Daniel Lehmann

Corona


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      „Du, das haben wir gerade letzte Woche in Wirtschaft und Berufsorientierung gemacht.“

      „Herr Lehmann, meine Mutter hat mir heute früh geschrieben, dass das Elsass jetzt auch Risikogebiet geworden ist. Müsste ich nicht jetzt eigentlich nach Hause?“

      „Das fällt Dir ja früh ein. Wann warst Du wo genau?“

      „Am Dienstag in den Faschingsferien waren wir in Straßburg.“

      „Puh, dann ist die 14tägige Phase, in der Du nicht hättest in die Schule gehen dürfen, eh schon vorbei. Wahrscheinlich hast Du uns eh schon alle angesteckt…“

      Gelächter.

      „Herr Lehmann, wann geht es endlich los?“

      „Sobald unser Führer da ist.“

      „Ich glaube, da kommt unser Führer, Herr Lehmann.“

      Da kommt er schnellen Schrittes. Julius. Immer noch so dünn. An seinem Pokerface könnte er arbeiten. Jetzt, da er mich gesehen hat, sind ihm kurz alle Gesichtszüge entglitten. So, jetzt hat er sich wieder gefangen.

      „Was für ein Zufall, Daniel.“

      „Nein kein Zufall, Julius, hab extra nach Dr. von Witzleben gefragt.“

      „Wenn überhaupt nur Dr. Witzleben bitte. Du weißt, wie ich das von im Namen hasse.“

      Ja, das von. Das ging ihm schon immer gegen den Strich. Jetzt lächelt er wenigstens mal. Er hat immer noch das verschmitzte Lächeln, die funkelnden Augen und die putzigen Grübchen.

      „Steht da hinten Deine Klasse?“

      „Ja.“

      „Die sehen nett aus.“

      „Die sind auch sehr nett. Und haben sich die Woche ganz toll benommen. Mit dem Programm mussten wir ja etwas improvisieren. In den Bundesrat konnten wir noch, aber nicht mehr in den Bundestag. Geschlossen wegen Corona.“

      „Ja, verrückte Zeiten.“

      „Oh ja, bis letzten Sonntag war auch unklar, ob wir überhaupt fahren.“

      „Wann fahrt ihr zurück? Samstag?“

      „Ne, morgen schon. Heute ist noch große Abschiedsparty in so nem Club, der bis 11 nur für uns offen hat.“

      „Wo?“

      „Im Maxiim“

      „Maxiim? Kenne ich nicht.“

      „Kreuzberg, gleich um die Ecke haben wir gewohnt.“

      Das ist Julius nun sichtlich unangenehm.

      „Ah schön. Wollen wir?“

      Die Führung neigt sich dem Ende zu. Wir stehen in einer Gefängniszelle im neueren Teil des Stasi-Knasts.

      „So, habt ihr noch Fragen?“

      Kevin meldet sich.

      „Nein, eigentlich keine Frage. Aber die Zellen hier im neuen Bereich sehen eigentlich gar nicht so schlimm aus. Sieht jedenfalls besser aus als in einem amerikanischen Gefängnis.“

      Die Schüler tuscheln. Gelächter.

      „Woher weißt Du denn, wie es in einem amerikanischen Gefängnis aussieht?“

      „Na, von Netflix.“

      Lachen. Was Julius wohl antwortet?

      „Ja, Du hast Recht, die Zellen sehen eigentlich ganz anständig aus. Die Schikane, was manche Häftlinge auch als Folter bezeichneten, war nicht die Ausstattung. Sondern die Behandlung. Nachts musste man immer in einer ganz bestimmten Position liegen, die Hände auf dem Bauch gefaltet und man musste den Kopf zur Tür gedreht lassen, damit die Wärter einen stets durch den Spion sehen konnten.“

      „Wie konnten die einen denn nachts sehen?“

      „Das Licht musste die ganze Nacht an sein. Wenn man sich im Schlaf wegdrehte, dann wurde man durch eine laute Klingel geweckt. Und man bekam meistens viel zu große Kleidung, das waren so Trainingsanzüge, bei denen man dann oft die Hose festhalten musste. Einen Gürtel gab es natürlich nicht.“

      „Häh, warum gab es keinen Gürtel?“

      „Oh, Du bist so doof, damit man sich nicht aufhängen kann.“

      „Sehr richtig, nicht Wenige haben versucht, sich das Leben zu nehmen.“

      „Sie haben gesagt, dass hier viele ehemalige Häftlinge arbeiten oder die Mitarbeiter meist einen persönlichen Bezug zum Gefängnis haben. Haben Sie auch einen?“

      „Ja.“

      „Darf man fragen welchen?“

      „Klar dürft Ihr, mein Großvater, meine Großmutter und mein Vater waren hier.“

      „Krass, zur gleichen Zeit?“

      „Mein Großvater und meine Großmutter ja. In den 70er Jahren. Und mein Vater nur ein paar Wochen, gegen Ende der DDR.“

      „Und warum?“

      „Warum meine Großeltern hier waren, weiß ich nur zum Teil. Mein Großvater hat in den 50er Jahren mal für die französischen Besatzungskräfte spioniert. Aber das haben viele in Berlin. Einige Namen in den Akten meiner Großeltern sind noch geschwärzt. Sie wurden damals beim Transitfahren verhaftet, so nannte man das, wenn man von West-Berlin nach Westdeutschland fuhr. Jemand hatte der Stasi einen Tipp gegeben, dass mein Großvater gegen die DDR spioniert hatte und dass er an diesem Tag Transit fahren würde. Der Name ist wie gesagt noch heute geschwärzt. Mein Großvater hat auch Fluchthilfe geleistet, aber davon wusste die Stasi entweder nichts, oder jemand bei der Stasi war eingeweiht.“

      „Wie hat er Fluchthilfe geleistet?“

      „Mit einem Segelboot, über die Ostsee. Es ist merkwürdig, dass er nie erwischt wurde.“

      „Vielleicht hatten sie einfach Glück?“

      „Nein, ich habe rausgefunden, dass immer, wenn mein Großvater von Bornholm nach Rügen gesegelt ist, die Boote der DDR zusammen mit den Sowjets eine Übung in einem anderen Teil der Ostsee gemacht haben. Das war kein Zufall. Jemand hat die Infos an meinen Großvater gegeben.“

      „Wie lange waren Ihre Großeltern im Gefängnis?“

      „Mein Großvater hat lebenslänglich bekommen und wurde nach vier Jahren freigekauft. Wahrscheinlich ging es der DDR beim Strafmaß mehr um Devisen, also um Westmark.“

      „Was hat denn das Strafmaß mit Geld zu tun gehabt?“

      „Na, je höher die Strafe in der DDR war, desto mehr Geld hat der Westen bezahlt, um die Häftlinge freizubekommen.“

      „Krass.“

      „Und Dein, Entschuldigung, Ihr Vater?“

      „Ist schon ok. Ihr könnt auch gerne Du und Julius sagen. Mein Vater hat das Fluchtbusiness sozusagen von meinem Großvater übernommen. Mein Vater und meine Mutter wurden, als sie einem Ärztepaar aus der DDR Fluchthilfe gaben, fast erwischt.“

      „Aber, wenn sie nur fast erwischt wurden, warum war Dein Vater dann im Gefängnis?“

      „Er wurde später, wie schon zuvor mein Großvater, beim Transitfahren verhaftet.“

      „Und was ist bei dieser Flucht passiert, wo Deine Eltern fast erwischt wurden?“

      „Also, die Schnellboote des Grenzschutzes waren zu einer Übung in einem anderen Teil der Ostsee. Zusammen mit sowjetischen Booten. Jemand muss aber von den Fluchtplänen Wind bekommen haben und hatte sie gemeldet. Es war nur ein kleineres Motorboot im Hafen von Saßnitz, das die Verfolgung aufnehmen konnte. Da war die Arkona, so hieß das Segelschiff meines Großvaters, aber schon in Internationalem Gewässer. Das Boot, das sich dem Segelschiff meiner Eltern näherte, gab einen Warnschuss ab, mein Vater verriss das Ruder