht da als sei dieser kleine Zwischenfall ein Zufall und könne einen Mann seiner Größe nicht beeindrucken.

      Du hast etwas verloren, meine Liebe. Er zieht das triefende rote Leder behutsam über Leonoras Hand. Bitte sehr. Es ist, als verwachse der Handschuh mit ihrer Haut, als setze er ihre Hand fort, rot und kühl, dann wärmer. Sie wagt nicht, ihn wieder abzustreifen, sein Blick war ernst, feierlich, als würde er ihr einen Ehering überstreifen. Wie wäre es mit einer Shoppingtour, Ladies? Zwei lachende Münder, rotbemalt, zwei dunkelbraune Augenpaare, zwei Damen in seinem Herzen. Die Ufer sind befestigt, die Wassermassen dürfen fließen und drei Hände, einander festhaltend, laufen durch Lissabon, flanieren und lachen, die Herzen hüpfen kreuz und quer durch sie hindurch, als könnten sie sich zwischen ihnen nicht entscheiden.

      Im Grunewald, im Grunewald

      Sie tanzen, ein Offizier, groß und dunkelhaarig, dem Dialekt zu urteilen ein Tiroler und sie, eine Berlinerin, klein und blond. Immer wieder muss sie über ihn lachen, die Betonungen, die langgezogenen Vokale, die fremden Wörter, Matura, Einspänner, Schlagobers, als wenn seine Sprachwelt sich der ihren entzöge, um gleich darauf wieder so deutsch zu sein. Ich liebe Berlin, und Sie? Berlin ist anders, es ist ganz anders und so weit fort. Zwischen uns liegen nur ein paar Berge sagt er und lacht.

      Seine weiße Zahnreihe blitzt und sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter und verliert den Verstand. Sie tanzen durch die Geschichte, sie schweben durch den Sommerabend auf dem Berghof am Obersalzberg. Hinter seinen Augen dunkle Trauer, eine Tiefe, die ihr gefällt. Sie tanzen lange, eng umschlungen, sie saugt an einer Stelle am Hals, sein Seidentuch verschiebt sich, sie entdeckt später eine kleine ovale Stelle, blaurot angelaufen, kann sich aber nicht erinnern, wie sie dorthin kam. Seine Augen rotgeädert, sie wagt nicht zu fragen warum. Als sie seine Hand spürt, warm wie die eines Kindes, seine Haut, weich und rosig, fühlt sie sich geborgen. Hinter seinen Augen eine Schranke, sie kann nicht in die anderen Ebenen hineinsehen, nur Gegenwart. Ein Schimmer, ein Film, der seinen Augapfel benetzt, darin ein Funkeln, kaum sichtbar. Nach langer Zeit, in der sich ihre Körper mit denen der anderen wiegen wie in einem an- und abschwellenden Wellengang, löst sie sich aus seiner Umarmung. Er nimmt ihr Kinn in seine Hand und küsst sie flüchtig auf den Mund, sehr beschwingt als täte er es jeden Tag mit vielen Frauen. Sein Bild löst sich auf, er taucht ein in die Menge der tanzenden Paare, ein Meer umschlungener Körper. Als sie die Tanzfläche verlässt schaut sie sich um, ein bunter Teppich aus Klängen und Farben, der sich um sich selbst zu drehen scheint. Sie steigt die Treppe hoch und öffnet die Tür zu ihrer Suite, in der sie bei geöffnetem Fenster der Tanzmusik lauscht, den hellen, leichten Tönen wie sie durch die dunkle Bergwelt hallen, ein anschwellendes Dur. Sie streift ein Seidennachthemd über und fällt ins Bett. An der Wand gegenüber ein See, ein Kahn mit zwei Gestalten, eine davon in einem weißen Kapuzenumhang, schroffe Felsen, weißgraue Wolkengebilde, blumengeschmückt, ein Sarg, der auf die Insel hingetrieben wird. Als sie die Augen wieder öffnet steht er vor ihr. Seine Haut ist blass, fahl beinahe. Er trägt ein bodenlanges weißes Nachthemd mit Kapuze. Vor ihren Augen verschwimmen die Konturen seines Körpers mit der des Mannes auf dem Gemälde. Hast du schon geschlafen? Etwas zu laut ist seine Stimme, zugleich ein wenig unwirklich. Ihr Gesicht spiegelt sich in seinen Augen. Wer er ist, weiß sie nicht, sie will es nicht wissen, ein Fremder soll er bleiben, das Dunkle im Blick, das Andere, die Trauer, seine Trauer, keine gemeinsame Trauer. Sie scheint ihn zu halten, zu stützen, eine dunkle Zuflucht vor dem Chaos, sie hält ihn davon ab auseinanderzufallen. Sie stellt sich vor, in sein Fleisch zu beißen, sie probiert es aus, doch der Abdruck ihrer Zähne erschrickt ihn nicht.

      Erst sehr spät schreit er auf. Was soll das? Ich weiß nicht, ich dachte, du wachst davon auf. Seine Augen müde, tief eingesunken in dunkle Höhlen, sie spürt hinter den roten Äderchen seine Trauer wie eine Festung, dahinter hoch in den Himmel ragende Zypressen. Gräber, in Felsen geschlagen, Behausungen für die Toten, eine Insel voller Gräber, und sie weiß, sie haben eine Aufgabe, sie weiß es, nur den Weg dorthin kennt sie nicht. Wie die Müdigkeit in ihre Glieder sinkt, ein Gift, das lähmt, bleiern und grau wie die Wolken am Himmel. Was willst du, fragt sie, eingeschüchtert von seinem mächtigen Körper, der im Licht der Schreibtischlampe riesige Schatten wirft. Er drückt sie in die Kissen, sein Körper auf ihrem, sie ist müde, es ist ihr gleich was geschieht. Meine Frau ist gestorben, vor einem Monat, ein Herzinfarkt. Ihr Sarg ist weiß, helles Holz mit bunten Blumengestecken, sie liegt in einem Felsengrab auf einer Insel. Sie sieht ihn vor sich: Eine weiße Gestalt auf dem Kahn, das Gesicht nicht zu erkennen. Ein weißer blumengeschmückter