J. H. Vogel

Kains Geständnis


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rötlichen Haaren passen. Überlang und lockig sind sie, wenn ich sie nicht glatt ziehe oder zu einem dicken Zopf flechte.

      Im Mittelalter wäre ich bestimmt als Hexe verbrannt worden.

      Hexe , so nennt mich meine Mutter immer liebevoll. Bei dem Gedanken an meine Mutter zieht sich mein Herz krampfhaft zusammen. Vor etwa zwei Wochen saßen wir beide weinend in ihrer Wohnung. Die Diagnose lautet erneut Brustkrebs. Die Chancen stehen nicht schlecht für eine Genesung, sagen die Ärzte, trotzdem mache ich mir wahnsinnige Sorgen um sie. Die Chemo hat letzte Woche angefangen und wird im Wechsel mit Strahlentherapie ambulant gegeben.

      Bisher geht es ihr ganz gut damit und dank der hoffnungsvollen Prognose, macht sie sich momentan die meisten Sorgen um ihre schönen, ebenfalls roten Haare. Die gehen ihr aufgrund der Chemo massenhaft aus.

      Ich bin letzte Woche voller Angst zur Krebsvorsorge gegangen. Das hatte ich schon länger vor mir hergeschoben. Bei meinen besten Stücken, naja … Stückchen, ist aber Gott sei Dank alles im grünen Bereich. In Zukunft werde ich regelmäßig zum Frauenarzt gehen, sicher ist sicher. Auch wenn sich die Notwendigkeit der Pille für mich wieder einmal erledigt hat.

      Da ich meine Mutter nicht noch zusätzlich mit meinen Liebesproblemen belasten möchte, sehe ich heute von einem Besuch ab. Ich habe bereits gestern für sie eingekauft und die Wäsche gemacht. Sie meint zwar, sie schafft das alleine, aber ich habe das Gefühl, ich sollte ihr hier und da ein wenig helfen. – Nein, ich sollte ihr helfen, wo ich kann. Sie hat sonst niemanden.

      Mein Vater ist bereits vor fünfzehn Jahren gestorben. Ich war damals neun Jahre alt und kann mich kaum an ihn erinnern. Die wenigen Fotos, die es von uns gemeinsam gibt, sind für mich fremde Welten, auf denen mein Kindergesicht zu sehen ist. Er war Rechtsanwalt. Bestimmt studiere ich deswegen Jura, würde ein Therapeut vermuten.

      Von dem geerbten Geld – mein Vater war aus einer vermögenden Familie – haben meine Mutter und ich bisher gelebt, auch meine Studentenbude wird davon bezahlt. Vom Staat bekomme ich noch Halbwaisenrente, also komme ich ganz gut zurecht.

      Große Sprünge sind damit natürlich nicht drin. Ich habe kein Auto und fahre nur mit dem Zelt in den Urlaub. Teure Klamotten kann ich nur in Geschäften und an Carina bewundern – ihr Vater hat eine Baufirma, die gut im Münchner Geschäft ist.

      Außer meiner Mutter habe ich an Verwandtschaft nur Tante Martha, die Schwester meiner Mutter. Aber die wohnt am anderen Ende der Stadt und ist mit meiner Mutter zerstritten. Erbstreitigkeiten. Meine Tante hat meine Mutter bei dem Verkauf unseres Hauses übervorteilt. Ob aus Absicht oder aus Dummheit konnte nie geklärt werden. Tante Martha ist Immobilienmaklerin und hat das Haus zwei Jahre später für eine beträchtlich höhere Summe verkauft als sie vorher ermittelt hatte.

      Ich schicke Tom eine SMS, in der ich ihm auch alles Gute wünsche. Tatsächlich wünsche ich ihm insgeheim alles Schlechte. Ein Unfall mit dem Wagen seines Vaters wäre die perfekte Erfüllung meiner gedanklichen Rache. Danach muss ich mich dringend ablenken, also rufe ich Anna auf ihrem Handy an, um zu fragen, wo ich die Mädels im Park finden kann.

      Meine Freundinnen treffe ich auf der großen Wiese im Englischen Garten. Wir essen Erdbeeren, die Luise mitgebracht hat, lästern über Tom und sonnen uns.

      »Also, ich würde mich an dem Typen rächen wollen«, erklärt Luise und angelt sich eine besonders dicken Erdbeere aus der Schüssel.

      »Schlitz ihm doch die Reifen von seinem Porsche auf«, schlägt Carina vor. Sie ist praktisch veranlagt.

      Anna, gewohnt sachlich denkend, ist dagegen: »Die Karre gehört doch seinem Vater. Damit trifft sie ihn doch gar nicht.«

      Ich habe Tom weit Schlimmeres gewünscht, verteidige ihn aber jetzt dennoch: »Ach, der Tom ist eigentlich arm dran. Sein Vater versorgt ihn zwar mit Geld, aber er interessiert sich nicht für seinen Sprössling. Kein Wunder, dass Tom so ein gefühlsarmer Mann geworden ist.«

      »Du bist einfach zu gut für diese Welt.« Carina hat ihre eigene, besonders harte Meinung über Männer. »Du musst Männer schlecht behandeln. Dann lieben sie dich!« Carina beherrscht das in Perfektion, sie könnte jeden haben. Sie ist klein und zierlich, die Jungs wollen sie sofort beschützen. Dann wickelt sie sie um den Finger. Liebeskummer ist für sie ein Fremdwort.

      »Und du musst dich besser um dich kümmern. So äußerlich«, ergänzt Luise und macht eine umfassende Handbewegung in meine Richtung. Sie selbst wiegt ein bisschen mehr, als ihr gut steht, finde ich. Trotzdem hat sie nicht so große Probleme mit Männern wie ich.

      Zugegeben, Luise ist immer top gepflegt. Sie geht nie ungeschminkt aus dem Haus, hat immer gewaschene, geföhnte Haare und lackierte Nägel. Ihr Liebesleben nimmt sie locker. Sie genießt ihre Freiheit und ihre Affären. Ich arbeite zurzeit zweimal in der Woche nachmittags ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen an einem Gartenprojekt, da wären lackierte Nägel eher hinderlich.

      Als ich das erwähne, schütteln alle drei den Kopf: »Zu gut! Sie ist viel zu gut für diese Welt, unsere Kim!«

      Sie tanzen wie die Indianer lachend und singend um mich herum. Das ist mir ein wenig peinlich, die umsitzenden Leute beobachten uns interessiert und amüsieren sich augenscheinlich. Aber meine Freundinnen lassen sich davon und meiner schlechten Laune nicht stören. Ich bewerfe sie jetzt mit abgerupften Gänseblümchen. Gras und Blumen werden zurückgeworfen, die drei singen ungerührt weiter. Jetzt muss ich doch mitlachen. Zusammen können wir herrlich sorglos herumalbern und jede Situation retten.

      Später, alleine auf dem Heimweg, bin ich nachdenklich. Vielleicht wird es wirklich Zeit, dass ich mich ändere. Sollte ich endlich erwachsener werden und weniger naiv? Ist es tatsächlich so schlecht, anderen Menschen einen Vorschuss an Vertrauen zu geben? Ich nehme mir vor, egoistischer zu werden und mein Wohl in den Vordergrund zu stellen. Nur … wie soll ich das anstellen?

      Ich kaufe mir eine Kugel Erdbeereis in der Waffel an der Münchner Freiheit und schlendere die Treppe zur U-Bahn hinunter. Wie immer werfe ich einen Euro in den Hut des Bettlers, der immer dort sitzt.

      Auf diese Art werde ich in der Woche mindestens zehn Euro los. Das kann ich mir eigentlich nicht leisten. Ab morgen ist Schluss damit!

      Unten angekommen, stelle ich fest, dass mir genau der eine Euro fehlt, um mir eine Fahrkarte zu kaufen. Den Zwanziger, den ich vorhin noch hatte, habe ich Luise geliehen. Sie ist ständig pleite, weil sie zu viel Geld für Kosmetik und leider auch für Zigaretten ausgibt. Da ich bei meinem heutigen Glück bestimmt beim Schwarzfahren erwischt werde, beschließe ich, nach Hause zu laufen. Es scheint die Sonne und wenn man zügig geht, ist es ein Marsch von etwa zwanzig Minuten bis zu meiner Wohnung.

      Ich steige die Stufen der Unterführung wieder nach oben und habe das unbestimmte Gefühl, dabei beobachtet zu werden. Aber als ich mich umdrehe, kann ich niemanden entdecken. Mich fröstelt in meiner dünnen Jacke. Ich nehme zwei Stufen auf einmal, um schneller am Tageslicht zu sein. Hier wärmt mich die Abendsonne und ich fühle mich frei. Es hat auch seine Vorteile, zu Fuß zu gehen.

      Ich schlendere durch die Seitenstraßen Schwabings. Endlich hat der Frühling Einzug gehalten. Der Winter war dieses Jahr ungewöhnlich lang, im März lag noch jede Menge Schnee und bis jetzt, also Anfang Mai, hat es fast nur geregnet. In einigen Hinterhöfen gibt es erste Grillpartys, jedenfalls riecht es nach gebratenen Würstchen und Rauch. Vom Spielplatz um die Ecke höre ich Kinderlachen. Ich liebe den Frühling in meiner Stadt!

      Die Sonne geht langsam unter. Das Abendrot erinnert mich daran, dass ich heute nicht für die Uni gelernt habe. Das werde ich am Abend nachholen müssen. Ich habe meiner Mutter versprochen, das Studium so schnell wie möglich durchzuziehen und nicht feiern zu gehen. Naja … fast nie. Und überhaupt möchte ich ihr auch nicht länger als nötig auf der Tasche liegen.

      Solange ich denken kann, möchte ich Rechtsanwältin werden. Das Recht für Schwache durchzusetzen und für Gerechtigkeit zu sorgen, schien mir ein edles Berufsziel zu sein. Natürlich habe ich längst mitgekriegt, dass recht haben und Recht bekommen zwei verschiedene Dinge sind. Trotzdem will ich eine gute Anwältin werden, die gewissenhaft ihre Mandanten verteidigt und sich selbst noch im Spiegel in die Augen