Bernhard Inderst

Mit Rad Und Zelt - immer der Nase nach


Скачать книгу

spiele ich die Optionen durch: Wie wäre es, wenn ich hier leben würde? Geht das so einfach, aus dem Kontext einer Großstadt auf das Land zu ziehen? Und umgekehrt? Auf dieser Reise erlebe ich hautnah alle Facetten einer Stadt, eines Dorfes oder des Landlebens. Da ich nicht alleine lebe, beziehe ich meine Familie mit ein. Würde meine Frau da mitspielen? Dazu muss ich sagen, dass ich passionierter Großstädter bin und in meinem ganzen Leben nur einmal aufs Land gezogen bin. Das war beim Umzug von Lissabon nach Bayern. Mein Großvater hatte uns eine Wohnung gesucht, in dem gutem Glauben, uns damit Gutes zu tun, mitten in der Landschaft Oberbayerns, eine Wohnung mit Blick in die Berge, aber weit weg von jeder Disco, jedem Kommunikationszentrum. Es war das, was man allgemein unter Kulturschock versteht. Ich war 17 und meinen etwas jüngeren Brüdern erging es nicht viel anders als mir. Wir blieben nicht lange, aber diese Erfahrung hat mich geprägt. Jetzt, 49 Jahre später, sehe ich die Dinge anders und die Bedürfnisse haben sich geändert. Ähnlich wie mein Großvater, der eigentlich nur aus seiner Perspektive handelte. Damals war der Kontakt mit anderen Jugendlichen wichtiger, heute erfreue mich dagegen mehr an schönen Landschaften. Und dennoch: Ist der Mann, der weit von jeder Metropole an seinem Vorgarten bastelt, ist die Frau, die die Wäsche in diesem Vorgarten auf den Wäscheständer aufhängt, sind diese Menschen glücklich in einer Siedlung neben einem ehemaligen, inzwischen verlassenem Dorfkern und vor allem, könnte ich ihren Lebensstil nachahmen? Mit einem Märchen will ich an dieser Stelle auch aufräumen: das Märchen von der guten Luft auf dem Land. Es gibt sie, die gute Luft, aber abseits von einer großflächig betriebenen Landwirtschaft. In diesen Gebieten, in denen Monokulturen vorherrschen, ist die Luft an mehreren Wochen im Jahr geschwängert mit irgendwelchen Chemikalien, die über die Felder versprüht werden und die dann auch über die Siedlungen hinwegziehen, von Wind getragen. Meine Antwort daher vorweg. Ich bin immer noch Großstadtmensch (und meine Frau auch). Mir liegt an einer lebendigen Stadt mehr als an der Einsamkeit auf dem Land.

      Das EuroVelo Netz

      Es war die Idee des Europäischen Radfahrerverbands und einiger anderer Verbände, ein europäisches Netzwerk aufzubauen, das dann 2012 vom Europäischem Parlament in das TEN Programm (Transeuropäische Netze) zur Umsetzung und Entwicklung des Binnenmarktes übernommen wurde, auch mit Blick auf die Verbesserung des sozialen Zusammenhaltes Europas. Darüber hinaus dienen die Wege der Weiterentwicklung eines sanften Tourismus in Europa, wie in einer Studie der EU über das EuroVelo Netzwerk festgestellt wurde. Weg vom flächenfressenden Ausbau von Autostraßen und Parkplätzen, hin zu einem Zugang zu den Naturschönheiten ohne zu stark auf sie einzuwirken. Ein wertvoller Beitrag hierfür, finde ich.

      Das EuroVelo Netz soll 2020 fertiggestellt sein und dann ca. 70.000 Kilometer umfassen. Derzeit (2019) sind es bereits ca. 56.000 Kilometer. Die Wartung der Wege ist Aufgabe der Gemeinden an der Strecke.

      Die Wege sind vielfältig, entspannend und meist gut beschildert – mit Ausnahme in Portugal (leider). Nachdem viele Gemeinden entdeckt haben, welch wirtschaftliches Potenzial im Fahrradtourismus stecken kann, entstehen auch viele neue Pensionen und Campingplätze, öffnen neue Kneipen und Bars entlang diesen Strecken, natürlich hauptsächlich in der (Fahrrad-) Saison. Die beginnt in den meisten Ländern im Mai und hört zumeist Ende September auf.

      Ich fahre Teilstrecken vieler dieser EuroVelo Strecken:

      Hinfahrt:

      EV17 (1100 Kilometer Andermatt bis Montpelier -Rhône ) Lausanne bis Aigues-Mortes

      EV8 (5900 Kilometer Athen bis Cadiz) Aigues-Mortes bis Agde, Narbonne bis Barcelona, Valencia bis Gandia,

      EV1: (8100 Kilometer Nordkap bis Sagres): Huelva bis Lagos, Aljezur bis Lissabon

      Rückfahrt:

      EV1: (8100 Kilometer Nordkap bis Sagres): Mérida bis Royan

      EV 6 (3600 Kilometer Nantes bis Constanta) Saumur bis Orléans

      EV 5 (3300 Kilometer London bis Brindisi) Gondrexange bis Sarrebourg

      EV 15 (1200 Kilometer Andermatt Hoek van Holland) Lauterbourg bis Karlsruhe

      Für die Radfahrenden, mit denen ich mich unterhalte, ist das EuroVelo Netz ein herausragendes Thema. Man fragt nicht, „Wie fährst du“, sondern „Welche EuroVelo Strecke fährst du?“ „Ich fahre die EuroVelo Sechs nach Wien.“ „Ich fahre die EuroVelo Eins nach Marokko“. Die Streckenführung ist damit festgelegt. Es ist eine Sprache, die verbindet. Der europäische Gedanke lebt. Das, finde ich, ist ein großer Verdienst dieses Netzes. Da EuroVelo ein geschützter Name ist, kommt es auch vor, dass die Wege etwas anders heißen. So heißt die EuroVelo 1 in Frankreich Velodysee, aber gemeint ist das gleiche und jeder versteht es auch, da die Kennzeichnung immer das Europazeichen mit der enthaltenen Nummer der EuroVelo Strecke ist.

      EuroVelo hat auch einen bestimmten Anspruch. Anspruch an die Fahrbarkeit der Strecke, an deren Ausbau, an deren Zustand. Und tatsächlich, zumindest für die Strecken, die ich fahre, ist es überwiegend so umgesetzt. Es sind wunderschöne Strecken, wo sogar die Kehrmaschine fährt, damit sich das Laub nicht in eine rutschige Masse verwandeln kann. Das habe ich in Frankreich so erlebt.

      Manche Strecken allerdings, die nicht dem Netz angeschlossen sind, lassen mich zweifeln, ob an diesen Orten die Idee des Radfahrens angekommen ist. Da sind z.B. die schnell angelegten Fahrradwege, die aber nie wieder gepflegt worden sind, sodass Sträucher inzwischen mitten auf dem Weg wuchern, oder Wege, die auf jeden Hügel führen, ohne Umgehungen, aber mit Steigungen, bei denen man schieben muss, obwohl nebenan die begradigte Schnellstraße verläuft. Das erzeugt ein Gefühl, dass man als Radfahrer doch nicht so richtig ernst genommen wird. So erlebt in Spanien auf der Strecke San Javier nach Murcia.

      Während in Frankreich einige der EuroVelo Strecken ausgediente Eisenbahnstrecken sind, die begradigt und nivelliert sind, sehr schön zu befahren, werden in Spanien durchaus auch einfache Feldwege an das Netz eingeschlossen, Wege, auf denen auch die Traktoren der Bauern verkehren. Oder die Sicherheitsstreifen der Nationalstraßen, breit genug, damit ein bepacktes Fahrrad fahren kann ohne Angst haben zu müssen, dass der LKW dahinter einen erfasst. Die gute Nachricht ist, dass gerade in Spanien etwas dafür getan wurde, um solche Situationen zu vermeiden, viele Straßen bekommen einen breiten Sicherheitsstreifen, ausreichend für die Radlfahrer. Daneben gilt in Spanien die Abstandsregel von 1,5 Metern zwischen Auto und Fahrrad, was die meisten Fahrer auch einhalten. In Portugal dagegen sucht man oft vergebens nach einem EuroVelo Schild, es gibt sie schlicht nicht und auch nicht die Fahrradwege. Doch das wird sich in der Zukunft ändern, hoffe ich. Seitenstreifen für Fahrräder sind ebenfalls selten und so bleibt einem oft nur, mitten auf der Straße zu fahren, in der Hoffnung, dass im nächsten Auto ein spanischer Fahrer sitzt, der die Abstandsregel aus seinem Land mitbringt. In Portugal jedenfalls gibt es keine (sichtbare) Abstandsregel. Ich befahre die Straßen in der Mitte, damit die Autos bremsen und richtig überholen müssen, eine gefährliche Annahme, aber weniger gefährlich, als ganz am Rand der Straße zu radeln. Wann immer es geht, fahre ich auf den weniger gefährlichen Nebenstraßen, warte auf Fahrradwege, die als solche auch zu erkennen sind.

      Deutschland – Süd, reloaded

      Ich fahre los. Es ist der 16. April 2018. Es nieselt und ich beschließe, schon am ersten Tag ein Hotel zu nehmen, in Seeshaupt, am Ende des Starnberger Sees. Ein super Anfang, denke ich. Es ist eigentlich nicht kalt, aber die Aussicht, nun vielleicht ein halbes Jahr immer wieder im Regen zu fahren, lockt mich wenig. Der Vorteil aber ist, dass ich allein auf den Fahrradwegen bin. Ich fahre durch den Forstenrieder Park, an der Autobahn entlang, runter nach Percha, rauf nach Berg, am Schlösschen Berg vorbei, jenem Schloss, von wo aus der Erzählung nach König Ludwig II am 13. Juni 1886 in das Wasser des Starnberger Sees ging und sich selbst das Leben genommen hat - so zumindest die offizielle Version. Doch diese Version enthält viele Ungereimtheiten, viele Indizienfunde widersprechen der Darstellung, seither blühen die Verschwörungstheorien. König Ludwig II wurde in München in einer Gruft der Michaelskirche in der Fußgängerzone bestattet, sein Herz dagegen kam in die Gnadenkapelle nach Altötting.

      Trotz des Nieselregens ist es ein gemütlicher, langsamer Beginn der Fahrt. Doch kurz nach