Horst Neisser

Centratur - zwei Bände in einer Edition


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die Erits um das seltsame Tor herum. Das Bauwerk bestand aus großen, rechteckig behauenen Steinen, die ohne Mörtel aufeinander ruhten. Sie waren so vollkommen bearbeitet, dass man in ihre Fugen nicht ein Haar hätte schieben können. Wie ROM versprochen hatte, setzte sich der Pfad auf der anderen Seite der Lichtung in Richtung Oststraße fort.

      „Was sollen wir tun?" fragte Marc. „Du erinnerst dich sicher an die Warnung von ROM."

      „Was wir tun, weiß ich nicht“, antwortete sie ohne eine Sekunde zu zögern. „Ich kann nur für mich selbst sprechen. Ich werde das Tor durchschreiten. Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Orokòr zu vernichten, und sei sie noch so gering und noch so gefahrvoll, so werde ich sie nutzen. Das bin ich meiner Mutter schuldig."

      „Aber vielleicht ist es besser, die Leute in Heckendorf zu warnen. Wenn uns hier etwas zustößt, wird sie niemand auf das drohende Unheil hinweisen. Dürfen wir uns unter diesen Umständen in Gefahr begeben?"

      „Was sollen deine Warnungen nützen?" sagte Akandra abfällig. „Glaubst du denn wirklich, dass sich Erits der rohen Gewalt der Orokòr widersetzen können? Den Heimländern bleibt als einzige Zukunft, sich in den großen Strom der Flüchtlinge einzureihen und heimatlos, gehasst und verachtet von Stadt zu Stadt und von Land zu Land zu ziehen. So lange bis ganz Centratur unterjocht ist, und die dunkle Macht sie dort, wo sie sich dann gerade aufhalten, eingeholt hat. Nein danke, da ziehe ich den Untergang vor! Gegenüber diesem Schicksal haben die Waldmarer beinahe noch Glück gehabt."

      Ihre Worte waren hart und bitter, und sie wandte sich ab, ohne auf eine Antwort von Marc zu warten. Sie ging auf das Tor zu und rüttelte an ihm. Vielleicht war es verschlossen, verklemmt, vielleicht waren seine Angeln auch im Lauf der Jahre eingerostet, es bewegte sich nicht einen Zoll. Zögernd kam ihr Marc zu Hilfe. Doch auch zu zweit hatten sie keinen Erfolg. Sie drückten und zogen vergeblich mit aller Kraft, die sie aufbringen konnten. Schließlich sanken sie erschöpft zu Boden.

      

      

      

       Die Treppe

      Die Niederlage ließ Marc keine Ruhe. Nach kurzer Verschnaufpause erhob er sich und begann zwischen den Bäumen nach einem Werkzeug zu suchen. Mit einem großen Holzprügel kam er zurück. So fest er konnte, schlug er damit gegen das Tor. Wie Glockenschläge hallte es dumpf über die Lichtung. Aber alle Anstrengungen waren fruchtlos. Es zeigte sich nicht einmal ein Kratzer in dem Metall. Nur die geduldige Natur hatte im Lauf der Jahrtausende den Schimmer ein wenig zu trüben vermocht.

      „Was können wir noch tun?" klagte der junge Mann, als er endlich kraftlos den Stock fallen ließ.

      „Ich habe in alten Büchern von geheimnisvollen Türen gelesen. Jede hat einen anderen Öffnungsmechanismus, reagiert auf ein anderes Zauberwort. Keine gleicht der anderen." Akandras Stimme klang resigniert.

      „Willst du damit sagen, dass wir die Tür nicht aus eigener Kraft aufbekommen?"

      „Wenn der Zufall uns nicht zu Hilfe kommt, sind alle unsere Anstrengungen umsonst."

      „Aber ROM hat doch gesagt, wir würden den Eingang finden. Sollen wir ihn vielleicht rufen?"

      „Auf keinen Fall werden wir noch einmal ROM belästigen. Wenn er uns helfen will, kommt er von selbst, wenn er nicht kommt, hat dies seine Gründe."

      „Wenn es um ROM geht, zeigst du eine seltsame Nachsicht, die ich nicht verstehe."

      „Du verstehst vieles nicht, Marc. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass dies wohl an deiner Erziehung liegt. Ich weiß nicht, ob sich das jemals ändern wird, ob sich irgendwann dein Horizont erweitert. Bisher ist dieser Zeitpunkt jedenfalls nicht abzusehen."

      „Ach, spiel dich doch nicht so auf. Dein blasiertes Gerede macht mich schon seit Jahren wütend."

      „Und warum bist du dann immer wieder nach Waldmar gekommen, um dir mein Gerede anzuhören? Warum hast du mich und meine Familie Jahr für Jahr belästigt?"

      „Weil ich kommen musste. Dein Vater, als mein Pate, hat darauf bestanden. Ja, glaubst du denn, es hat mir Spaß gemacht, mich von euch allen als einen Menschen zweiter Klasse behandeln zu lassen und mir die blöden Ratschläge von deinem Vater anzuhören?"

      „Meinen Vater lasse ich nicht beleidigen“, herrschte ihn Akandra an, „und schon gar nicht von so einem Tölpel wie dir. Du hast nicht einmal das Recht, ihm die Hand zu geben. Schließlich hat er das Heimland und sogar Centratur gerettet."

      „Vielleicht geholfen, aber nicht gerettet! Du vergisst meinen Vater! Weißt du überhaupt, was mein Vater getan hat? Was glaubst du, hätten alle Bemühungen deines Vaters genutzt, wenn mein Vater nicht ins Lager von Ormor gezogen wäre? Ohne meinen Vater wäre dein Vater nicht einmal Graf geworden."

      Akandra sprang auf, lief empört zu Marc und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Blut spritzte aus seiner Nase, und dieses Blut brachte sie wieder zu sich.

      „Es tut mir leid“, sagte das Mädchen einlenkend. „Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns streiten. Mit Hader öffnen wir dieses Tor nicht und wir retten auch nicht die Heimländer."

      Sie setzten sich wieder ins Gras, und Marc tupfte das Blut ab.

      „Sieh mal, wie schön das Tor in der Nachmittagssonne glänzt“, sagte Akandra. „Man muss es einfach anfassen."

      Sie ging hinüber und strich vorsichtig mit den Handflächen über das glatte Metall. Dann legte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihre Wange dagegen und küsste die Tür. Erschreckt sprang sie zurück, als die Flügel daraufhin lautlos nach innen schwangen und eine schwarze Höhlung freigaben. Auf ihren Schrei hin eilte Marc herbei. Gemeinsam starrten sie ins Dunkel. Im schwächer werdenden Licht des Tages konnten sie Treppenstufen sehen, die in undurchdringliche Finsternis führten.

      „Sollen wir etwa da hinein?" fragte der Junge bestürzt.

      Das Mädchen nickte schwach und mit bleichem Gesicht.

      „Aber wir sehen doch nichts. Wir haben keine Lampen und keine Kerzen. Wer weiß, was da drinnen auf uns lauert!"

      „Verdammt noch mal“, sagte sie mit verzweifeltem Zorn, „die ganze Zeit redest du davon, dass wir etwas zur Rettung des Heimlands unternehmen müssen. Du beleidigst sogar ROM. Und nun willst du kneifen? Aber du kannst draußen bleiben. Ich werde ohne dich hinuntersteigen."

      Als Marc unschlüssig stehen blieb und sich nicht bewegte, schrie sie ihn an: „So geh doch endlich! Ich kann dich nicht mehr sehen. Verschwinde! Mach dich aus dem Staub! Lass mich allein! Ich muss mich schließlich vorbereiten."

      „Was willst du denn vorbereiten?"

      „Was weiß ich! Fackeln sammeln und so..."

      „Glaubst du nicht, es wäre besser, wir würden zusammenhalten, als uns ständig zu streiten?"

      Sie antwortete nicht, aber beide gingen sie und suchten nach Holz. Dann untersuchte Marc seinen Rucksack. Er fand noch einen Kanten Brot und ein paar weiche, zerdrückte Äpfel. Zuunterst entdeckte er sein Messer, das er nun befriedigt in den Gürtel steckte. Akandra hatte ihre Habseligkeiten, die sie aus Waldlust gerettet hatte, bei der Flucht vor den Orokòr weggeworfen. Sie besaß nichts mehr, außer dem, was sie auf dem Leib trug.

      „Für eine schwierige und gefährliche Expedition sind wir nicht gerade gut ausgerüstet“, spottete der junge Erit. „Aber was soll's? Was uns fehlt, machen wir mit Unbekümmertheit, Missachtung der Gefahren und gutem Willen wett. Damit müsste es gehen. Komm jetzt! Es dunkelt schon. Wenn wir noch länger warten, können wir keinen Unterschied mehr zwischen drinnen und draußen erkennen. Zögern verbessert unsere Lage auch nicht."

      Sie sah ihn erstaunt an und fragte verwundert: „Du kommst also mit?"

      „Was dachtest du denn? Ich hatte nie vor, dich allein zu lassen. Aber man darf doch noch an die Gefahr erinnern, in die man sich begibt."

      Akandra