Wilhelm Thöring

Ansichtskarten, Erzählungen


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      „Eine Perle!“, ruft sie. „Wilhelm, das Buch gehört uns!“

      „Das meine ich!“

      Als sie bei ihm ist, sagt er: „Der Streit wird losgehen, wer es zuerst lesen darf.“

      „Natürlich der Finder“, sagt sie großzügig.

      Er legt einen Arm um ihre Schulter, küsst ihre Schläfe.

      „Wilhelm, ich brauche noch einige Ansichtskarten.“

      „Da, beim Ratskeller. Gehen wir.“

      Vom Schlosshof dröhnt Musik herüber, dann bricht sie schlagartig ab. Heute Abend ist die Generalprobe zu Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in Patria“. Um Störungen zu vermeiden, ist heute der ganze Innenbereich des Städtchens abgesperrt, auch Wachen sind aufgestellt worden.

      Manchmal ist das alte Paar in den Schlosshof gegangen, um den Proben zuzusehen. Andere kamen, saßen irgendwo, besprachen sich leise, wunderten sich, wie oft manche Szenen durchgespielt werden mussten. In der Oper agierten durchweg junge Sänger. Einige hatten quer durch den Schlosshof zu hetzen, andere rollten auf Rhönrädern herein. Ein Sänger sollte, so sah es aus, ins Wasser stürzen ...

      Beim Kartenkauf weiß die Frau genau, was sie will: Zielsicher zieht sie drei, vier Ansichtskarten aus dem Ständer.

      „Na, wie findest du die?“, fragt sie den Mann.

      „Ansichtskarte ist Ansichtskarte.“

      „Finde ich nicht, hier ...“ Die Frau fingert eine andere hervor. „Hier – nichts als abgelichtete Kulisse, Wilhelm. Wie eine Bühne ohne Schauspieler, ohne Sänger“, fügt sie hinzu. „Solche Karten sind fade, sind ohne Leben.“

      Mit schiefem Kopf betrachtet der Mann die Karten, dann seine Frau. „Ja, so ..., so kann man es auch sehen ...“, sagt er noch nicht überzeugt. „Aber wichtig, sage ich dir, wichtig ist die Botschaft. Ist der Text. Nicht das Bild.“

      Die Frau setzt noch eins drauf, sie muss ihn zu ihrer Ansicht bekehren. Sie beharrt: „Die meisten Maler, Wilhelm, haben in den Vordergrund ihrer Landschaften Leben hineingemalt. Feines Leben oder pralles Leben. Und manchmal auch derbes ... Wir kennen Bilder, Wilhelm, da konnten wir geradezu Acker- oder Kuhgeruch einatmen.“

      Der Mann hebt zweifelnd die Schultern.

      „Ach, Lucie, Karte ist Karte“, sagt er noch einmal.

      Die Frau schwenkt eine Karte. Hartnäckig fährt sie fort: „Hier, Rheinsberg! Das Schloss ..., aber davor der Markt. So wie wir Rheinsberg kennen. Und hier: die kleine hässliche Straße. Du kennst sie, Wilhelm. Die, die da drüben am See endet. Links und rechts die heruntergekommenen Häuser, schiefe Fensterläden, hängende Dachrinnen, aber da unten, Wilhelm: Leben! Menschen, die ein Boot ins Wasser schieben!“

      Aus dem Schlosshof klingt Penelopes Klage. Auf dem Markt wird es still, die Leute horchen auf. Ein Pferd vor seinem Wagen, das bewegt werden möchte, wiehert dagegen an.

      „Diese herrliche Musik“, sagt die Frau. „Wie freu’ ich mich auf die Oper.“

      „Bis morgen Abend musst du noch warten, Lucie. Ist das nicht ein schöner Abschluss unserer Ferien?“

      Die Frau nickt, dann wendet sie sich dem Kiosk zu, um die Ansichtskarten zu bezahlen.

      Späte Rückkehr

      Dresden

      „Nun, da bin ich“, flüstert Jakob Steinberger. Das sagt er immer wieder, wenn er in dieser Stadt an einem neuen Platz angelangt ist.

      Vor drei Tagen ist Jakob Steinberger in seine ehemalige Heimat gekommen. „Meine gewesene Heimat“, wie er sagt. Er ist in Deutschland, um es genauer zu sagen: er steht auf der Brühlschen Terrasse in Dresden.

      Jakob Steinberger ist ein alter Herr, im nächsten Jahr wird er achtzig.

      „Nu, wenn du fahren willst, dann fahr“, hat seine Frau Rosel gesagt. „Der Allmächtige allein weiß, wie lange du noch dazwischen herumgehen kannst. Später ...“ Sie hat nicht ausgesprochen, was sie mit später meinte. Aber Jakob Steinberger wusste es.

      So ist er gefahren.

      Seit über fünfzig Jahren lebt Jakob Steinberger in Israel, seiner angestammten Heimat. Deutschland – das lag so weit weg. Die Erinnerungen glichen teils schönen, teils beklemmenden, Angst machenden Träumen. Diesen Träumen wollte er am Ende seines Lebens nachgehen.

      Vieles hat Jakob Steinberger schon in Augenschein genommen: die Semperoper, den Zwinger, im Stallhof des Schlosses ist er gewesen, und an seiner Außenseite betrachtete er Ludwig Richters Fürstenzug. In der Hofkirche hat er dem übenden Organisten gelauscht. Gestern Abend wollte er an der Frauenkirche den Arbeitern zusehen. Er sah sie nicht, nur grelle Scheinwerfer, die den Handwerkern geleuchtet haben. Ihre Rufe konnte er hören, ihre Maschinen. Dann ist er auf Umwegen wieder zurückgeschlendert zur Brühlschen Terrasse.

      Die Elbe strömt kraftvoll und ruhig nordwärts, immer mehr Lichter beginnen sich in ihr zu spiegeln. Es ist, als bekämen die Geräusche in diesem Licht einen anderen Klang. Ein Dampfer tuckert stromabwärts, voll von bunten Lampen und fröhlichen Menschen.

      Vom anderen Ufer leuchtet Neustadt herüber –

      Und jetzt erst fällt Jakob Steinberger der jüdische Friedhof da drüben an der Pulsnitzer Straße ein. Hin und wieder hat er in Israel an diesen Friedhof gedacht. An seine verschnörkelten hohen Grabmäler, manche über und über grün von Moos, und wie die Mutter ihm die Inschriften vorgelesen hat. Hier in Dresden ist ihm der Friedhof bislang nicht in den Sinn gekommen. Wenn es ihn noch gibt, dann wird auch er Wunden haben, sagt er sich, so wie wir, wie diese Stadt ihre unzähligen Wunden hat. Sie werden keinen Grabstein stehen gelassen, werden alles schon vor der Bombardierung im Februar fünfundvierzig beseitigt haben!

      Soll er hingehen? Es wird sich ergeben oder nicht ergeben, denkt Jakob Steinberger.

      Ja, nach Neustadt will er gehen, sofort!

      Jakob Steinberger überquert die Augustusbrücke, wenig später den Neustädter Markt mit dem goldenen Reiterstandbild Augusts des Starken. Als er ein Kind war, schien ihm der große König bis in den Himmel zu reichen. Ja, in seinem Gold war er bestimmt direkt vom Himmel auf den Platz geritten. Für den Jungen stand er in mehrfacher Hinsicht für Größe. Beachtlich ist er immer noch, aber ...

      Jakob Steinberger fühlt eine Art von Trauer, die sich bei allem Verlorengeglaubten einstellt.

      In der Hauptstraße ist noch Betrieb. Ein gemischtes Volk sitzt auf den Bänken unter den Platanen, die sich die Straße hinaufziehen. Dadurch, dass sich die Straße zum Albertplatz verjüngt, täuscht sie eine Länge vor, die sie nicht hat. Wie endlos ist ihm diese Straße in seiner Kindheit vorgekommen.

      Er betritt ein Restaurant, das in einem überdachten Hof untergebracht ist. Hoch über dem äußersten Rand der Dächer spiegelt sich Glas und vermittelt den Eindruck, dass man unter freiem Himmel sitzt. Ein Restaurant von dezenter Eleganz, wie er es bisher in Dresden noch nicht gesehen hat.

      Als ihm das Essen gebracht wird, tritt ein junges Paar an seinen Tisch, vielleicht Anfang, Mitte Zwanzig.

      „Entschuldigen Sie bitte“, vor Aufregung flüstert der Mann. „Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“

      „Für alte Menschen ist es immer sehr erfreulich, wenn die Jugend sich zu ihnen gesellt“, lacht Jakob Steinberger. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

      „Wir wünschen Ihnen einen guten Appetit“, haucht die junge Frau, und sie bekommt einen roten Hals und rote Ohren.

      Sie bestellen Wein, und als sich die beiden zuprosten, sehen sie sich mit einem Blick an, der Jakob Steinberger veranlasst, sich über seinen Teller zu beugen. Es dauert eine Weile, ehe sie trinken.

      Sie haben die Köpfe gesenkt und schweigen. Endlich sagt der junge Mann, und er hält seinen Blick fest auf die Tischplatte geheftet: