Wilhelm Thöring

Ansichtskarten, Erzählungen


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der Rathaustreppe klingt die Musik des Streichquartetts herüber, und am äußeren Rand des Straßencafés breitet ein Pflastermaler seine Utensilien aus, bunte Kreide, verschiedene Lappen, dazu eine Zigarrenschachtel. Die wird so platziert, dass man fast darüber stolpert. Als er den Deckel aufschlägt, blitzen bereits einige Münzen darin.

      Mit flinken Strichen hat der Mann ein großes Rechteck auf den Gehweg gezeichnet und sofort beginnt er, darum einen gold-braunen Barockrahmen zu malen. Jetzt versteht es jeder: Hier entsteht ein Kunstwerk, um das ein Bogen zu machen ist.

      Das wäre getan, der Rahmen ist fertig. Der Maler reckt sich in die Höhe, tritt zwei, drei Schritte zurück und betrachtet ihn. Er ist ein Mann in den Dreißigern, knochig und mit hagerem unrasiertem Gesicht und einem stark hervorspringenden Adamsapfel. Um den Hals hat er ein buntes Tuch geschlungen, das den Adamsapfel nicht verdeckt, sondern ihn hervorhebt. Hinter den Ohren zeigen sich silbrige Fäden in seinem schwarzen Kraushaar. Er kneift die Augen zusammen und schüttelt den Kopf, als müsse er zuerst einmal Ordnung in seine Gedanken bringen.

      Neugierig geworden, bleiben die Leute stehen; sie betrachten das Geviert auf dem Gehweg, sie betrachten den Mann und warten auf das, was folgen wird.

      Aus der Westentasche zieht er eine Kunstkarte hervor und gibt seine Absicht preis: In den Barockrahmen wird er Vermeer van Delfts „Das Mädchen mit der Perle“ malen. Er hockt sich an den Rand des Rahmens, und rasch sind die Konturen des Gesichts, des Kopfputzes und der Schultern hingelegt.

      „Wozu braucht der die Vorlage?“, fragt eine junge Frau. „Der malt doch alles aus dem Kopf.“

      „Hundertmal gemalt!“ klärt sie ein älterer Herr auf. Und leise: „Wahrscheinlich kann er nichts anderes. Malt nur das.“

      Später, die Farben sind alle aufgetragen, das Bild wird mit Handballen und Fingern verfeinert, ruft eine Dame aus:

      „Wie wundervoll! Das hier würde ich mir sofort in die gute Stube hängen. Wirklich! Wie schade, dass das aufs Pflaster gemalt worden ist. Da lebt es nicht lange ...“

      „Na, wenn es nicht regnet, können Sie es sich auch morgen noch anschauen“, wird ihr geantwortet.

      Nach und nach ist der Kreis um den Maler größer und dichter geworden. Vorne werden die Köpfe schief gelegt, mancher Blick wirkt entrückt, nicht nur, wenn er das Mädchenbildnis, sondern auch seinen Schöpfer streift, seinen gebogenen Rücken, die sehnigen, braunen Arme, den Nacken unter dem dunklen Kraushaar. Und immer öfter streckt sich ein Frauenarm zu der Zigarrenschachtel hin und lässt ein nicht geringes Geldstück hineinklimpern.

      Der Maler steht auf, er mischt sich unter die kommenden und gehenden Zuschauer. Das Bild ist fertig. Er genießt es, Äußerungen der Bewunderung zu hören. Ja, einige applaudieren sogar. Aus dem Barockrahmen blickt ein junges Mädchen die Umstehenden an. Den Kopf hat es in ein blau-goldenes, turbanähnliches Gebilde gewickelt. Ein verführerisches Mädchen, mit seinem leicht geöffneten, auffordernden Mund. Jeden, der es ansieht, scheint es ins Dunkel des Hintergrunds mitnehmen zu wollen. Und im Schatten, am kaum erkennbaren Ohr: die Perle, groß und schwer, nur am Punkt des Widerscheins zu erkennen.

      „Genauso ist es!“ ruft eine begeisterte Frauenstimme. „Ich hab es vor drei Jahren in Den Haag gesehen. Im Mauritshuis. Nur, das Original ist kleiner und hat ...“

      Sie bricht jäh ab. Eine alte Frau, in der einen Hand einen weißen Stock, in der anderen eine Handtasche schwingend, tappt mitten hinein in das Kunstwerk auf dem Pflaster.

      „Ja, gibt’s denn das!“ schreit entsetzt die Frau, die in Den Haag gewesen ist. „Können Sie nicht besser aufpassen? Sehen Sie nicht, wo Sie hineinlaufen?“

      Mitten im Bild bleibt die alte Frau mit dem weißen Stock stehen und versucht, blinzelnd und verwirrt etwas zu erkennen.

      „Die sieht doch nichts!“ Der Maler nimmt sie behutsam beim Arm und führt sie an die Seite.

      „Entschuldigung“, murmelt sie. „Entschuldigung. Ich habe nicht ...“

      „Setzen Sie sich, hier ...“ Der Maler drückt die alte Frau auf einen Stuhl des Straßencafés.

      Verstört um sich blickend sitzt sie da, mit beiden Händen ihren weißen Stock umklammernd.

      „Bringen Sie der Frau einen Tee!“ ruft der Maler der Bedienung zu.

      „Ach, bitte, einen Kaffee“, sagt sie so leise, dass man es kaum hören kann.

      „Keinen Tee, einen Kaffee!“ ruft er, als er in den Kreis seiner bestürzten Bewunderer zurückgeht.

      Verstört und hilflos fragt die alte Frau den Kellner, der ihr den Kaffee bringt: „Für mich? Hab’ ich das bestellt?“

      „Der Mann da drüben ...“ er nickt zum Maler hin. „Der hat’s auch bezahlt.“

      Die alte Frau schüttelt verwundert den Kopf, und plötzlich fangen ihre Hände an zu zittern, dass sie fast den weißen Stock verliert.

      „Was hab’ ich denn angestellt?“ fragt sie, „dass die Leute so böse geworden sind?“

      Aber der Kellner hört sie nicht.

      Während sie ihren Kaffee trinkt, beginnen die Menschen auseinander zu laufen, und die Bedienung des Ratskellers rollt etliche Sonnenschirme zwischen die Tischreihen und spannt sie auf. Dann merkt es auch die alte Frau: unversehens hat es zu regnen angefangen.

      „Das ist nur ein Schauer“, sagt einer von der Bedienung. „Bleiben Sie hier sitzen und warten Sie’s ab. Das ist gleich vorüber.“

      Niemand ist mehr auf der Straße, keiner ist bei dem verlockenden Mädchen mit der Perle geblieben. Langsam verläuft das Bild unter dem Regen. Wenig später ist nichts mehr davon zu erkennen, nur ein schmutziger Fleck ist auf dem Gehweg zurückgeblieben.

      In der Wallfahrtskirche

      Im Allgäu

      „Bodo, hättest du von mir verlangt, dass ich da hinauf gehe – dann hättest du allein gehen müssen“, sagt die Frau und schiebt die Sonnenbrille in ihr Haar, um die Kirche auf dem Berg klar sehen zu können.

      „Hab’ ich aber nicht“, erwidert der Mann. „Glaubst du, ich hätte dich quälen wollen? Warum sagst du das?“

      „Nun, ich meine ja bloß.“

      Gemächlich, man könnte fast nebenher laufen, fährt er die Straße zur Wallfahrtskirche hinauf. Die Straße ist steil und kurvenreich, und nach jeder Biegung zeigt sich das Land prachtvoller, überwältigender.

      In einer scharfen Kehre tritt er unerwartet mit aller Kraft auf die Bremse, weil ein Trupp Radfahrer, im Sportdress und mit bunten Helmen auf dem Kopf, auf ihn zurast.

      Die Frau kurbelt das Fenster herunter, lehnt sich hinaus, als wollte sie der Truppe etwas nachrufen. Sie sagt: „Nein, Bodo, dass das so hoch ist ... Da oben eine Kirche hinzubauen! Fast in den Wolken!“

      „So ist das mit den Wallfahrtszielen“, meint der Mann, den Blick starr nach vorne gerichtet. „Da bist du stunden- oder tagelang unterwegs, endlich liegt das Ziel zum Greifen nahe – und dann heißt es: vor der Erlösung erst noch zusätzlich ein paar Blasen an den Füßen sammeln.“

      Er lächelt zu ihr hin, und die Frau lächelt zurück, ohne den Blick von der Bergkirche zu wenden. Ihr Gesicht ist hübsch, ist rundlich und glatt und was besonders auffällt, sind ihre dunklen, kreisrunden großen Augen. Ein Wust von unnatürlich braunen Locken umrahmt es, die sich fast bis an die Augen ringeln. Es ist ein angenehmes Gesicht, an dem man nicht vorbei sieht.

      Anders ist das Gesicht des Mannes: es ist abgemagert und grau, schmallippig und von tiefen Furchen zerschnitten. Dunkelgrau ist auch sein bürstenlanges Haar, mit tiefen Geheimratsecken. Auf den Schläfen liegen dicke, seilartige Adern. Die Augen kneift er ständig zusammen, als wäre er schwachsichtig oder als blende ihn die Sonne. Von weitem könnte man seine Arme für gebräunt halten, dabei sind sie von einem Pelz von dunklen Haaren überzogen.