Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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der Mond hinter den Wolken hervor. In seinem fahlen Lichtschein konnte Marc silberne Rüstungen und hohe Helme erkennen.

      „Wir kommen zu spät“, sagte der eine Reiter. „Dem Geruch nach zu urteilen, ist dort keine Hilfe mehr nötig."

      „Hier kommen wir nicht über den Fluss. Ich kann kein Gefährt entdecken. Weiter unten aber sind die Orokòr."

      „Armes Heimland! Es bräuchte so dringend Hilfe, aber wir sind zu schwach."

      Marc wollte schon aufspringen und die Fremden grüßen. Sie schienen Freunde zu sein. Er wollte sie fragen, was geschehen sei, wollte sie um Rat und Hilfe bitten. Aber sie waren schon weiter geritten, und er sah nur noch ganz fern ihre Rüstungen blitzen.

      Während er noch über die Reiter nachdachte, rissen die Wolken gänzlich auf und im fahlen Licht des Mondes sah der Erit flussabwärts ein kleines Boot. Es war abgetrieben und hatte sich in den Ästen einer Weide verfangen, die tief über dem Wasser hingen.

      Marc schlich am Ufer entlang und kletterte vorsichtig hinein. Unversehens stand er bis zu den Knöcheln im Wasser. Das Schiffchen leckte. Mit so einem morschen Kahn den großen Strom zu überqueren, war ein waghalsiges Unterfangen. Doch Marc zauderte keinen Moment. Die Sorge um Akandra trieb ihn vorwärts. So setzte er sich auf die Ruderbank und nach kurzer Zeit sah er um sich nur noch Wasser.

      Mit aller Kraft legte er sich in die Ruder. Doch so sehr er sich auch sich auch abmühte, der alte Kahn wurde mehr und mehr von der starken Strömung abgetrieben. Das Ufer, zu dem er wollte, kam und kam nicht näher. Angst breitete sich in seinem Kopf aus. Mit einem Mal wurde ihm klar, in welcher großen Gefahr er sich befand. Doch einer Eingebung folgend hörte er auf gegen den Fluss zu kämpfen. Er hatte die Hoffnung aufgegeben bei dem Anlegesteg unterhalb des Schlosses anzukommen. Stattdessen ließ er sich treiben und ruderte nur noch Meter um Meter auf das andere Ufer zu. Diese Taktik ging auf. Endlich legte der Kahn weit entfernt vom Schloss an Land an. Er hatte inzwischen so viel Wasser aufgenommen, dass es bis an die Knie des Erits reichte. Hätte die Überfahrt noch länger gedauert, so wäre das Boot wahrscheinlich gesunken. Erleichtert sprang Marc ans Ufer und atmete tief durch.

      Vor vielen Generationen waren die Vorfahren der Familien in Waldmar über den Erfstrom gerudert und hatten dort das Land urbar gemacht. Keiner weiß mehr, was sie dazu veranlasst hatte. War es der Wunsch, ein eigenes Reich zu gründen oder einfach nur Ärger mit den Nachbarn im Heimland? Wie auch immer, sie nahmen das Land an der Stelle in Besitz, wo der Wilde Wald nicht bis zum Flussufer reichte. Es handelte sich um ein recht ansehnliches Areal. Der Wilde Wald akzeptierte die neuen Nachbarn, und noch heute fragte man sich im Heimland, welcher Pakt damals mit den Bäumen geschlossen worden war.

      Es entstanden neue Ortschaften ‘Heuhof’ und ‘Wiesloch’. Dazwischen lagen Felder und Wiesen und auch Mühlen, denn die Leute in Waldmar waren fleißig und brachten es bald zu beträchtlichem Reichtum. Die Bauern in der Mooraue standen freundschaftlich mit den Leuten aus Waldmar. Man konnte mit ihnen gute Geschäfte machen, und dies war auch so geblieben, nachdem der König Marrham zum Graf ernannt hatte. Im Grunde war alles unter seiner Regentschaft gleich geblieben, man fühlte sich nur noch ein wenig vornehmer als früher. Dies alles ging Marc durch den Kopf, als er die Böschung hinaufkletterte und eilends zu der mit Bäumen gesäumten Chaussee eilte.

      

       Das Massaker

      Seinen Marsch durch das verbrannte Land und die rauchenden Ruinen würde Marc wohl nie vergessen. Bald begann es zu dämmern, und das bleiche Tageslicht enthüllte ein furchtbares Grauen. Wo früher heimelige Häuser gestanden hatten, sah der junge Erit jetzt nur noch Trümmer und glimmende Balken. Die Orokòr hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen. Das Schlimmste aber waren die Leichen. Sie hingen aus ausgebrannten Fensteröffnungen, lagen zusammengesunken in den Vorgärten oder waren auf der Flucht mit schwarzen Pfeilen im Rücken zusammengebrochen. Viele der Toten waren verstümmelt und grausam gefoltert worden. Selbst die Kinder hatten die Bestien nicht am Leben gelassen.

      Nun erkannte der Wanderer auch, woher dieser süßliche Geruch gekommen war, den er schon auf der anderen Seite des Erfstrom bemerkt hatte. Es war der Gestank verwesender Leichen. Marc wurde es schlecht. Er erbrach sich würgend. So etwas Entsetzliches hatte er noch nie in seinem Leben gesehen und sich bisher nicht einmal vorzustellen vermocht. Ein ungeheurer Hass auf die Orokòr erfüllte sein Herz. Sie sollten für ihre Verbrechen büßen, dafür wollte er, Marc, Mogs Sohn, sorgen. Er dachte an die Familie seines Paten und ganz besonders an Akandra. Er wusste, dass er zu spät kam. Dafür trug er die Schuld, er hatte auf dem Weg zu sehr getrödelt. Aber hätte er das Gemetzel tatsächlich verhindern können, wenn er rechtzeitig da gewesen wäre? Wahrscheinlich wäre er auch umgebracht worden! Was suchte er noch in diesem Chaos? War es nicht höchste Zeit, zurück nach Heckendorf zu eilen? Er musste dort von den Verbrechen, die hier verübt worden waren, berichten. Alle Erits mussten umgehend gewarnt werden. Die Morde in Waldmar waren sicher erst der Anfang. Bald würde das ganze Heimland überfallen und das Töten weitergehen. Grausame, mitleidlose Mörder waren in seine Heimat eingedrungen. Dieser Wahrheit musste man ins Auge sehen, und es gab niemanden, der Schutz hätte bieten können.

      Die Sonne stand noch nicht an ihrem höchsten Punkt, als Marc endlich das Schloss erreichte. Auch der einst so stolze Sitz des Grafen lag in Schutt und Asche. Die Blumenrabatten um das Herrschaftsgebäude waren zertrampelt. Von der ganzen Pracht, dem Stolz der Waldmarer, war nichts mehr übriggeblieben. Die Fensterhöhlungen glotzten leer und rußgeschwärzt, die Türen waren eingetreten und zersplittert. Auf ihrer Suche nach Schätzen hatten sich die Orokòr wenig Zeit gelassen und waren rücksichtslos vorgegangen. Überall lagen Leichen.

      ‚Akandra? Wo ist Akandra?’ fragte sich der einsame Erit immer besorgter.

      Sie durfte nicht tot sein. Zwischen ihnen war noch etwas, das ausgetragen werden musste. Diesem Mädchen wollte er noch etwas beweisen. Wie vom Schlag getroffen wurde ihm plötzlich klar, dass er Akandra gernhatte.

      Nun gab es für Marc kein Halten mehr. Er stürmte ins Schloss und rannte keuchend durch die langen Gänge und zerstörten Räume. Immer wieder musste er über tote Waldmarer steigen. Der Leichengestank war kaum zu ertragen. Zerbrochene Möbel versperrten seinen Weg. Er räumte sie mühsam beiseite. Türen hingen schief in den Angeln oder waren verklemmt. Einige der Erits hatten versucht, sich zu verbarrikadieren; andere hatten aus den Fenstern fliehen wollen und waren hinterrücks erstochen worden. Wie viel Leid und Schrecken hatten sich hier abgespielt! Verzweifelt fragte sich Marc, wie es möglich war, dass lebende Wesen so grausam sein konnten. Wenn es eine höhere Ordnung in der Welt gab, warum wurden dann derartige Verbrechen zugelassen? Wo war die Macht des Guten gewesen, als hier das Böse gewütet hatte?

      Mutlos, aber noch immer verbissen suchte er im ganzen Schloss nach der Tochter seines Paten. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er unter die umgeworfenen Tische und in die zerbrochenen Schränke sah. Er wäre schon glücklich gewesen, wenn er wenigstens die tote Akandra gefunden hätte. Die Ungewissheit über ihr Schicksal marterte ihn. Bald gab es im Schloss keinen Raum mehr, den er nicht untersucht hatte. Aber außer Verwüstung und einer Unzahl unbekannter Toten hatte er nichts entdeckt. Mit hängenden Schultern verließ er die zerstörte Wohnstatt und streifte ziellos durch das verheerte Land. Irgendwann gelangte er auch zum Wilden Wald.

      Gedankenverloren starrte er auf die Bäume. Plötzlich hatte er eine Idee, und dieser Gedanke machte ihm Hoffnung. Sein Körper straffte sich, er erwachte aus seinem Dämmerzustand. Vorsichtig ging er am Waldsaum entlang, bis er eine Lichtung fand. Und wirklich saß dort, mitten im Gras zwischen den hohen Bäumen, Akandra. Sie war unversehrt, aber so verstört, dass sie ihn nicht erkannte. Sie hatte rechtzeitig fliehen können und sich an den einzigen Ort gerettet, an den ihr die Orokòr nicht zu folgen wagten. Der Wilde Wald rief gerade bei den bösen Geschöpfen Furcht und Entsetzen hervor.

      Marc ging langsam auf das geistesabwesende Mädchen zu und redete begütigend auf sie ein. Dann half er ihr vorsichtig auf die Füße, nahm ihre Hand, und sie wehrte sich nicht. Ihre Augen waren trocken und stumpf. Vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Schulter, doch sie schüttelte ihn unwirsch ab. Marc sagte nichts, sondern blieb