Helmut H. Schulz

Briefe aus dem Grand Hotel


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die europäischen Interessengegensätze doch nicht beseitigt, sondern eher nur vertieft. Selbst wenn den Befehlshabern die Lage im Bündnis bekannt gewesen sein sollte, gibt es ja doch noch so etwas wie eine soldatische Pflicht, und von Ehre war in dieser Volksarmee reichlich viel und maßlos genug die Rede. Und vor diesen Leuten haben wir, Sie und ich, uns dermaßen gefürchtet, dass wir gelegentlich zögerten, um eine Einreise in den Schattenstaat nachzusuchen, aus Furcht vor den entwürdigenden Prozeduren, den Taschenkontrollen, den peinlichen Befragungen?

      Ich will Ihnen neben den Tatsachen meinen eigenen Eindruck vermitteln; Sie werden bei der einhelligen Interpretation der Vorgänge als einen Sieg der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung über das Böse wenig damit anzufangen wissen. Dennoch: Es gibt so etwas wie einen Terror der Anschauung. Zur magischen Sendezeit in den Abendstunden pflegte der neu ernannte Sprecher des sozialistischen Pleitevereins, ein gewisser Schabowski, ein Mensch mit einem Gesicht zwischen gereizter Bulldogge und beleidigter Leberwurst, die neuesten Einfälle seiner Partei und der Regierung, was damals schon vielleicht nicht mehr ganz identisch gewesen ist wie in der Frühzeit der DDR, an die Presse-Mahala zu bringen. Ich glaubte zuerst, mich einfach verhört zu haben, so ungeheuerlich erschien mir, was uns geboten wurde. Erst auf die Frage eines Korrespondenten versicherte dieser Mensch, so stehe es auf seinem Zettel, jeder und ab morgen, Kreispolizeiamt, beziehungsweise unverzüglich, könne er reisen, wohin und wie oft auch immer, und zu jedem beliebigen Zeitpunkt, begleitet von einer resignierenden Geste, als verstünde er die Welt nicht mehr. Die Presse brach sofort und fast geschlossen auf, den Mann als einen dummen August zurücklassend.

      Dem Schabowski war für diesen kurzen Augenblick eine weltgeschichtliche Rolle zugefallen, ohne dass er dies begriffen hatte. Er war der Rausschmeißer im Bums. Ihm war es beschieden, das Ende einer Epochenhoffnung zu verkünden, eine hundertjährige Periode, der wahrscheinlich blutigsten in der eurasischen Geschichte, als einen furchtbaren historischen Irrtum schlichtweg abzusagen. Es war gar kein Sozialismus, was seit dem historischen Jahr 1917, da eine Revolution begann, die nicht in Handschuhen gemacht werden sollte, nach einem Wort Lenins, die ungezählten Millionen Leben und Freiheit kostete? Ja was, um Gottes Willen, war es dann? Ein Witz? Aber die Figur, die berufen war, das Ende der Tragödie anzusagen und die Komödie einzuleiten, war recht gut ausgewählt; sie hätte nicht besser zu dieser Rolle passen können. Die Zucht- und Kerkermeister des Zeitalters schickten den Hanswurst vor den Vorhang. Ich muss Ihnen gestehen, mir war ziemlich flau in diesem Augenblick gegenüber einer kollektiven Albernheit, in deren Endergebnis dem glücklichsten Volk die ungeheuren Folgen, und das heißt in unserem Verständnis: die Kosten eines politischen Desasters, aufgebürdet werden und nicht nur die Kosten in Form von Finanzen. Und deshalb, wegen des Elends dieser Stunde, da sich keiner fand, der einen Schuss auf diesen Kerl abfeuerte zum Zeichen, dass das kein Witz ist, was sich in diesen hundert Jahren abspielte, sondern wahnwitziger, tödlicher Ernst. Deshalb gehört die Welt wieder den Schwätzern und Ihnen, mein Verehrter, bleiben die Kosten für den Sekt erspart, der in Korrespondentenkreisen im Grand Hotel und anderswo in dieser Nacht auf die Zukunft und auf den Sieg vergossen wurde. Man darf von uns Mitmenschen auch nicht allzu viel verlangen, ein paar Nachrichten mussten sich aus dem Mauerfall doch immerhin pressen lassen. Bleiben Sie bei guter Gesundheit, mein Herr Z.,

      Ihr ***

      21.11.1989

      Lieber, verehrter Herr Z.,

      Ihrer Antwort vom *** entnehme ich, dass Sie mit dem Rücktritt des Staatsratsvorsitzenden, den daran anschließenden Irritationen und überstürzten Umbesetzungen in Regierung und Parlament den weltpolitischen Teil des Vorganges DDR für abgeschlossen halten. Und in der Tat dürfte sich der Vorhang alsbald senken und die Szene beenden; die Szene, nicht das ganze Stück. Das Welttheater spielt derzeit ohne Dramaturgie. Ich hätte Sie angerufen, wenn es möglich gewesen wäre, allein im Augenblick scheint alle Welt mit aller Welt telefonieren zu müssen, um den neuesten Stand der Dinge zu melden. Das hiesige, ohnehin nicht gerade leistungsfähige Netz, ist hoffnungslos überlastet, und wir begeben uns sozusagen außer Landes, will sagen, in den Westteil der Stadt, um eine Telefonverbindung nach draußen zu bekommen. Revolutionen sind bis zu einem gewissen Grade Sache der Stimmung. Davon hätte ich Ihnen immerhin einen mündlichen Bericht geben wollen; die Dinge mögen sich von Ihrer Rheinprovinz aus ein bisschen anders ausnehmen.

      Zunächst haben wir hier eine neue Regierung, die freilich bisher wenig mehr als guten Willen zeigen konnte. Sie wurde eifervoll und schnell gebildet. Tag für Tag erreichen uns nun Sondermeldungen über Ab- und Umbesetzungen, über freiwilligen Rücktritt und unfreiwilligen Hinauswurf; die Tragödie wurde abgeblasen, der Hanswurst beherrscht die Bühne, das Komödienspiel, mit bitterem Ernst vorgetragene Sentenzen und unsterbliche Rodomontaden. Die Rebellanten fragen sich wohl, ob das denn alles gewesen sei. Bei Licht betrachtet, fehlt es dieser Regierung genauso an plebiszitärer Basis wie der vergangenen, das heißt, wir werden unter uns besser von einem Staatsstreich sprechen. Noch immer sind die Demonstrationen in den mitteldeutschen Zentren unerbittlich hochpolitisch, die Straßenbewegung hat einige ihrer Ziele durchgesetzt, die wesentlichen Nebenziele, da sie im Grunde genommen nicht wusste, was sie wollte. Der Höhepunkt, der Augenblick, da alles auf der Kippe stand, Kopf oder Zahl ist überschritten, es sei denn, die Volksmenge findet ihre politischen Hauptziele noch und versteht sie auch zu definieren. Die Französische Revolution, die das klassische Muster aller nachfolgenden lieferte, erfand in ihrem Fortgang die Volksgesellschaften. Das hatte seine Logik; allein wie es hier weitergeht, ist sehr fraglich. Was ich Ihnen neulich schon erklärt habe, das gilt noch heute; die neuen Gruppierungen sind bisher keinen Schritt weiter, was sie selber betrifft, und die neu gegründeten Parteien sind nichts Neues, sondern nur Abklatsch der ältesten Vorbilder, christlich-demokratisch oder sozialdemokratisch, dazwischen wuchern die buntscheckigen Sekten.

      Dies gilt für die hiesige, neu formierte Sozialdemokratische Partei, die kein Programm und keine Satzung erfinden musste, sondern sich auf die wechselnden Vorstellungen vom Sozialstaat, mittlerweile sozialdemokratische Tradition, zurückziehen konnte. Dem Vernehmen nach wurde sie in allerletzter Stunde von einem kleinen Häuflein Sozis in einem Ort am Rande Berlins, also in der Provinz, gebildet, und ihr Führungspersonal scheint auch danach. Ihr Korrespondent kann es sich nur schwer vorstellen, dass ausgerechnet bei diesem Akt der Gründung einer neuen Sozialdemokratischen Partei die Staatssicherheit durch Abwesenheit geglänzt haben soll. Dass sie womöglich die Hand im Spiele hatte und sich sowohl selbstmörderisch, als auch vorausschauend, als Mitbegründer betätigt haben könnte, ist nicht auszuschließen und keineswegs so abenteuerlich, wie es sich hier liest. Bei den Christdemokraten liegt der Fall kaum anders, da die DDR selber schon eine solche christlich-bürgerliche Auffangpartei aus den Tagen des Überganges 1945 bis 1949 ins Leben gerufen hatte.

      Alle aber fordern jetzt Neuwahlen, wie es nur natürlich scheint; denn das wichtigste gemeinsame Nahziel dürfte die Errichtung einer durch Wahlen legitimierten Kammer sein, ein Parlament. Es wäre schon viel, wenn man sich auf einen nahen Termin einigen könnte, obschon ein solcher die noch gut intakten Parteien der Blockzeit in der Vorhand sähe; denn von einem Umsturz oder gar einer Revolution sieht Ihr Korrespondent heute bereits weithin kaum noch einen Ansatz.

      Der Rubikon aller Ängste und Sorgen war mit dem Zusammenbruch des Warschauer Bündnisses überschritten. Hat jetzt die Konsolidierung der kommunistischen Reformkräfte, die sehr spät zur Volksbewegung stießen, sich nur träge bewegten, aber einen Beitrag zu den Veränderungen geleistet haben, wie man einräumen muss, begonnen? Und wie könnte im staatlichen und politischen Raum aussehen, was nach der Reform entsteht, sollte sie kommen, was keineswegs vorhersehbar ist? Vermutlich würde sich wenig ändern bei einer nachfolgenden pro-sozialistischen Regierung, bei verewigter deutscher Teilung und der Treue oder Wiederbelebung des alten Bündnisses. Die wirtschaftliche Agonie wäre vielleicht um einige Jahre verzögert, an dem Zusammenbruch ist indessen nicht zu zweifeln, weil die Ansätze zur Erneuerung zu schwach wären. Wir hätten es mit einer abgemilderten DDR zu tun, weniger waldursprünglich, in einer Mittlerrolle zwischen Ost und West günstigenfalls, einem Staat, der den Anschluss an den Westen sucht, ohne die Bindung zur UdSSR ganz aufzugeben. Dies gilt solange, wie sich die Union als Führungs- und Großmacht in Europa behaupten kann; wirtschaftlich bleibt eine wie auch immer geprägte DDR vollkommen abhängig, und sie wird ganz einfach