Martin Schlobies

Galvans Onkel


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- und hatte Mühe, meinen gelinden Schrecken zu verbergen. Als ich mich wieder gefaßt hatte, erwiderte ich galant:

      "Wenn ich Sie da hätte treffen können, würde ich gern das Risiko eines früheren Lebens auf mich nehmen!"

      "Die Engel würden applaudieren, wenn sie Sie so reden hörten!"

      Endlich erfuhr ich ihren Namen, Mrs. Habarth, und daß wir hier im gleichen Flur wohnten, im oberen Stockwerk.

      "Nein, so ein Zufall, und wir haben uns noch niemals gesehen? Wie ist denn das möglich?"

      "Nun, wir sind erst gestern eingetroffen!" erwiderte ich.

      Im großen Kamin brannte das Feuer jetzt hell und die Langeweile loderte mit kalter unsichtbarer Flamme in all diesen Gesichtern, wahrscheinlich auch in meinem. Unauffällig und von fern musterte ich, - dank der anscheinend bei mir sehr früh beginnenden Altersweitsichtigkeit war das möglich! - die Bücher in dem schmalen Regal neben dem Kamin; auch hier reihenweise englische Kriminalromane.

      Mrs. Habarth mußte jetzt unbedingt ein unscheinbares älteres Paar begrüßen, und nachdem sie anschließend einem jovial lächelnden Herrn mit schwarzen buschigen Augenbrauen und einem gewaltigen Schnurrbart auf die Wange geküßt hatte, flötete sie, immer noch mit einem Hauch Röte im Gesicht:

      "Verehrter Monsieur Pharmacien. Ich bin ja so erstaunt, Sie hier wiederzutreffen, und ja vielen Dank, das Körbchen mit den Erbeeren habe ich bekommen."

      Da tauchte Anna auf, das junge, vielleicht gar nicht mehr so junge Mädchen. Anna trug ein weißes Kleid mit rosa Schleifen, einen breiten weißen Gürtel. Ihre schwarzen schweren Locken waren nur lose mit einem weißen Band zusammengebunden; ganz 'höhere Tochter' war sie jetzt.

      Anna blieb abwartend zwei Meter entfernt von mir stehen und sah durch mich hindurch. Und da kamen auch schon ihre Großeltern.

      "Ist's möglich?" rief der Herr mit dem Schnurrbart, der Apotheker, ihr entgegengehend, "Anna? Meine kleine Anna? Komm her, teures Mädchen, umarme mich. Nein! Küsse mich hier auf die Wange und gib acht auf den Schnurrbart, daß er dir nicht die Augen aussticht!"

      Die Großmutter befahl aufmunternd:

      "Aber Anna, so gib doch endlich dem Monsieur Pharmacien einen Kuß auf die Wange!"

      Anna hob sich auf die Zehenspitzen und gab dem älteren Herrn einen flüchtigen, formellen Kuß auf die Wange, und ich wunderte mich, weil Anna dabei so böse oder unglücklich aussah.

      "Aber was hast du?", fragte der Apotheker, "Du machst ein so feierliches Gesicht!" - Ja, was hatte sie nur?

      "Was heißt: 'I am tired' - auf französisch?", fragte Anna den Apotheker; der lachte,

      "Ich weiß es nicht! Aber du lernst jetzt auch Englisch! Sehr tüchtig! Du bist wirklich ein gutes kleines Mädchen. - Und wer ist das hier?", fragte er und deutete auf mich.

      "This is my teacher!", antwortete Anna mit einem frechen Blick. Ich schüttelte verblüfft den Kopf.

      "Sehr gut, Anna!" sagte der Apotheker. "So bin ich als Lehrer also abgemeldet! Geh, gib ihm einen Tritt! Wir brauchen hier keine anderen Lehrer! Nun, er ist jünger und hübscher als ich, das gebe ich gern zu." Anna errötete.

      Die Großeltern setzten sich auf die Couch, auf meiner Seite und am Ende des Couchtisches, saß das junge Mädchen, Anna. Aus den braunen Augen des Großvaters und aus den hellen überraschend blauen Augen der Großmutter kamen sanfte Korrekturen: weisend, verweisend. Anna hatte die blauen hellen Augen offenbar von ihrer Großmutter.

      Ich vergaß sie jedoch bald wieder, weil ich mich mit Mrs. Habarth, der blonden Dame, und ihrer Tochter Mildred beschäftigte. Ich mußte das allerdings sehr unauffällig tun, denn ich wollte nicht, daß es allzu offenkundig wäre, welche der beiden Frauen mich interessierte. Außerdem sah mich Madame W. immer wieder eifersüchtig an. - Aber warum sollte ich darauf Rücksicht nehmen?

      Das wohlerzogene Hausmädchen servierte noch einmal 'Kaffee? Tee?' auf einem Silbertablett im englischen Stil, englische Silberkannen, chinesische Porzellantäßchen. Ich griff in den kleinen Messing-Korb auf dem Tablett und zog einen Zettel heraus, der zwischen den Keksen versteckt war. Ich merkte, daß Anna mich dabei beobachtete.

      "Was ist denn das?", fragte ich in die Runde hinein, und hielt den Zettel in der Hand.

      "Ist das Kaffee oder Tee?", fragte der Apotheker, als das Hausmädchen gerade die Tassen füllte.

      "Tee, Tee!", beteuerte das Hausmädchen.

      "Tee oder Kaffee?", wiederholte ich gedanken-los, während ich den Zettel las, auf französisch in Blockbuchstaben geschrieben: 'Nehmen Sie sich in acht! Vor einer der Frauen!'

      "Nicht möglich!", sagte ich.

      "Nicht möglich!", murmelte der Apotheker, "Warum ist er so schwarz? Gibt es denn in Portugal keinen guten Tee?"

      Das Hausmädchen verzog keine Miene und ging zu den anderen Gästen.

      "Nicht möglich!", murmelte der Apotheker noch einmal. Ich probierte den Tee.

      "Nicht möglich!", murmelte ich jetzt. In der Tat, es war die gleiche Mixtur, die man von Oslo bis Johannisburg in den Hotels vorgesetzt bekommt.

      "Jedenfalls sind die Portugiesen,", sagte der Apotheker, "was Tee betrifft, keine Autorität!"

      Anna sah mich an, während ich den Zettel umständlich zusammenfaltete. Sie hatte Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken. Etwas wie ein Verschwörerlächeln blitzte auf. Annas Gesicht wurde hell. Wasserblau und klar waren ihre Augen, was für ein Kontrast zu ihren schwarzen schweren Haaren! Sie hatte die neugierigen hellen Augen eines Kindes, das Opfer suchte, dachte ich. - Opfer wofür? Für ein Spiel?

      Ich winkte das Hausmädchen zu mir heran und sagte ihr leise:

      "Für das junge Mädchen sollten Sie Kakao servieren!"

      Das Hausmädchen blickte fragend.

      "Das Getränk aus der Bohne von Theobroma cacao. Landläufig auch Schokolade genannt!", mischte sich der Apotheker ein. Das Haus-mädchen nickte und gab zu verstehen, daß es sein Versäumnis nachholen würde. Kurze Zeit später kam es mit einer Tasse heißer Schokolade zurück, die es vor Anna hinstellte.

      "Ich mag keine Schokolade!", sagte Anna pikiert und schob die Tasse weit von sich. Das Hausmädchen blickte indigniert.

      "Dann bringen Sie die Tasse mir!", sagte ich. Das Hausmädchen tat das und ich schlürfte behaglich das glühendheiße, dickflüssige, schwere Getränk, das viel besser schmeckte als der fade Tee.

      Mrs. Habarth wurde auf einmal puterrot, sprang auf, ging zum Fenster, dann zu den Büchern, nahm ein beliebiges heraus und blätterte nervös darin; sie wagte es anscheinend nicht, sich nach mir umzudrehen, während ich mich mit Anna unterhielt. Ich hörte mich selbst etwas Spöttisches, Lustiges sagen. Anna lachte. Die Kakaotasse war leer, so stand ich auf, schlenderte unauffällig zum Bücherregal, während Mrs. Habarth auf der Flucht, vor mir? - hoffentlich nicht! - jetzt in Richtung der Mitte des Salons ging und einen neu hinzukommenden Gast begrüßen mußte.

      Etwas ratlos setzte ich mich auf den einzigen freien Stuhl, der in meiner Nähe war. Mildred, Mrs. Habarth' Tochter, saß mir jetzt gegenüber auf der Couch. Ich redete mit Mildred über Lissabon, über andere Großstädte. Ich fragte, sie erzählte. Sie war aus London. Unter dem hübschen Gesicht hatte sie einen etwas zu kräftigen Hals, bemerkte ich jetzt. Sie wirkte verlegen, oder sogar unfertig und linkisch, und wenn sie sprach, kam es mir vor, als probiere sie ihre Züge nur aus. Wo war die schöne junge Frau, die ich in ihr gesehen hatte?

      Die Mutter kam vorbei; sah ihre Tochter im Gespräch mit mir; zögerte einen Lidschlag lang; setzte sich dann aber nicht, sondern überließ ihrer Tochter das Feld.

      Anna unterbrach uns. Insistierte. Fragte. Spielte. Clownerie. Sie hatte wirklich theatralisches Talent. Die Wurzeln der Koketterie. Sie wird die Kindheit bald verlassen, dachte ich. Bald. Sehr bald. - Doch warum war ich so durcheinander? Eine merkwürdige, unerklärliche Unruhe hatte mich befallen,