Helmut H. Schulz

Briefe aus dem Grand Hotel


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in die Bündnistreue dessen, der nach Massenbegeisterung gierte, die nicht vom Politbüro gemacht worden war.

      Dicht neben dem Grand Hotel steht eines der berühmtesten Opernhäuser des Kontinentes. Man braucht nur wenige Schritte zu gehen, um die Deutsche Staatsoper Unter den Linden, kaum weniger berühmt als die Komische Oper, zu erreichen, und am Schiffbauerdamm hat das Berliner Ensemble noch immer seinen Sitz, Brechts Stammhaus. Für alle diese Bühnen können wir Karten beim Empfang des Hotels erhalten, aber wir Korrespondenten haben keine Zeit fürs Sprechtheater oder für noch so vorzügliche Opernaufführungen; denn vor unserer Tür hat ein Jahrhundertschauspiel Weltpremiere. Wir erleben gerade den zweiten Akt und haben soeben erfahren, was der liebenswürdige Regent, von dem einer unserer bekannteren Publizisten, bei Gelegenheit Leiter der Bundesvertretung in Ost-Berlin, behauptete, jener gewinne viel bei näherer Bekanntschaft (und er muss ihn Wohl sehr gut gekannt haben, wenn ihm solche Bemerkung leicht und wie selbstverständlich von den Lippen fließt und in einem gedruckten Text verewigt wird), seinen Untertanen zugedacht hatte. Das Medienpersonal wird indessen immer mehr zu einer geschlossenen Gesellschaft aus alternden Damen und Herren, die sich die Bälle freundlich zuspielen und einander in seriösen Sendungen wie auf einer amerikanischen Party mit Sie und beim Vornamen anreden. Gleichwohl hatte dieser liebenswürdige Herr Honecker keine sehr gute Stunde, als er die Parole Konterrevolution ausgab.

      Hier und heute dreht sich nun aber wirklich alles um die Frage, was die Sicherheitskräfte, Polizei, Armee und vor allem die Besatzungsarmee tun werden. Der Kurzbegriff dafür heißt: Schießbefehl. Ein solcher Befehl könnte uns sowohl einer Katastrophe wie einer Befreiung rasch näher bringen; uns, das sind die Ostdeutschen, die sich blutig aus eigener Kraft zwar nicht befreien könnten, aber doch eine Wende erzwingen würden, die den Namen verdient, Wende wohin auch immer. Ob die NATO eingreifen würde, ist kaum einer Erörterung wert. Einem Blutbad im Osten würde sie mit größter Gelassenheit und ungeheurem Moralgeschrei beiwohnen und nach langem Palaver einige halbe Maßnahmen ergreifen, etwa ein Embargo zunächst androhen, dann beschließen und es in Kraft setzen, wenn die Zeichen schon wieder ganz anders stehen. Will sagen, dass die Interessengegensätze in Europa eher größer werden dürften, sollte sich in der Tat eine deutsche Einheit am Geschichtshimmel abzeichnen. Die deutsche Teilung ist den Europäern ein viel zu kostbarer Kriegsgewinn, als dass sie sie preisgeben wollten. Außer Durchhalteparolen und einigen Care-Ladungen hätte das westliche Bündnis den Ostdeutschen also nichts zu bieten.

      Ich schrieb Ihnen schon meinen Eindruck. Bei längerem Aufenthalt hier und zur Objektivität angehalten, entwickelt Ihr Korrespondent Sympathie für die spezielle Mentalität dieser seiner Landsleute. Ihm wird plötzlich wieder bewusst, aus welchem Verbund er wie alle anderen herausgerissen wurde, und er ist heimlich versucht, diesen ethnischen Zusammenhang wiederzugewinnen. Hier aber stockt ihm bereits der Atem, er sieht die mannigfachsten Vorwürfe und Verdächtigungen seiner treuen Freunde und Verbündeten auf sich zukommen. Was bisher nur Aufgeregtheit ist, das könnte noch immer zum nationalen Aufbruch werden. Gemach, es wird ein langer Marsch werden, bei dem unsere Nachbarn - und wir haben Nachbarn bis an den Pazifischen Ozean - ein kräftiges Wörtchen mitreden dürften.

      Also zur Sache, vieles deutet darauf hin, dass der Staatsratsvorsitzende für einen Schießbefehl haften muss, den eine Gruppe einflussreicher Leipziger Bürger verhindert haben will. Ganz klar ist der Ablauf jener Tage vor einigen Wochen bis heute nicht. Dass eine halbe Million Menschen mit Sicherheit etwas anderes sind als Konterrevolutionäre, ist gewiss.

      Nichts scheint mir übrigens bezeichnender für den sklerotischen Zustand dieser Oligarchen, als ihr Umgang mit der Sprache. Sie nahmen das Verfallsdatum ihrer Heilslehre gar nicht wahr, wie sie das Gefühl für die reale Lage eingebüßt haben. Ob nun allerdings ein Hofkapellmeister und ein Laufjunge des Politbüros den Waffeneinsatz der Russen, und nur auf die Kontingente der Roten Armee kommt es an!, in Leipzig und anderswo verhindern konnten, scheint Ihrem Korrespondenten mehr eine Glaubensangelegenheit, als eine historische Gewissheit. Eigenartigerweise aber beginnen die Deutschen ihre Liebe zu den Russen hervorzuholen; lesen Sie wiederum bei Fontane nach: Die Russen haben kein Ehrgefühl und kein Mitgefühl. Aber wir haben ein Datum, einen Hinweis auf das, was hier mit dem Begriff "Wende" auf den Weg gebracht worden ist. In jener Nacht von dem 9. auf den 10. Oktober stand es auf der Kippe, der Befehl zu scharfem Schuss und Panzereinsatz überhaupt, vielmehr dessen strikte Befolgung hätte eine andere Welt geschaffen.

      In unserer albern friedenstaumeligen und ruhesüchtigen Zeit ist es kaum vorstellbar, dass Waffen in größerem Stile noch eingesetzt werden. Sie sollen auch nur hochgehalten bleiben, damit sie jeder sehen kann und fürchten lernt. Begrenztere Kriege werden wir allerdings alsbald wieder kennenlernen. Das Politbüro jedenfalls, diese allmächtige Instanz, vor der Recht und Gesetz aufhören zu bestehen, hatte aus seiner Begeisterung für die chinesische Lösung im Sommer, dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, nie einen Hehl gemacht und sogar seinen Laufjungen, eben jenen, der sich rühmt, aus Einsicht den Panzeraufmarsch nach dem Muster des 17.Juni 1953 abgeblasen zu haben, mit der Mission betraut, die Glückwünsche des Politbüros in das abgelegene China zu tragen.

      Ihr Korrespondent ist kein Politiker, aber er ist ein alter Fuchs, und Sie sollten es sich gut überlegen, ob Sie noch einmal einen Skeptiker mit der Mission betrauen, einen Schluss- und Siegesbericht abzufassen. Kein Politiker zu sein, das enthebt Ihren Korrespondenten der Pflicht, irgend jemandem zu Munde reden zu müssen, heißen sie nun "Bürger" oder "Staatsbürger" oder gar "mündige Bürger", wie es hier gestern aus Anlass einer Massenkundgebung aus berufenem Munde tönte; man glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Es handelt sich um eine der denkwürdigsten Veranstaltungen der Volksbewegung und zugleich eine der harmlosesten, sehr verschieden von den Aufführungen zu Leipzig und Dresden. Gerade wegen dieser Harmlosigkeit aber werden den Protagonisten der Veranstaltung Plätze in den vordersten Reihen der Revolution zugeschrieben werden.

      Berlin war immer das Zentrum dieses Kunst- und Kleinstaates, der als Frucht hegemonialen Denkens und eschatologischer Erlösungshoffnung wie die berühmte Brotkrume vom Verhandlungstisch der Siegermächte abgefallen war, und genau solange wird die DDR existieren, wie die Bündnislagen der zu Ende gehenden Nachkriegszeit andauern. Dieser Staat DDR hielt die europäische Politik in Balance, und das hatten alle Deutschenfresser gut begriffen.

      Es sei denen verziehen, die des Guten ein bisschen zu viel taten, als sie in großzügigster Weise Prädikate wie dieses vergaben: "Heldenstadt Leipzig"; obschon die Volksbewegung zu Leipzig in der Tat durch die Nähe der Gefahr die höheren Weihen ihrer Sendung empfing. Weshalb Leipzig, das hat seine besonderen Ursachen, und dass zu Schwerin in Mecklenburg ein schlauer Kopf an die Wand schrieb: "Norden, erwache!", zählt ebenfalls zu den untergeordneten Denkwürdigkeiten dieser Volksbewegung. Bei der Berliner Veranstaltung am 4. November, und ich habe einiges vorweggenommen, um uns in Stimmung zu versetzen, wie Sie natürlich gemerkt haben, war viel von Revolution die Rede. Es war keine, alles andere, nur keine Revolution, aber noch könnte es eine werden. Heutzutage denkt man solche Aufführungen nicht mehr an ästhetischen Teetischen aus, wie Anno dazumal, sondern man geht auf die Straße, spielt ein Stück Klassenkampf wie auf der Bühne. Ihr Korrespondent stand eingekeilt in der Menge und versuchte, sich die Neurosen dieses Volkes in seinem freundlichen Aufbegehren und seiner naiven Einfalt im Glauben an die Macht des Gedankens zu deuten. Er erlebte den zaghaften Rauschzustand eines als vage Möglichkeit begriffenen Sieges, eines Sieges, der sich nicht beschreiben, wohl aber fühlen ließ, was allemal die höchste Glückseligkeit zu sein scheint. Er hielt sich vor Augen: Diese Leute durften nicht lesen, was sie wollten, nicht hören, was sie interessierte und nicht reisen, wohin es sie zog? Ihre Briefe wurden beschnüffelt, ihre Kontakte zu anderen überwacht? Alles, was selbständig dachte, sah sich der Verfolgung ausgesetzt und zumindest im sozialen Leben benachteiligt, wenn nicht eingesperrt? Vortrefflich, deshalb war es eine Revolution des Verbalen, eine Befreiung des Wortes, der Erlösung aus der Sprachlosigkeit, wie Sie wollen. Endlich wurde einmal in aller Öffentlichkeit frei geredet. Welch ein erhabenes Gefühl! Aber Ihr Korrespondent ist wie gesagt ein alter Fuchs, er nahm sehr wohl den Spionagegeneral auf der improvisierten Bühne neben einigen Oberlaufjungen der Partei wahr; er sah die alten bürgerlichen Garden, die Führer der Block-Parteien, er roch den Mief des alerten und anschmiegsamen Schriftsteller- und Künstlervolkes, viele, sehr viele davon längst im Besitz dessen, was sie stellvertretend für die herbeigerufene