Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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immer nahm das Brummen und Dröhnen zu. Die Fackeln der nachströmenden Orokòr entfachten mehr und mehr Brände. Es war zu spüren, dass der Wald immer wütender wurde. Holzstücke durchbohrten die Orokòr trotz ihrer Rüstung. Schwarzes Blut spritzte auf Laub und Stämme. Doch das Grausamste kam zuletzt. Kleine unscheinbare Dornen schossen als Pfeile durch die Luft. Sie bohrten sich in Gesichter, in das nackte Fleisch der Arme und die Hälse. Die Dornen taten nicht besonders weh, aber sie hatten eine furchtbare Wirkung. Sie waren vergiftet, und wer von ihnen getroffen wurde, konnte sich von diesem Moment an nicht mehr rühren. Er erstarrte bei vollem Bewusstsein.

      Bald war von den Orokòr kein Ton mehr zu hören. Auch die Brände erloschen einer nach dem anderen. Dann war es wieder ganz dunkel und still im Wald. Akandra und Marc sanken zu Boden, unfähig einen Gedanken zu fassen, unfähig etwas zu sagen, noch immer von dem furchtbaren Grauen ergriffen. Beide schluchzten und klammerten sich aneinander. So fielen sie in den Schlaf und erwachten erst, als der neue Tag schon weit fortgeschritten war.

      Verwundert blickten sie sich um. Die Ereignisse der Nacht erschienen ihnen im hellen Licht des Tages wie ein böser Traum. Als sie aber die alten Bäume drohend über sich aufragen sahen, schlich sich wieder Furcht in ihre Herzen. Vorsichtig richteten sie sich auf und gewahrten sogleich die erstarrten Orokòr. Mit einem Aufschrei rannten sie los und wagten es nicht sich umzusehen. Blindlings stürmten sie durch die Büsche, bis sie zerkratzt, erschöpft und außer Atem gemeinsam wieder zu Boden sanken. Mühsam bezähmten sie ihre Angst.

      „Wo sind wir?" flüsterte Marc.

      „Ich weiß es nicht."

      „Ob die Orokòr wohl noch hinter uns her sind?"

      „Ich glaube, sie sind alle tot."

      „Das war eine furchtbare Nacht."

      Akandra nickte.

      „Wie kommen wir nur wieder aus diesem Wald heraus. Weißt du, wo wir sind?"

      Akandra schüttelte den Kopf.

      „Du bist nicht sehr gesprächig."

      Akandra nickte.

      „Aber was sollen wir tun? Wir können hier doch nicht ewig sitzen bleiben."

      Akandra zuckte mit den Schultern. Nun war es Marc leid.

      „Akandra“, sagte er wütend. „Du sitzt genauso in der Tinte wie ich. Ich nehme nicht an, dass du hier in diesem grauenhaften Wald deinen Lebensabend verbringen willst. Oder verlangst du etwa von mir, dass ich ein paar Bäume fälle und dir eine Hütte baue?"

      „Pst“, flüsterte sie erschreckt. „Sag’ so etwas nicht an diesem Ort, nicht einmal im Spaß. Der Wald hört alles, und er kann sehr wütend werden, wie du gestern selbst erlebt hast."

      „So erzähl mir doch endlich etwas über diesen seltsamen Wald. Du musst doch etwas über ihn wissen."

      Akandra lehnte sich vorsichtig gegen einen Stamm und schloss versonnen die Augen.

      „Der Wilde Wald“, begann sie, „existierte schon als die Erde noch ganz jung war. Geschöpfe haben ihn gepflanzt, deren Namen längst vergessen sind. Zuerst waren die Bäume noch unbeholfen und offen. Sie liebten alle Lebewesen und sie ließen sich hegen. Die Tiere des Waldes durften an ihren Trieben nagen, und die Menschen und Achajer sogar hie und da einen Stamm fällen. Aber die Bäume erlebten auch mit Schrecken und Verachtung die Kriege, auf die sich die Menschen später einließen. Sie sahen, dass alle zweibeinigen Lebewesen, wenn es um ihren Vorteil geht, brutal und grausam sind."

      „Einige“, warf Marc ein. „Einige, doch nicht alle!"

      „Das weiß ich besser und habe deshalb eine andere Meinung als du. Aber lassen wir das! Während sich die Bäume anderer Wälder durch die Zeiten domestizieren ließen, wurde der Wilde Wald durch die Äonen immer mächtiger und weiser, aber auch tückischer. Die Bäume wollten von all den Geschöpfen, die auf dieser Erde leben, nichts mehr wissen. Sie kapselten sich ab und wehe, wenn sich seit dieser Zeit jemand zwischen ihre Stämme verirrt. Nur wenige haben bisher den Wald lebend wieder verlassen. Ich glaube, der Wilde Wald verachtet uns alle."

      „Du meinst, die Bäume sind seit Menschengedenken ganz allein unter sich. Keine Tiere, keine Menschen durchstreifen diesen Forst?"

      „Du hast Recht. Niemand wird hier geduldet außer Vögeln und..."

      „Und...?"

      „Und ROM."

      „ROM?"

      „Nun eben ROM."

      „So lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!"

      „Ich sollte hier im Wald nicht so viel reden. Unser Aufenthalt ist schon gefährlich genug. Ich habe dir doch gesagt, hier haben die Bäume Ohren."

      „Ich will es aber jetzt wissen. Wer oder was ist ROM? Vielleicht kann er uns helfen?"

       „Nun gut, damit du Ruhe gibst, erzähl ich dir ein wenig. Viel weiß ich nicht. Also, ROM war schon immer da. So lange Lebewesen sich erinnern können, gibt es ROM. ROM ist der Herr der Wälder. Ihm gehorcht der Wald, und von ihm wird der Wald gehütet und gepflegt. ROM ist unbegreiflich mächtig. Er könnte uns natürlich mit Leichtigkeit helfen. Wenn er wollte, hätten alle Orokòr dieser Welt ausgespielt. Aber er hat ebenso wie sein Wald das Interesse an den Menschen, den Orokòr und sogar an den Achajern verloren."

      „Wir müssen diesen seltsamen ROM für uns gewinnen“, sagte Marc rasch und eifrig.

      „Wenn das nur so einfach wäre! Er zeigt sich keinen Zweibeinern, und wenn er neben dir stünde, so würdest du ihn nicht bemerken."

      „Dann ist dieser ROM also eiskalt und gefühllos?"

      „Still! Sage so etwas nie wieder“, Akandra war erschrocken.

      „Aber mein Urteil ist doch nicht falsch, wenn er all dem Leid auf der Welt zusieht, obgleich er helfen könnte! Wenn er uns hier in diesem Wald umkommen lässt! Wenn er zulässt, dass das ganze Heimland vernichtet wird!"

      „ROM ist sicher nicht gefühllos. Er ist uns nur so fremd. Er ist mit nichts vergleichbar, was wir kennen. Mein Vater sagte immer: ROM ist der ganz Andere."

      Da dröhnte der Wald von einem tiefen, durchdringenden Lachen. Das Lachen wechselte ständig seine Richtung. Mal kam es von rechts, dann wieder von links und dann wieder von einer anderen Seite. Die Erits drehten sich verwirrt und verschreckt um sich selbst und versuchten, die Quelle dieses Lachens zu entdecken. Aber es war nichts zu sehen außer Bäumen, Sträuchern und ein paar Fliegenpilzen. Endlich, es war ihnen schon ganz schwindlig, tippte ihnen jemand von hinten auf die Schulter. Sie fuhren beide gleichzeitig herum, und da stand vor ihnen ein Mensch, nicht groß aber sehr stämmig. Auf dem Kopf trug er einen Schmuck aus Federn, um die Schultern hatte er einen blauen Mantel gelegt, und seine Füße steckten in alten Stiefeln. Das Gesicht war umrahmt von einem langen, braunen Bart und zerknittert von hundert Lachfalten.

      „Wer bist du?" stammelte Marc.

      „Ich bin der, von dem ihr die ganze Zeit geredet habt“, lachte die Gestalt. „Es ist wirklich interessant, was ihr über mich zu sagen wisst."

      Weil Marc sich nicht mehr zurückhalten konnte, platzte er heraus: „Wenn du so mächtig bist, wie Akandra sagt, dann musst du uns helfen!"

      „Euch helfen?" ROMs Stimme klang verwundert.

      „Ja, das Heimland ist in Gefahr. Orokòr haben uns überfallen, und sie haben alle Erits in Waldmar bestialisch umgebracht. Und sogar den Hof von Bauer Sturm haben sie überfallen und alle getötet. Es muss sofort etwas geschehen, sonst sind alle Erits verloren."

      „Ja“, sagte ROM ernst, „ich habe gesehen, was geschehen ist. Es war furchtbar. Ihr tut mir leid."

      „Von deinem Mitleid haben wir nichts“, entgegnete Marc erbittert, „was wir brauchen, das ist Hilfe."

      „Damit kann ich euch leider nicht dienen. Ich weiß nicht, wie ich euch helfen könnte. Doch