Helmut H. Schulz

Dame in Weiß


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Deine Großmutter? Nein. Ihr Leichnam löst sich allmählich auf; dann bleiben noch Knochen übrig, bis auch die Knochen zerfallen.«

      »Aber warum heißt es dann, verleihe ihr eine fröhliche Auferstehung am Jüngsten Tag? Was ist das, der Jüngste Tag?«

      Sie legte den Pinsel weg und suchte nach einer Zigarette. »Im Kittel an der Tür«, ich holte die Schachtel. Sie nahm eine, ließ sich Feuer geben, rauchte ein paar Züge und setzte sich. Der Hund bewegte den Kopf hin und her, suchte bald den Blick des einen, bald den des anderen,

      »Ja«, sagte sie, »warum? Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen. Groß Macht und viel List, auf Erd' ist nicht seins Gleichen.« Sie redete mit sich, ich hörte ihr zu, an ihre Art gewöhnt, meine Fragen selten direkt zu beantworten. »Du willst mir doch nicht einreden, euer Religionslehrer hätte euch nicht erzählt, wie das Paradies beschaffen ist.«

      »Aber du glaubst doch nicht daran«, beharrte ich.

      »Nein, ich glaube nicht daran. Trotzdem habe ich einen Halt nicht in diesem Glauben, aber in dieser Kirche, sofern es sich nicht um die Kirche handelt, in welcher in Reitstiefeln und Uniform die braune, Vorsehung gepriesen wird.«

      Obwohl ich nicht die Spur von dem Gesagten begriff, stimmte ich ihr mit Freuden zu. Sie konnte nicht irren; in dem Blick ihrer strahlend schönen Augen lag eine Ausstrahlung, der ich erliegen wollte.

      »Kleiner Mann, es ist ein weiter Weg bis zu meinem Verständnis dieser Sachen. Ich kann dir leider nur wenig helfen. Es gibt kein Zeichen dafür, dass sie nicht im Paradies leben könnte, als Seele oder als Schatten, aber es gibt eben auch kein Zeichen für das Gegenteil. Das ist das Dilemma jeden Glaubens. Wir sind Christen aus Tradition; ob und was wir glauben, ist beinahe schon unwichtig geworden. - An deiner Stelle würde ich es vorerst beim Glauben belassen.«

      Hätte sie gewusst, wie sehr ich sie verehrte, so würde sie meine Zustimmung weniger hoch bewertet haben.

      »Gut, aber ich frage dich noch mal.«

      Sie nickte. »Gut, ja, in zehn Jahren.«

      »Was ist mit Onkel Heinz?«

      »Meinem Schwager? Da ist es keine Frage des Glaubens, es ist eine Frage der Zuneigung; der Liebe.« Sie senkte den Kopf, weil ich ihre Augen nicht sehen sollte, was mich wunderte. Offenheit war zwischen uns die Regel. »Jetzt ist Schluss mit Fragen.«

      Aus ihren Antworten suchte ich mir ein Bild von ihren Gedanken zu machen. Ich wollte ihr in allem zustimmen, wollte auf ihrer Seite sein.

      »Warum ist er so, ich weiß nicht wie. Du magst ihn doch auch nicht?«

      Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ich verstehe ihn nicht, noch weniger begreife ich meine Schwester. Für mich ist Kinderlosigkeit keine Tragödie.«

      Jetzt schmerzte mich der Gedanke, sie würde Kinder nicht lieben. Sie las meine Gedanken und kniff ein Auge zu. »Ich habe ja dich. Das muss vorerst reichen.« Aber sie log, ich merkte, sie spielte mir etwas vor. Warum?

      Ich brüstete mich mit meiner Größe, meinem Alter, deutete mein Wachstum an, und vielleicht war auch unsere Beziehung, für uns beide undurchschaubar, erotisch gefärbt. Jedenfalls hatte ich einen Blick für ihre Gestalt, für ihre Bewegungen. Ich wagte nicht, meine Tante zu berühren, und sehnte mich zugleich nach dieser Berührung. Sie liebte mich sehr, aber sie zog eine Grenze, die ich nicht überschreiten durfte. Da sie mich meistens wie einen Gleichgestellten behandelte, verlangte sie auch die Leistungen eines Erwachsenen von mir, soweit diese im Bereich von Gefühlen lagen. Keine übertriebenen Liebesbezeigungen also.

      Für mich zusammenhanglos, erklärte sie plötzlich: »Du wirst mal ein Mann, und du wirst ebenso selbstgefällig und eitel werden, wie alle Männer sind. Wenn du ein bisschen Kraft aufbringst, wenn du ein wenig Gefühl erwerben kannst, um unter die Oberfläche zu kommen, dann wirst du vielleicht später ganz erträglich sein.« Gegen ihre sonstige Gewohnheit zog sie meinen Kopf an ihre Brust. »Und sie machen aus euch lauter kleine Mamelucken, ohne dass ihr es merkt und wollt. Ihr stimmt sogar zu, ihr fühlt euch gut. Das sind Dinge, die ihr erst später austragen werdet, vielleicht euer ganzes Leben lang. Dieses Gefühl eurer überlegenen weißen Hautfarbe, eurer europäischen Zivilisation werdet ihr nie ganz abstreifen; euer Verstand wird sich einmal gegen das richten, was man euch heute zwingt aufzunehmen. Trauer hast du gestern kaum empfunden, du musstest dich überwinden, du hast dich gesehen, und hast dich weggewünscht. Stimmt es?«

      Sie ließ mich los.

      »Mach uns einen Tee«, sie drückte die Zigarette aus, »um fünf kommt« sie nannte den Vornamen des Mannes, mit dem sie gerade zusammenlebte. »Deine Eifersucht ist lächerlich, kleiner Mann. Er vertreibt dich nicht. Bleib ruhig hier.«

      Ich versuchte Verena davon zu überzeugen, dass es nicht auf Worte ankomme, aber sie interessierte sich für eine Nebensache: »Es sieht ihr ähnlich. Ich wiederhole, Barbara schlug ganz aus der Art, und sie zog Menschen an wie ein Magnet.«

      Das stimmte, ich pflichtete Verena bei.

      »Ich muss dich wohl aus deinem Himmel herunterholen, indem du immer noch zu leben scheinst, soweit es meine Schwester Barbara angeht. Mein Vater unterstützte sie nicht mehr, als es herauskam, dass sie mit ihrem Schwager, diesem Heinz, ein Verhältnis hatte.«

      Ich erschrak, wehrte ab, aber meine Mutter übersah meine Hand, oder sie wollte sie nicht sehen.

      »Nicht die Männer, die du kennst, hatten Bedeutung in ihrem Leben, möglicherweise auch die, aber ein längeres Verhältnis hatte sie mit Heinz, natürlich musste sie es vor dir verheimlichen, musste dich belügen. Und da hast du einen Zug an Barbara, der dir nicht gefallen wird; sie war nicht so unerschrocken in Bezug auf die öffentliche Meinung, wie du glaubst. Sie beugte sich unter das Joch, das wir alle tragen. Sie hat auch Kinder gewollt und einen Mann, sie besaß sogar einen tragischen, der Familie sonst fremden Zug. Ich habe ihr zweimal bei einem Abort geholfen, einmal wäre sie beinahe verblutet. Es war furchtbar.«

      »Schluss, Verena Stadel, es reicht.«

      Meine Mutter reckte sich siegesgewiss auf.

      »Du bist doch versessen auf Wahrheit, du möchtest sie doch aus mir herausholen, ehe ich sterbe? Wahrheit, die dir nicht bekommt, weil du immer noch in Traumwelten lebst, weil du dich immer noch für was Besonderes hältst.«

      Ich zuckte die Schultern.

      »Eins freilich stimmt«, sagte meine Mutter, »mit dem Tod meiner Schwiegermutter begann alles, alles.«

      »Mama, warum hat der alte Stadel Barbara geliebt? Warum ließ er sie nicht von seiner Seite, damals bei der Beerdigung?«

      Sie hob bedauernd die Schultern. »Kann ich keine Auskunft geben.« Sie nickte sich zu. »Was übrigens die Erotik betrifft, so kannst du recht haben, Barbara besaß eine solche Ausstrahlung, und du warst genau das Kind, das solche frühen Signale empfangen konnte ...«

       Kapitel 4

      Goll verschmähte es, einen Stock zu benutzen, mit einer für ihn typischen Bewegung zog er den Fuß über den Teppich, es sah aus, als verhalte er den Schritt.

      »Hör zu, Weißer Adler ...«

      Goll schüttelte ablehnend den Kopf, eine dunkle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn. Ohne Vorbereitung gab er unserer Fantasie eine neue Richtung: »Die Goten eroberten das Römische Reich.« Wir hatten nicht die mindeste Ahnung, worum es sich handelte: »Alarich - als ihr König Alarich gefallen war, staute ein anderer König den Fluss ab, ich weiß seinen Namen, aber der Name spielt keine Rolle.« Goll schlug mit der Hand auf ein dickes Buch. »Also, sie stauten den Fluss, gruben in sein nun trockenes Bett ein Grab und legten ihren König Alarich hinein. Dann ließen sie den Fluss ... «, er unterbrach sich begeistert, um zu zitieren: »mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen.«

      »Warte mal«, Schott grinste, »du hast dieses dicke Buch doch nicht etwa ganz gelesen?«

      Goll nickte gleichmütig,