Helmut H. Schulz

Briefe aus dem Grand Hotel


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oder die zum Zeitpunkt des Großen Redens überhaupt schon vorbei gewesen ist!

      Häufig sehen wir nur den Schweif des Kometen, nicht den Kometen selber, und eine Bewegung der Geschichte wird als Schritt erst verstanden, wenn dieser schon getan ist. Übrigens war die Demonstration polizeilich angemeldet, dann verboten und hinausgeschoben und schließlich doch höchst amtlich genehmigt worden. Sie fand unter dem Schutze jenes Staates statt, den die aufschreiende Menge doch eigentlich mit den Palmwedeln des Friedens bekämpfte, was einen ganz erheblichen Unterschied zu den Montagsdemonstrationen in Leipzig ausmacht, die gegen Polizei und Staatssicherheit über die Bühne gingen und noch gehen. Ihr Korrespondent nimmt an, dass die Veranstalter den Behörden gegenüber bestimmte Zusicherungen gegeben haben, die Ruhe aufrechtzuerhalten. So ist es nicht nur in Diktaturen allgemein der Brauch. Wie auch immer, es bilden sich die ablösenden Formationen sichtlich heraus, die neuen Führungskräfte sind Spielarten der alten, deren Bündnisbindungen und Persönlichkeit bei Ihrem Korrespondenten einige Befürchtungen auslösten. Da der Anschein erweckt werden sollte, oder spontan als ein Bedürfnis der Massen entstand, es handelte sich um eine geschlossene Front der wahren Demokraten, müssen wir es einstweilen so hinnehmen. Ihr Korrespondent wurde jedenfalls das Gefühl nicht los, Zeuge eines gut inszenierten Stückes mit mehreren, einander ablösenden Regisseuren und fabelhafter Besetzung zu sein.

      Auffallend bleibt aber doch die Handlungsunfähigkeit der Machthaber, an der Spitze der greise Regent, der so viel gewinnt, wenn man ihn kennt, und der vor wenigen Wochen keck und verblendet erklärte, die Mauer bleibe noch hundert Jahre. Er dürfte kaum begriffen haben, weshalb den Bach hinuntergeht, was er für sein Lebenswerk hält. Da es nicht unsere Sache ist, an dieser Stelle die Überlebensperspektiven des untergehenden Staates DDR zu diskutieren, mag es bei der Feststellung bleiben, die kommunistischen Führer hätten nicht verstanden, die Macht zur richtigen Zeit zu teilen, sich den neuen Bedingungen anzupassen, um zu überleben. Falls es ihnen gelungen wäre, sich als ein europäischer Kleinstaat zu bewegen, sich aus den Zwängen des Warschauer Paktes zu lösen, ihn eventuell zu modifizieren, anstatt die Zeit mit albernen Hobbys wie Hasenhetze zu vertrödeln, würden sie sich in der Macht erhalten haben, denn im Grunde gab und gibt es zwischen ihnen und der demonstrierenden Menge keine so tiefen Meinungsverschiedenheiten, wie es sich die Politiker vorgaukeln.

      Vergessen Sie diesen Gedankengang Ihres Korrespondenten, eines politischen Dilettanten, mein Freund. Die Situation fordert Spekulation geradezu heraus. Immerhin feierte Honecker noch seinen Scheintriumph zum Jahrestag des sozialistischen Staates am 7. Oktober, es war der Vierzigste, und Ihr Korrespondent könnte sich vorstellen, dass dem Staatschef die Lage zu dieser Frist sehr genau bekannt gewesen ist. Vielleicht nahm er Abschied, in einer ihm gemäßen Form trotziger Selbstbehauptung, der des kleinen Trompeters, eines Phantoms aus der Kampfzeit des jungen Erich und aus herber Enttäuschung, weil ihm keiner seiner zahlreichen Freunde helfend beisprang, da sie ihn doch eben auf roten Teppichen mit allem staatlichen Pomp und militärischen Zeremoniell empfangen und gefeiert hatten. Dem anheimelnden Bild eines "Vaters des Vaterlandes" steht aber doch sein erheblicher Wille zum Machterhalt gegenüber. Ich hänge Ihnen folgenden Bericht gleich an, um Papier zu sparen und die Wälder zu schonen.

      Ihr Korrespondent saß dieser Tage in der "Erlöserkirche", die keine größere Beachtung verdiente, nicht als architektonisches Werk und noch weniger als Kirche, ohne dieses Tagesereignis. Aber das untere, niedere Kirchenpersonal hat in der Volksbewegung eine höchst eigenartige Rolle gespielt, die sich nicht in wenigen Sätzen beschreiben lässt. Sie öffneten beizeiten und sicherlich berechnend, und soweit es die Oberen angeht, manchmal maßvoll, öfter mit der Staatssicherheit rückversichernd kungelnd, ihre Türen den Verfolgten, den Mühseligen und Beladenen, von denen nur wenige jemals etwas von den zehn christlichen Geboten gehört haben dürften, und denen Gott eine Größe auf Zeit bleiben wird. Gleichwohl boten ihnen die Kirchen eine Rückzugsmöglichkeit, einen verhältnismäßig geschützten Raum, und vor allem boten sie den Leuten eine Möglichkeit, kleinere Organisationsstrukturen auszubilden, die sicherheitsdienstlich unterwandert werden konnten, eine tödliche Gefahr, wie tödlich und für wen tödlich, das werden wir höchstwahrscheinlich noch erleben und mit ansehen müssen. Es war ein Geben und ein Nehmen, wie Sie sehen. Um es gleich zu sagen oder zu wiederholen, es handelt sich beileibe um keinen verabscheuenswürdigen Sonderfall der Diktatur, nur fragt es sich, wie solche Überwachungen politisch gedeckt sind.

      Bei der Veranstaltung, von der hier die Rede sein wird, hörten wir Sänger und Schauspieler, Sprecher verschiedener Gruppierungen, die sich ausnahmsweise auf einen Modus einigen konnten: Denn die Bewegung ist heute schon heillos zerrissen und zerstritten, obschon sie bemüht ist, Geschlossenheit vorzuführen. Bedeutung kommt ihr längerfristig kaum noch zu, ich wiederhole es. "Gegen Gewalt" lautete die Parole, und das Auditorium hielt Gerichtstag über die Sicherheitsorgane des Staates. Was zur Sprache kam, ist widerwärtig genug: Hinter Gefängsnistüren spielten sich üble Verhörszenen ab; an kein Gesetz oder Recht gebundene Untersuchungsbeamte verhörten stundenlang unter Gebrüll, mit Einschüchterung und Drohungen, körperlichem Angriff auf die "Zugeführten", Drangsalierungen, entwürdigendem Entkleiden; dies also gab es auch bei dem sich beschleunigenden Zerfall des Staates DDR, der als unumkehrbarer historischer Fortschritt gegolten hat.

      Nachtrag.

      In immer rascherem Tempo lösen sich die alten Machtstrukturen auf. Die sogenannten Blockparteien, die allesamt im Volk keinen guten Ruf genießen, wollen sich nun aus einem einträglichen jahrzehntelangen Bündnis mit der SED, der "führenden Kraft der Arbeiterklasse", entlassen. Daneben entstanden und entstehen noch und neuerdings ungehindert zahlreiche Bürgerrechtsgruppen, politisch schwer zu definieren, notorisch antifaschistisch, nur wenige davon werden Parteireife erreichen, obschon sie über einen gewissen Organisierungsgrad hinaus gelangen könnten. Satzungen, Statuten, Programme fehlen, entweder wegen Zeitmangel oder aus absichtlicher Unterlassung. Es ist eine offene Frage, ob etwa das "Neue Forum" überhaupt Partei sein oder werden will. Möglicherweise haben alle Gruppierungen nur Übergangscharakter und ihre Aufgabe mit der Zerstörung des abgestorbenen Apparates überhaupt erfüllt. Vielfach sind sie nicht einmal bündnisfähig, sondern bloß sektiererisch, lehnen Partei als überlebte Einrichtung ab und betrachten nach den Erfahrungen mit der Einheitspartei jedes Angebot zur Koalition mit Vorbehalt.

      Das alte Regime hat nach Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich und der Verweigerung einer militärischen Intervention der Russen keinen Handlungsspielraum mehr. Die Mauer könnte nicht geöffnet werden, ohne den Untergang der Cliquen zu beschleunigen. Andererseits war die Grenze dessen erreicht, was die Volksmassen noch tolerierten; der ihnen gepriesene Sozialismus war ihnen zum Kerker geworden, die immer schneller wachsenden wirtschaftlichen Probleme sichtlich nicht mehr lösbar. Der Staat stalinistischer Prägung war im Bewusstsein überlebt wie in der Wirklichkeit, nach Marx eine signifikante Untergangslage. Im Grand Hotel, Symbol selbstherrlichen Umganges mit Volksbesitz - hier hat das Wort deshalb Sinn, weil die sozialistische Wirtschaftsethik selbst diesen Begriff unterscheidend zum kapitalistisch-bürgerlichen Eigentum geprägt hat -, geht auch nicht mehr alles seinen gewohnten Gang. Manche Gäste sind geflüchtet, weil sie die Ruhe und Sicherheit vermissten, die hier bisher oberstes Gebot gewesen zu sein scheinen. Neu sind hinzugekommen, unter anderem, Bankenvertreter und Wirtschaftsfunktionäre; unter der Hand auch ein Staatssekretär, ganz anonym. Und selbstredend dürften sich die Agenten aller Geheimdienste herangedrängt haben, diese ganz unauffälligen Leute, die gleichwohl ein Kainsmal tragen, da man sie dermaßen leicht herauskennt. Leben Sie vorerst wohl, sobald es die Mühe lohnt, hören Sie von mir. Ich denke, dass sich in den nächsten Tagen der nächste Akt des Schauspiels ankündigen wird.

      Ihr ***

      11.11.1989

      Mein Herr, seit dem 9.11., abends oder sonstwann, sind die Grenzen zur Bundesrepublik und nach West-Berlin weit offen. Ihr Korrespondent kann dem Menschenstrom nur staunend zusehen, der sich in die Weststadt ergießt. Gestern noch verhasste Zöllner und Grenzpolizisten nehmen verblüfft und besänftigt Blumensträuße entgegen, von der Entwicklung überrollt, und winken die Menschenmassen gleichmütig durch rasch erweiterte Maueröffnungen ins "Freie". Jedermann kann sich beim "Volkspolizeikreisamt" einen Stempel in den Reisepass oder behelfsweise in den Personalausweis drücken lassen; das so gezeichnete