Helmut H. Schulz

Dame in Weiß


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mag sie aber nicht.«

      »Ich kann meine Schwester Barbara auch nicht ausstehen, aber du kannst doch trotzdem ...«

      Ich lief aus dem Zimmer und ging in meine Hinterstube, durch die Türen hörte ich, wie sie weiter stritten.

      Seit dem Tod meiner Großmutter veränderte sich der alte Stadel. Die Trauer über den Verlust klang bald ab. Er ließ sich einen Bart wachsen, der Kinn und Wangen bedeckte, schwarz wie Pech aussah und ihn jünger machte, aber seinem Gesicht auch das Gutmütige, Opahafte nahm. Er aß oft bei uns, stocherte mit der Gabel in Fleisch und Kartoffeln, schob den Teller beiseite und verlangte Kaffee.

      »Vater«, sagte meine Mutter mit zurückgehaltenem Ärger, »woher sollen wir Kaffee nehmen. Wir sind im Krieg. Ich habe keinen.«

      Er schlug auf den Tisch, dass die Gläser leise einen hellen Klang gaben; seine Stirnadern schwollen. »Wir sind im Krieg, wenn ich das schon höre. Ihr werdet euch wundern, das ist erst der Anfang, ihr werdet noch in Schmalz gebackene Nägel fressen ... « Und er grölte eine Unflätigkeit.

      »Nimm bitte auf die Kinder Rücksicht.« Die blauen Augen der Arzts strahlten zornig. Sie presste ihre Lippen fest zusammen und begann ihre Hände zu kneten.

      Ihre Wut beruhigte den Alten; sie passten im Grunde beide gut zusammen.

      »Entschuldige, ich habe ein Pfund Kaffee mitgebracht, hab es vergessen - energische Frauen haben was Verführerisches.«

      Er legte seine Hand auf ihre, sie zog die Hand weg, aber sie lächelte ihn versöhnt an, nachdem er ihre Eitelkeit herausgefordert hatte.

      Plötzlich sagte mein Vater: »Wenn dir unser Tisch nicht passt, Vater, dann such dir einen besseren.« Er erhob sich und ging hinaus.

      »Was ist denn mit dem los? Hab ich denn was gesagt?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, irgendwas ist mit ihm los, ich möchte wissen, was dahintersteckt.«

      »Soll er eingezogen werden?«

      »Bis jetzt haben sie ihn reklamiert, wenn der Krieg weitergeht ...«

      »Ganz recht«, sagte mein Großvater, »wenn der' Krieg weitergeht - er geht weiter, Verena. Mich macht der Gedanke krank, dass ich jetzt, wo es mir gut geht ... «, ihm fiel seine Frau ein. »Vielleicht hat sie das bessere Los gezogen. Wer weiß, was noch alles kommt.«

      Ich versuchte ihn über Amerika auszuhorchen.

      »Indianer? Wie kommst du denn darauf? Es gibt in Amerika keine Indianer, ich bin ja nur in den Häfen gewesen. Da gibt's Schnapshändler, Nutten, Schlepper, einmal war ich schiffbrüchig, bin mit dreißig Flaschen Kognak abgesoffen, das heißt, mich haben sie ja aufgefischt, aber der Kognak war futsch. Indianer hab ich keine gesehen.«

      Hier stießen die Welten einmal mehr zusammen, und die des alten Stadel war unheimlich konkret.

      Mein Vater kam wieder herein und beteiligte sich ruhig, als wäre nichts vorgefallen, an dem weiteren Gespräch. Quengelig sagte der Alte: »Ich glaube, ich sollte es euch sagen, ich halte es allein nicht mehr aus, ich heirate wieder.«

      Meine Mutter schnappte ein. »Das ist ja deine Sache, Vater. Immerhin, das Trauerjahr hättest du schon noch abwarten können.«

      Mein Vater nickte jedoch zustimmend. »Wie alt bist du jetzt?«

      »Weißt du nicht, wie alt dein Vater ist? Sollte mich nicht wundern, du vergisst ja auch unseren Hochzeitstag, kaum dass du dich der Geburtstage entsinnst.« Sie gab sich kühl, aber ich sah, dass sie innerlich bebte. Dass mein Großvater heiratete, bedeutete den Schlussstrich unter die Existenz meiner Großmutter.

      »Dein Vater ist zweiundsechzig«, schloss meine Mutter.

      »Danke für die Auskunft.«

      »Na also«, der alte Herr stand auf, »mach uns Kaffee, Rena, und dann könnt ihr euch demnächst allein euren Sonntag versauen und euch anöden. Ohne mich.«

      Er ging mit meiner Mutter hinaus, mein Vater blieb sitzen, langte nach der Zeitung und begann zu lesen. Ich machte, dass, ich wegkam.

      Die Erinnerung an meinen Bruder Felix glich einer Wunde, die sich nicht schließen konnte. Wir standen an seinem Grab, meine Mutter Verena, meine Schwester Veronika und ich. Obgleich die Augustsonne das Grab meines Bruders mit Lichtbündeln überschüttete, obgleich meine Mutter sich einem ungehemmten Redefluss überließ und meine Schwester mir die Hand auf die Schulter legte, weil sie mich beruhigen wollte, versagte meine Kraft gegenüber dem Schatten.

      Felix Ernst Stadel, geboren 1937, gestorben 1944 ...

      »Kurz vor seinem siebenten Geburtstag«, sagte meine Mutter. »Felix war ein schönes Kind, schöner als ihr«, sie streifte uns mit einem Blick aus ihren scharfen blauen Augen und fuhr fort: »Er war sanftmütiger als ihr. Er war der Sonnenschein für uns alle. Was schlimm war, verlor seinen Schrecken - ein Engel.«

      »Um Gottes willen, Mutter, hör auf«, zischte meine Schwester. Sie führte mich beiseite, wo ein Kranz lag, den sie mitgebracht hatte. Wir lösten die Schleife: Zum Gedenken an unseren Bruder Felix, Hans-Dieter und Veronika und hoben den Kranz auf. Ich sah, wie meine Mutter mit einer Harke den Hügel säuberte. Dann ging meine Schwester den schattigen Friedhofsweg entlang, um Wasser zu holen. Meine Mutter nutzte Veronikas Abwesenheit, um zu kritisieren. »Findet ihr es nicht doch etwas übertrieben, heute, nach so vielen Jahren einen solchen Aufwand um Felix zu machen?«

      Eine leichte Unsicherheit in ihrer Stimme war unverkennbar. »Veronika wird mir auch von Jahr zu Jahr fremder.«

      Mir rückte sie mit den Jahren näher, obschon ein großer Unterschied an Jahren zwischen uns war; und daran änderte auch die Entfernung nichts. Sie lebte in München. Wir sahen uns kaum einmal im Jahr.

      Meine Schwester brachte die gefüllte Kanne, wir traten zusammen an das Grab meines Bruders, und ich fühlte ein Stechen in den Schläfen.

      »Ist dir schlecht? Du 'siehst blass aus.«

      Ich gab keine Antwort, wir legten den Kranz auf das Grab, Veronika goss Wasser in die trichterartigen Vasen, und ich steckte meinen und Verenas Strauß hinein.

      »Was hat denn eigentlich dein Kranz gekostet, Roka?«

      Gleichmütig nannte meine Schwester einen hohen Preis, und meine Mutter schnappte nach Luft. »Ich weiß wirklich nicht, ob das nötig gewesen ist. Na, ihr müsst es ja haben.«

      Ich schätzte an Veronika die Ruhe, mit der sie das Gerede ertrug.

      Wir griffen nach Kanne und Hacke, die der Friedhofsverwaltung gehörten, und begaben uns langsam zum Ausgang. Meine Schwester schob ihren Arm unter den unserer Mutter. Wir gingen sehr langsam. Meine Mutter blieb von Zeit zu Zeit stehen, dann blieb auch Veronika stehen. Ich dachte an den Tag, an dem sie geboren wurde ...

      Meine Mutter stand im Morgenrock am Fenster. Sie bewegte sich schwerfällig, manchmal stöhnte sie leise. In der Nacht waren Bomben gefallen, wir hatten den Angriff im Luftschutzkeller unseres Hauses ganz gut überstanden. Im trüben Licht einer Notbeleuchtung schleppte sich meine Mutter nach der Entwarnung, die Hand am Geländer, die Treppen des verdunkelten Hauses hinauf. Ich war ihr mit einem kleinen Koffer gefolgt, geängstigt, nicht durch den. Nachtangriff, sondern bei dem Gedanken, meiner Mutter könnte infolge der Schwangerschaft etwas zustoßen. Mein Vater war nicht da, aber es kam hin und wieder ein junger Mann, Georg, er blieb auch über Nacht. Er sah gut aus, ein Ehrendolch baumelte am Gelenk über dem Waffenrock des Fliegeroffiziers.

      Ich selber stand auf dem Sprung. Mit meinen zwölf Jahren hatte ich eine weite Reise vor, war ich weg, würde sich niemand mehr um meine Mutter kümmern.

      »Hör zu, mein Junge, du musst jetzt ein Mann sein.« Wie mich das damals schon ankotzte, dieser Männlichkeitswahn Verenas, meiner Familie, aber es stimmte, ich hatte tatsächlich die Last, ein Mann zu sein, übernehmen müssen. »Ehe du was anderes machst, gehst du zur Hebamme und sagst ihr, es ist soweit. Dann gibst du dieses Telegramm an Papa auf. Vielleicht geben