Wilhelm Thöring

Ansichtskarten, Erzählungen


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hervorruft oder beißende Bemerkungen. Kurzatmig und schwerfällig watschelt sie auf den Berg zu. Sie geht auffallend breitbeinig, die Unterschenkel sind nach außen geknickt. Um voranzukommen, muss sie sich bei jedem Schritt aus der Hüfte heraus drehen. Und dabei hört man, wie ihre Oberschenkel aneinander scheuern.

      Vorsichtig fragt der Mann: „Gitta, möchtest du die Autoschlüssel haben?“

      Sie bleibt stehen, um zu verschnaufen, schüttelt den Kopf. „Ich werde das schon schaffen ...“

      Ja, sie schafft es. Mit Pausen kommt sie die vielen in den Fels geschlagenen Stufen, die an den Kanten mit Tannenstämmen gesichert sind, hinauf. Der Mann ist vorausgegangen. Er wartet oben. Sich langsam um die eigene Achse drehend, das Fernglas vor den Augen, betrachtet er das Land.

      Die Frau stellt sich neben ihn, lehnt sich an das Geländer. „Warte einen Moment“, jappst sie und wischt sich mit dem Taschentuch übers Gesicht und in den Ausschnitt.

      Schließlich ist sie wieder bei Kräften, langsam und vorsichtig tappt sie neben ihm zum Eingang der Wallfahrtskirche.

      Sie flüstert, als spräche sie ein Gebet. „Nein, diese Sonne! Diese Höhe! Dieser holprige Boden!“

      In der Kirche sind nicht wenige Besucher. Sie zwängen sich in jede Ecke, als gäbe es da eine verborgene Besonderheit zu entdecken. Die meisten aber drängen sich um den Altar, bestaunen die Schnitzereien, die Bilder, befingern die kostbare, bestickte Altardecke. Eine ältliche, aufgedonnerte Amerikanerin prüft auch die Echtheit der Altarblumen.

      Links vom Altar führt eine Tür in den Turm. Menschen drängen hinein und quellen daraus hervor. Rufe sind aus dem Aufgang zu hören, Pfiffe und Geschimpfe und ein Durcheinander von Warnungen und Zurechtweisungen.

      Der Mann steckt seinen Kopf in den engen Aufgang.

      „Warte hier auf mich“, rät er seiner Frau. „Du kannst dich ja in der Kirche umsehen ...“

      Sie zwängt sich in eine Bank, und ohne ihre Antwort abzuwarten, verschwindet er in der kleinen Tür.

      Die Frau, immer noch außer Atem, sieht sich um. Auf der anderen Seite hocken ein paar betende alte Frauen. Nichts, so scheint es, kann sie bei ihrer Andacht stören oder davon abbringen.

      So tief im Gebet versunken können die doch gar nicht sein, denkt die Frau. Die tun nur so. Die kriegen alles mit, was in der Kirche passiert, selbst im hintersten Winkel.

      Sie beobachtet die in die Kirche drängenden Besucher. Auffallende und schlichte Menschen, Deutsche aus den entferntesten Gegenden und Ausländer, vor allem Ausländer. Die einen flüstern, raunen, andere geben sich ungehemmt, als hätten sie ihre Eckkneipe betreten.

      Wieder nimmt die Frau die betenden alten Weiber ins Visier: Die hocken immer noch da, eingesunken und mit hängenden Köpfen. Die sind wirklich im Gebet vertieft, oder sie sind eingeschlafen ...

      Die Frau lächelt vor sich hin.

      Dieses Altarbild, was stellt es dar, überlegt die Frau. Wenn ich das wüsste! Viel von den Heiligengeschichten kenne ich nicht. Wenig, nur ganz wenig. Am besten die über Weihnachten. Das hört man ja alle Jahre wieder. Und etwas von der Kreuzigung. Aber so recht weiß ich auch da nicht Bescheid. Ich werde Bodo nach dem Bild fragen, der läuft in jede Kirche. Der wird es wissen. Ich denke, es ist das übliche, wie immer. Mir kommt es vor, als wäre es ein wenig anders gemalt. Aber es ist gut gemalt. Ein schönes Bild ...

      Wieder sieht sie sich um. Nun, ich werde einfach dasitzen und die Menschen beobachten, dieses seltsame Volk ohne Respekt, ohne Pietät. Und die alten Weiber da drüben. Das könnte langweilig oder unterhaltsam werden ...

      Endlich taucht ihr Mann in der kleinen Seitentür auf. Seine zusammengekniffenen Augen können sie nicht sofort entdecken. Sie steht auf, so gut es in der engen Bank geht, winkt ihm.

      „Ich bin auf dem Dach gewesen“, sagt er und setzt sich neben sie. „Ist das ein Abenteuer! Du kannst dir nicht vorstellen, Gitta, wie schmal der Aufgang ist. Und die vielen Stufen! Kurz und ausgelatscht. Hühnerstiegen von unten bis oben ... Alles so eng, dass kaum ein Mensch gehen kann. Und dann die, die herunterkommen! Die jungen stürmen drauflos, stoßen sich ... Und bist du endlich oben, auf der Aussicht, dann musst du wieder aufpassen, weil die Bohlen wackelig oder morsch sind.“

      „Wie hoch kommt man da?“

      „Aufs Dach“, der Mann zeigt gegen die Kirchendecke. „Das ist nur etwas für Schwindelfreie ...“ Plötzlich hat er vergessen, dass er in einer Kirchenbank sitzt. Begeistert ruft er: „Aber du hast einen Blick, Gitta!“

      Ein älteres Paar fegt heran. Empörung im Gesicht, Empörung im Gang, in den ausholenden Armen.

      „Fixlaudon!“ braust der Mann auf. „Wenn hier a jeder so blädern tät! - Dös is ka Kaffeehaus! Solln ma Strudel bringen? Oan Schwarzen? Melange? Solln ma Kaffeehausmusik spölln lossen?“

      Vor Aufregung ist der Mann krebsrot geworden, sogar seine Fliege hat sich quergestellt.

      „Mir san doch in d’Kirchn!“ zischt die Frau an seiner Seite. „Ham’s dös net mitkriegt? – Dei Mascherl!“ Sie rückt ihm die Fliege zurecht.

      Das weckt die eingeschlafenen alten Frauen auf. Jetzt sind die ihrerseits aufgebracht, zwängen sich aus der Bank, drängeln sich durch die Menschen. Sie umringen die Empörten aus dem Nachbarland, und alle giften durcheinander: „Wo san mer denn? Gehn’s naus! Da können’s kreischen! Des is a Beläschtigung! Hier is Andacht!“

      Ein paar Mal schnappen die Beschimpften nach Luft, wollen die Sache richtig stellen.

      „Komm, geh ma!“ Der aufgebrachte Mann packt die Frau am Arm und zerrt sie nach draußen.

      Eine von den Alten beugt sich zu der umfangreichen Frau und meint mit hochgezogenen Schultern: „Leit gibt’s, na! Haben ka gute Kinderstubn ... Schad!“

      „Wie recht Sie haben“, gibt die zur Antwort und stößt ihren Mann an, dass sie gehen möchte.

      Als die alten Frauen an ihren Platz zurückgegangen sind, geht auch die kolossale Gitta mit Bodo, ihrem zaundürren Mann. Respektvoll machen die anderen Platz, sehen die beiden mitleidig an, nicken wie zustimmend.

      Ein alter Mann mit spindeldürren Beinen und einer jungenhaften Mütze auf dem Kopf meint: „Ja, ja. Auf unsere Piepen sind alle scharf. Aber sehen wollen die unsereins nicht ...“

      Er sagt das so, dass es die gewichtige Frau und ihren Mann versöhnen soll.

      Seine Begleiterin, ein junges, flachbrüstiges und aufgeschossenes Ding, unter einer ebensolchen Mütze wie der alte Mann, stößt ihn in die Seite.

      „Ach, Hans Gottfried, das war doch anders! Ganz anders!“

      Ansichtskarten

      Rheinsberg

      Es sind nicht wenige Leute in Rheinsberg, die die beiden Alten kennen. Seit vielen Jahren, vielleicht seit der Wiedervereinigung, sind sie alle Jahre einige Sommerwochen in der Stadt. Draußen in den Wäldern oder am See sind sie anzutreffen. Sie gehen immer Hand in Hand, sie wirken behutsam und liebenswürdig miteinander. Egal, wo sie auch auftauchen – der Mann geht nie ohne seinen Einkaufskorb, während sie einen handtaschenähnlichen Lederbeutel bei sich hat.

      Bei heißem Wetter sind sie jenseits des Grienericksees zu sehen. Langsam, aufrecht, mit festem Schritt spazieren sie durch den kühlen Wald. Den Vormittag verbringen die beiden beinahe jeden Tag auf dem Markt vor dem Schloss. Hier werden neben Obst und Gemüse, Schleuderware, Billigkleidung und Ramsch, auch alte Bücher angeboten. Ihnen gilt ihr Interesse. Die Alten blättern darin, lesen und machen einander auf das eine oder andere aufmerksam. Und schließlich wandert es in seinen Korb.

      Gerade hier, zwischen den von Sonnenschirmen überdachten Verkaufsständen, sind sie bekannt. Verkäufer und Herumbummelnde grüßen sie, rufen ihnen Freundlichkeiten zu.

      Heute hat der Mann unter den Büchern eine Seltenheit entdeckt. Er winkt seiner